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Nachricht von den Alten

Vor gut tausend Jahren lebte in den jetzt ausgetrockneten Landstrichen nordwestlich von Neu-Mexiko und Umgebung ein zivilisiertes Volk. Anzeichen weisen darauf hin, daß das Gebiet einst durch ein kompliziertes System von Bewässerungskanälen bebaut werden konnte. Aber schon damals muß es ein unwirtliches Land gewesen sein, ein hochgelegenes, von noch höheren Bergen umgebenes, baumloses Tal, das heute ausschließlich von kleinen Nagetieren und Klapperschlangen bewohnt wird. Doch einst enthielt der Chaco Canyon große Siedlungen mit Terrassen- oder Reihenhäusern und ausgedehnten Vorstädten. Es gab Gebäude mit vielen Zimmern, und von der Mitte der Siedlung ausgehend erstreckten sich Hunderte von Meilen weit fächerförmig Straßen. Sie waren dreißig Fuß breit und pfeilgerade. Die natürlichen Hindernisse wurden durch Überbrückungen oder Stufen überwunden. Es gibt Beweise, daß weitläufige Verbindungen mit anderen Völkern bestanden. Weitreichende Handelsbeziehungen brachten Güter von auswärts in dieses Gebiet. Hier war offenbar ein Handelszentrum, wo Handelswaren ausgetauscht werden konnten und der Transport vom Hersteller zum Verbraucher organisiert wurde. Man nimmt an, daß die Einwohner der Chaco-Siedlung ihren Lebensunterhalt auch als Verwaltungsbeamte und Organisatoren verdienten. Vielleicht bestand dafür vor etwa achthundert Jahren kein Bedarf mehr, denn ungefähr um diese Zeit verließen die Bewohner das Tal.

Es gab jedoch noch eine andere und geheimnisvollere Seite der Zivilisation des Chaco-Tales. In der geschäftigen Menge, die ihr Kupfer, ihre Papageienfedern und andere exotische Waren kaufte und verkaufte, muß es auch Menschen gegeben haben, deren Interessen sich nicht auf den Marktplatz begrenzten; Astronomen und Mathematiker, die vielleicht zurückgezogen lebten oder auf dem noch höher gelegenen Land wohnten, das das hochliegende Chaco-Tal umgab. Möglich ist auch, daß sie überhaupt aus einer anderen Zeit stammten.

Die Menschen, die als "die Alten", die Anasazi, bekannt sind, hinterließen ihre Spuren auf vielfältige Weise im Gebiet der "vier Ecken" (wo Utah, Colorado, Arizona und Neu-Mexiko zusammenstoßen): Kivas (Zeremonienbauten), Klippensiedlungen, astronomische Markierungen und Felszeichnungen. Unter anderem hielten sie in einer Felszeichnung anscheinend die Explosion einer Supernova fest, durch die der Nebel des Krebs entstanden war, und dort am 5. Juli 1054 n. Chr. zu sehen gewesen sein muß. Dr. John A. Eddy, führendes Mitglied der Forschergruppe des High Altitude-Observatoriums in Boulder, Colorado, hat beobachtet, daß mehrere der sogenannten großen Kivas anscheinend auf die Sonnenwendepunkte ausgerichtet sind. Eine davon ist Casa Rinconada, ein mit äußerster Genauigkeit gebauter kreisrunder Bau aus geglätteten Steinblöcken, der in seinen dicken Mauern Nischen hat (auf die zu bestimmten Zeiten astronomische Objekte ihre Strahlen warfen), sowie Türen in Form eines T. Erst vor ein paar Jahren schrieb Dr. Eddy:

Die besagten Anordnungen sollten darauf hinweisen, daß die Anasazi-Pueblo-Indianer in Chaco fortgeschrittene rechnerische Fähigkeiten besaßen und über Methoden verfügten, Eklipsen (Verfinsterungen) vorauszusagen. Einige dieser Mutmaßungen mögen zutreffen, aber keiner wurde genügend Beachtung geschenkt, um sie astronomisch zu überprüfen, und keine ist von den Berufs-Archäologen als plausibel anerkannt worden. ...1

