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Die Sprüche des Alten

Die Wildnis des
Menschlichen Verstandes

Die Worte des Alten an die Neophyten im Verborgenen Tempel der Verborgenen Sonne. Gesprochen im Dreizehnten Mond des Siebten Sonnenkreises in der Siebenundsiebzigsten Generation der Baumeister.

Der Alte sagte:

Es gibt drei Fragen, welche die Vielen stellen, aber nur die Wenigen können sie beantworten. Diese sind:

Woher Kommen Wir ?

Was machen Wir Hier ?

Wohin Gehen Wir Danach ?

Das Leben stellt diese Fragen, aber nur das Leben selbst kann sie beantworten, denn Weisheit und Leben sind zwei Namen für ein und dieselbe Sache. „Was bist du?“, fragt der Mensch das Leben.

Das Leben antwortet: „Ich bin alles, was du weißt, ich bin alles, was du gewusst hast, von dem du aber denkst, du hättest es vergessen. Ich bin alles, was du noch erlernen musst. Ohne mich bist du nichts, denn ich bin dein Selbst.“

Beachtet meine Geschichte, Oh Schüler, denn es ist eure eigene. Ich kenne ihren Anfang, ihre Mitte und ihr Ende; ihr aber kennt nur seine Mitte, und das nur schwach: Deshalb habt Acht und lernt.

In meiner Jugend lebte ich in einem Garten mit meinen Brüdern, deren Gesichter mein eigenes widerspiegelten, geschützt von der Liebe eines Vaters, dessen Gestalt wir niemals schauten: Und wir kannten weder Streit noch Trauer noch Schmerz noch irgendein menschliches Verlangen. Wir gingen und spielten an den Ufern eines Teichs, dessen Wasser so klar wie Kristall schimmerte und so kalt war wie der ewige Schnee, der die ­Mächtigen Berge krönt. Wenn wir müde waren, schliefen wir inmitten von Baumhainen mit gefiederten Bögen und weichen, glänzenden Blättern und mit goldenen Früchten, die der Teich in Schönheit widerspiegelte, welche die Schönheit selbst verhüllte.

Doch meine Brüder und ich nahmen diese Herrlichkeit nicht wahr, denn wir waren der Garten und seine Schönheit. Wir sahen die Bäume nicht, denn wir brauchten keinen Schatten. Wir sahen die Früchte nicht, denn wir verspürten keinen Hunger. Wir sahen den Teich nicht, denn wir waren nicht durstig. Wir kannten den Garten nicht, denn wir sehnten uns nicht nach Besitz. Wir waren der Garten und der Teich und die Frucht und die Bäume; und sie waren wir selbst.

Doch eines Tages erreichte die Stimme unseres unsichtbaren Vaters mein Ohr und sagte: „Mein Sohn, du bist der Garten und du selbst, aber du kennst weder den einen noch den anderen. Bevor du dich selbst erkennen kannst, musst du dich selbst zum Herrn des Gartens machen; und bevor du sein Herr wirst, musst du den Garten ausfüllen. Hinter unserem Haus liegt eine Wüste, die den Garten umgibt und die du mit deiner Starken Hand ergreifen, erobern und zu deinem Eigen machen musst. In ihrem brennenden Sand liegt ein Teich, den du mit deinem Starken Herzen suchen musst; und wenn du ihn gefunden und bezwungen hast, wirst du als Herrscher über dieses Königreich regieren.“

Ich ging in die Wüste hinaus und wanderte dort eine Zeit lang müde umher; und ich lernte Hunger, Durst und Schmerz kennen und vergaß den Frieden, der einst mein war. Das Land war eine Böse Wildnis; und doch war es mit Menschen erfüllt; und ich wusste, dass sie meine Brüder waren und umherwandernde Söhne des Gartens. Verwundert betrachtete ich diese Brüder, denn sie schienen blind zu sein für ihre Sorgen: Sie bemühten sich nicht, dieses karge Land zu verlassen, sondern banden sich eng daran, türmten mächtige Werke auf, bauten Städte und schnitten Straßen in die Landschaft, bis alles ein riesiges Labyrinth war. Von den Straßen, die sie machten, verlief jedoch keine direkt zu irgendeinem Ziel, sondern sie drehte und wendete sich und erreichte nichts außer Verwirrung.