Seit jener Zeit hat sich die Waagschale durch die sorgfältige Erforschung eines einmaligen Kunsterzeugnisses zur anderen Seite geneigt, das hoch oben auf einer Spitzkuppe über dem Chacotal gefunden wurde. Es war schon über ein halbes Jahrhundert bekannt, aber die Bedeutung der Steinzeichnung, die hinter drei senkrechten Steinblöcken in die rauhe Oberfläche eines Felsens gemeißelt war, hatte die Menschen, die sie zufällig gesehen hatten, nicht beeindruckt. Die Steinblöcke fügen sich ganz unauffällig in die Landschaft ein, und nichts weist auf eine besondere Bedeutung hin. Man betrachtete die Lage der Steine lange Zeit als Zufall, dem stets gern alles zugeschoben wird. Erst jetzt hat sich herausgestellt, daß auch bei hartnäckigstem Zweifel der Zufall nichts damit zu tun haben kann, es sei denn, drei parallel stehende Felsblöcke, von denen jeder etwa zwei Tonnen wiegt, hätten sich seitwärts von der Stelle, wo sie aus der Felswand herausgehauen worden waren, hinwegbewegen und nebeneinander hinstellen können.

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Bildtext: Der Sonnenkalender der Anasazi – vereinfacht nach dem Diagramm in Science 80.

Als die Künstlerin Anna Sofaer den engen Kamin emporkletterte, der zum oberen Ende der Spitzkuppe Fajada führt, war die Sommersonnenwende von 1977 eine Woche vorbei. Es war 11 Uhr morgens, daher konnte sie das Weiterrücken eines Sonnenstrahls unterhalb der Spirale auf der Felsoberfläche verfolgen. Um aber ihre Vermutung genau überprüfen zu können, kam sie im nächsten Jahr zur Sommersonnenwende am 21. Juni 1978 mit zwei Begleitern wieder. Wie erwartet sahen sie, daß der "Sonnendolch" achtzehn Minuten lang eine senkrechte Linie genau durch die Mitte der größeren der beiden eingemeißelten Spiralen bildete, während die Sonne den Zenit von Ost nach West überschritt.

Die Petroglyphe besteht aus zwei spiralförmigen Zeichnungen. Aus einer großen mit neun Windungen und einer kleineren (die höher und weiter links von der großen liegt), mit drei Windungen und einem auslaufenden Schwänzchen. Die drei Forscher setzten ihre Besuche fort und machten dabei eine Reihe Fotos bei Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen. Sie machten auch von Juni bis Ende Dezember, am 21. eines jeden Monats, in der Mittagszeit Aufnahmen im Abstand von dreißig Sekunden. Auf den Fotos war zu sehen, daß das Sonnenlicht, das zwischen den drei aufrechtstehenden Steintafeln eintritt, die ganz zufällig am Felsen zu lehnen scheinen, ein Muster zeichnet. Das ist die einzige frühzeitliche Markierung, bei der das Licht verwendet wird, um das Weiterrücken der Sonne im Laufe des Jahres auf einer Skizze festzuhalten, die zu diesem Zweck angebracht wurde.

Zur Sommersonnenwende wird ein paar Minuten vor zwölf Uhr ein schmaler Lichtkeil oben an der großen Spirale sichtbar. Er verläuft senkrecht nach unten, genau durch die Mitte, wie oben beschrieben, wenn das Sonnenlicht zwischen den verschiedenen Oberflächen der mittleren und der rechten Steinplatte eintritt. Täglich bewegt sich dieser Lichtkeil etwas weiter nach rechts, bis er genau zur Wintersonnenwende die Spirale vollständig verläßt und genau den rechten Rand berührt. Gleichzeitig erreicht ein zweiter schmaler Lichtkeil, der zwischen der linken und der mittleren Platte eindringt, den anderen Rand der großen Spirale. Es entsteht das Bild eines dunklen runden Raumes, der von Licht umrahmt ist. Die kleinere Spirale wird bei den Tagundnachtgleichen wichtig: Im Frühling, wie im Herbst wird sie von dem zweiten Sonnendolch genau in der Mitte geteilt, während der erste Dolch die rechte Seite der großen Spirale abteilt und sie zwischen der vierten und fünften Windung trennt.