Ich sah Menschen mit Karten und Werkzeugen in den Händen, die sich ängstlich im Kreis herum bewegten, in der Erde suchten und gruben; und ich befragte sie, und sie antworteten: „Wir suchen nach dem Verlorenen Land des Wissens“; und jene, die in der Erde gruben, antworteten: „Wir graben nach dem Brunnen der Wahrheit.“

Es schien, als ob diese Brüder das suchten, was auch ich suchte, und ich machte mich zu einem der ihren, um sie bei ihrer Aufgabe zu unterstützen. Doch nach vielen Tagen erkannte ich, dass unsere Arbeit vergeblich war: Sie brachte uns nichts ein als tief ausgefahrene Spuren und Gruben, in die sich die Menschen verirrten und in die sie hinein stolperten und aus denen sie nur unter Schmerzen und mit noch mehr Arbeit entkamen, und viele entkamen gar nicht mehr.

Ich gab diese sinnlose Arbeit auf und sagte: Ich werde einen Führer suchen, einen Menschen der Weisheit: Es muss einen solchen geben, der den Weg zum Verlorenen Land weisen wird. Dann sah ich ein Haus aus dunklem Rotem Stein und einen Mann in einem Purpurroten Gewand, der Wache hielt an seiner Tür. Der Mann trug einen Stab aus diesem heiligen Holz, das meine Verlorenen Brüder Autorität nannten; und er hielt ihn hoch, als ich mit ihm sprach und ihm von meiner Not erzählte. Er lächelte und sagte: „Hoffe, mein Sohn! Siehe, du hast deinen Führer gefunden, denn ich halte den Pass zum Verlorenen Land der Erkenntnis und bewache den Brunnen der Wahrheit.“

Er legte einen Purpurroten Schleier auf meinen Kopf und führte mich ins Haus und eine steile Treppe hinunter tief in die Eingeweide der Erde. Und wir kamen in eine riesige Höhle, in der sich dichte Schatten sammelten, und der Boden unter den Füßen war ein widerlicher Morast, überwuchert von blassen Flechten und giftigem Unkraut. „Dies ist das Land des Wissens“, sagte mein Führer, „und dort liegt der Brunnen der Wahrheit.“

Ich watete durch den feuchten Morast und trank aus dem Teich, den ich in seiner Mitte vorfand; aber das Wasser war faulig vom Schlamm und vom Schleim, und mein Durst wurde nicht gestillt.

Dann drang die Stimme meines unsichtbaren Vaters deutlich an mein Ohr: „Suche mit Starkem Herzen und ergreife mit Starker Hand, mein Sohn“, und ich stand auf und ging aus dem Roten Haus und richtete meinen Blick auf die Wüste.

Hunger, Durst und Müdigkeit überfielen mich, als ich suchte; und ich suchte nach einer starken und freund­lichen Hand, um mir auf meinem Weg behilflich zu sein: Und so kam ich zu einem Haus aus reichem Purpurstein und sehnte mich nach der Hilfe des Mannes, der seine Tür bewachte. Der Mann war in ein Lilafarbenes Gewand gekleidet und hielt einen großen Stab der Autorität hoch. „Du bist weise, meine Hilfe gesucht zu haben“, antwortete er, „denn ich bin der Hüter der Wahrheit und des Wissens.“

Er umwickelte mich mit einem lilafarbenen Schleier und führte mich zur Tür eines dunklen Gewölbes; dann zeigte er mit seinem Stab nach vorne und befahl mir folgende Bewegungen: „Gehe sieben Schritte vorwärts und dann drei rückwärts. Gehe sieben Schritte nach rechts und verneige dich bei jedem deiner Schritte. Die Tore des Wissens sind niedrig, sehr niedrig, also verbeuge dich tief, sehr tief. Folge deinen Schritten wieder zurück und verhalte dich so wie zuvor. Dann mache vier Schritte zurück und knie dich auf den Boden.“

Ich tat, wie mir befohlen war, stand dann auf und sah mich um; und ich sah, obwohl nur schwach durch meinen Schleier, einen riesigen Raum, der von Bäumen umgeben war. Der Boden war hell bedeckt mit wunderschönen Blumen, und eine funkelnde Fontäne spielte vor mir. Ich eilte zum Brunnen und trank einen großen Schluck seines Wassers; dann wusste ich, dass es kein Wasser war, sondern warmer, gewürzbeladener Wein. Ich warf den Schleier von meinem Kopf und sah mich wieder um; und ich erkannte, dass das Gras und die Blumen und die Bäume nichts als gemalte Bilder waren.

Dann erinnerte ich mich an die Gebote meines Vaters und an den Garten und den Teich und die Bäume und die Früchte; und ich verließ das Lilafarbene Haus und stellte mich allein der Wüste.

Wieder erfüllten Zweifel mein Herz, und die Kraft verließ meine Glieder, und ich suchte nach einem weisen und mächtigen Führer, der meine stockenden Schritte leiten konnte. Und ich kam zu einem Haus aus Kristall, das vor lauter Juwelen glänzte, und ich bat den Mann an seiner Tür, mir auf meinem Weg zu helfen. Der Mann war in ein wunderschönes Gewand mit vielen prächtigen Farben gekleidet; und er winkte mir mit einem milchweißen Zauberstab vom Heiligen Baum der Autorität zu: „Mein Sohn, komm’ herein und ruhe dich aus“, sagte er und nahm mich an der Hand. „Ich erbitte keinerlei Dienst, außer dass du die Kleider trägst, die ich dir geben werde.“

Er kleidete mich in strahlende Gewänder und beschattete meine Augen mit seltsam gefärbten Kristal­len; dann half er mir sanft vorwärts und ließ mich in einem wundersamen Garten allein zurück. Der Ort war seltsam und lieblich und voller wechselnder Geheimnisse; endlose Ausblicke auf Bäume und Blumen erstreckten sich zu allen Seiten. Zwischen den Bäumen befanden sich unzählige Seen, die in nebliger Schönheit leuchteten; und mit freudigem Herzen rannte ich zu einem von ihnen, um meinen Durst mit seinem Wasser zu stillen.

Dann prallte ich im vollen Lauf auf eine kalte, harte Barriere, die sich vor meinen Füßen erhoben hatte, und zerschrammt und fassungslos stürzte ich hin: Die herrliche Landschaft war zerbrochen. Um mich herum schien es nichts zu geben, außer einem Chaos wechselnder Farben und riesiger, spöttischer Formen. Ich erhob mich, riss das Gewand von meinem Körper und riss die ­Kristalle zornig von meinen Augen, und ich sah, dass ich in einem engen Hof mit Wänden stand, die alle mit Spiegeln behangen waren. Die herrliche Aussicht auf wiegende Bäume stammte von nichts anderem als einem Gewirr kränklichen Unkrauts. Die unzähligen glitzernden Seen waren nichts als ein paar seichte, abgestandene Pfützen.

Wieder drang die Stimme meines Vaters deutlich an mein Ohr: „Stelle dich der Wüste mit Starkem Herzen, mein Sohn“, sagte sie. „Ergreife das Verlorene Königreich mit deiner Starken Hand, denn nur so wirst du das Königtum erlangen.“

Dann ging ich in die Wüste hinaus und setzte mein Herz daran, sie zu erobern und bat niemanden mehr um Hilfe. Ich wandte mein Gesicht von den Wegen der Menschen ab und meine Augen von ihren törichten Werken. Ich reiste allein durch den Wüstensand, bis der Hunger mein Fleisch geschmolzen und der Durst die Quellen meines Lebens ausgetrocknet hatte und der Tod dicht hinter mir herging, seine Hand ausgestreckt, um mich zu ergreifen. Aber seine Finger ergriffen mich nicht, obwohl sie mich oft berührten, denn obwohl ich immer wieder ohnmächtig wurde und fiel, erhob ich mich wieder, immer und immer wieder. Immer wieder fand ich im Tau der Nacht, in einem Rinnsal inmitten des brennenden Sandes, im hohlen Herzen der Wüstenblume, genug reines, kaltes Wasser, um erfrischt weiterzugehen.

Aber ich fand weder Land noch Teich, die ich suchte, und schließlich war ich mit meiner Kraft am Ende. Meine Gewänder waren in Fetzen zerfallen, und meine Füße steckten in zerrissenen Sandalen. Die Wüstennacht stand mir bevor. Dunkelheit und Stille umgaben mich. Ich schwankte und fiel auf die Erde hin, und ich dachte bei mir, jetzt würde ich sterben!

Lange lag ich da wie ein Toter: Dann, siehe da! Meine ausgestreckten Hände berührten weiches und taufeuchtes Gras. Wohltuender Blumenduft erfüllte meine Nase und ein angenehmes Rauschen von Wasser meine Ohren. Ich schlug die Augen auf und erkannte, dass ich an einem Ort des Lichts und der Schönheit lag: Juwelenbesetztes Gras und fruchtbehangene Obstbäume erstreckten sich zu allen Seiten. Aus der Mitte der Lichtung schimmerte ein tiefer, kühler See zart im goldenen Sonnenaufgang; und die azurblaue Luft über mir entzückte mit dem Gesang strahlendgeflügelter Vögel.

Ich erhob mich, stürzte mich in den Teich und trank eine Fülle des süßen, kalten Wassers; und die Kraft kehrte in meinen Körper zurück, reines und junges Fleisch bekleidete meine welken Glieder. Dann stand ich nackt am Rande des Sees und streckte meine Arme zum Himmel und zur Sonne aus; und blickte auf die Bäume und die Blumen und das Land wie ein Neugeborener auf die Erde.

Mein Blick fiel auf eine riesige Säule, die am Ufer des Sees stand und im Licht der Morgensonne wie ein Silberner Berg schimmerte. Auf jedem Gesicht der Säule waren Zeichen in den Stein eingraviert, und ich näherte mich ihnen und untersuchte sie, und dies waren die Worte, die ich las.

Auf dem der Wüste zugewandten Gesicht der Säule las ich die Worte:

Draußen ist Die Wildnis des
Menschlichen Verstandes.

Auf jenem dem Fruchtbaren Land zugewandten Gesicht las ich:

Hier Liegt die Oase des Wissens.

Auf dem Dritten Gesicht, das auf den See blickt, las ich:

Der Teich der Wasser der Wahrheit.

Ich schaute auf das Vierte Gesicht auf der Säule, aber meine Augen versagten mir den Dienst, denn dieses Gesicht schien in alle Richtungen gleichzeitig zu weisen. Ich wollte die Worte lesen, von denen ich wusste, dass sie darauf eingraviert waren, konnte sie aber nicht entziffern. Ich wandte mich ab und hörte eine Trompetenstimme aus der Erde, dem Wasser und der Luft rufen und sagen:

Das Königreich ist Noch Nicht Gewonnen.

Da wusste ich, dass meine Arbeit noch nicht vollendet war, denn obwohl ich selbst errettet war, waren meine Brüder doch verloren. Und ich überlegte, dass ich in die Wildnis zurückkehren und das Los der Verlorenen mit Wasser aus diesem Teich, den ich gefunden hatte, erhellen würde.

Ich baute einen Kanal von dem See durch das Wüstenland; und ich grub tiefe Brunnen in den Städten, um das Wasser der Wahrheit zu speichern. Ich nannte mich selbst den Wächter des Wassers und rief die Durstigen zum Trinken auf, und viele kamen auf mein Gebot hin und tranken, wie ich sie anwies.

Dann wunderte ich mich, denn ich sah, dass alle, die kamen, unerfrischt abreisten, und ich schmeckte das Wasser meiner eigenen Brunnen und fand es warm und salzig.

Dann plante ich, von den Städten aus eine Straße zum Teich zu bauen, um den Weg für die Füße meiner müden Brüder leicht und eben zu machen; doch als ich meine Straße gebaut hatte, kehrten alle, die sie benutzten, wieder in die Städte zurück und beschimpften mich als Betrüger. Ich wunderte mich sehr darüber und machte mich auf den Weg, den ich mir ausgedacht hatte; doch ich stellte fest, dass tatsächlich kein Weg existierte, denn der Sand hatte ihn verschluckt.

Und schließlich erblühte die Weisheit in meinem Herzen, und ich erkannte, dass Wissen und Wahrheit niemals auf einfache und angenehme Weise erreicht werden können: Sie können niemals durch eine List des menschlichen Geistes gefunden werden. Die Wahrheit Muss Durch die Kraft der Herzens Erreicht Werden; und das Wissen muss mit der Kraft der Hand Ergriffen Werden.

Ich stand auf und kehrte zu der Oase und dem Teich zurück; und die Augen meines Wahren Wesens öffneten sich und betrachteten die Säule; auf jenem Gesicht, das gleichzeitig in alle Richtungen weist, sah ich folgende Worte eingraviert:

Ich bin der Garten der Ewigen Weisheit.

Ich betrachtete diese Schönheit im Goldenen Licht der Weisheit; und voller Liebe und Entzücken wurde mir bewusst, dass ich mein Königreich gefunden hatte: Der Garten war die Heimat von Vater, Söhnen und Brüdern, und Ich War Jetzt Sein Herr.

Sehet meine Geschichte, Oh Schüler, denn diese Geschichte ist eure eigene. Ihr seid Söhne des Gartens und Bewohner der Wildnis. Ihr seid Erben des Gartens, aber erst wenn ihr die Wildnis erobert habt, werdet ihr das Verlorene Land verlassen und euer Erbe erhalten.

Mit eurem eigenen Mut müsst ihr der Wüste trotzen. Durch eure eigene Stärke müsst ihr ihre Gefahren überwinden. Hunger und Durst dürfen euch nicht entmutigen. Gefahr, Schmerz und Müdigkeit dürfen eure Schritte nicht bestimmen. Wenn ihr fallt, müsst ihr euch ohne fremde Hilfe wieder erheben und weiterschreiten, ohne an Ruhe zu denken. Denn es gibt weder Ruhe noch Hilfe noch Ausweg im Kampf in der Wildnis des Menschlichen Verstandes.