Ohne Zweifel war diese ausgeklügelte Anordnung beabsichtigt, aber viele Fragen bleiben noch offen. Zunächst fragt man sich: Warum Spiralen? Sie sind schwieriger abzumessen und zu zeichnen als, sagen wir, Kreise oder einfach Punkte, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, sie in Fels zu ritzen. Ein großer Kreis und ein Punkt würden denselben Zweck erfüllen, wenn es die einzige Absicht gewesen wäre, die vier Zeiten des Sonnendurchgangs festzuhalten. Das bedeutet, daß andere Berechnungen inbegriffen sein müssen, die uns bis jetzt entgangen sind. Es wäre äußerst interessant, etwas über die Beobachtungen des Mondlichtes zu erfahren, besonders zur Zeit der Mondfinsternisse, wenn so etwas gemacht wurde. Weiterhin ist wichtig, daß die Proportionen der Spiralen nicht einfach in gleichförmigen konzentrischen Kreisen bestehen. Ihre Abstände können sehr gut zusätzliche Geheimnisse enthalten, die wir noch entdecken müssen. Auch der seltsame kleine Schweif der kleineren Spirale wird sicherlich keine zufällige Verzierung gewesen sein, aber wir können seine Bedeutung noch nicht ergründen.

Es ist seltsam, wie wir uns in unserem technischen Zeitalter daran gewöhnt haben, allen früheren Kulturen einen Zustand relativer Barbarei zuzuschreiben. Wir geben zu, daß in der Vergangenheit bemerkenswerte Errungenschaften gemacht wurden, aber wir betrachten sie als beinahe übernatürlich und ersparen uns eine ernsthafte Erwägung. Auch Kendrick Frazier spricht in seinem Artikel, in dem er die Großtaten der Anasazi auf den Gebieten der Mathematik, Astronomie und Technik beschreibt, vom Straßennetz, als ob es zum Teil etwas gewesen sei, wodurch man einen Ort erreicht, "an dem sich Feuersteinablagerungen befanden, um Steinwerkzeuge abzuspalten, oder das zum Härten der Töpferwaren notwendige Trachyt."2 Wir degradieren Wissenschaftler anderer Zeitalter, die mit Steinwerkzeugen arbeiteten, aber auch Eklipsen berechneten, gedankenlos als Wilde. Selbstverständlich hat es in unserer Vergangenheit primitive Völker gegeben, es wäre absurd, das zu leugnen. Es ist jedoch gleichermaßen absurd, anzunehmen, daß wir auf der obersten Spitze menschlicher Errungenschaften stehen, und daß die gesamte Geschichte ein steter Anstieg war, denn das ist himmelschreiender Unsinn. Es ist allerdings fraglich, ob der menschliche Geist durch die Technik in nennenswerter Weise weitergekommen ist, denn ihr Einfluß in unserer eigenen Zeit ist zugegebenermaßen umstritten.

Obwohl materielle Technik kein Beweis für intellektuelle, geschweige denn für spirituelle Größe ist, so scheint es doch wichtig, uns klarzumachen, daß das, was wir von den Überresten vergangener Zivilisationen sehen, nicht unbedingt alles ist, was sie beinhalten. Jede Kultur ist in einem gewissen Maß durch ihre spezielle Beschaffenheit und ihre Umgebung verblendet, und die unsere bildet keine Ausnahme. Wer auch immer die Felszeichnungen mit dem Sonnendolch ausgedacht und ausgeführt hat, war wohl der Meinung, ihre Bedeutung sei jedem selbstverständlich. Wir, in unserer Epoche, haben eine Zeitkapsel erfunden, um diejenigen, die uns wahrscheinlich in der Zukunft finden, über uns aufzuklären; einige unserer Raumsonden enthalten erläuterndes Material, das die menschlichen Geschöpfe der Erde in einer Weise beschreibt, von der wir hoffen, daß fremde Lebensformen sie verstehen. Auf jeden Fall wird optimistisch angenommen, daß der Finder dasselbe mentale Bezugssystem benützt wie der Verfasser - eine Annahme, für die wir keinen verläßlichen Grund haben.

Die Anasazi sind schon lange aus ihren alten Wohngebieten verschwunden. Wir, die über ihre komplizierte Sonnenuhr nachdenken, verhalten uns herablassend wie zu frühreifen Kindern. Dabei könnten wir ebenso eine instinktive Hochachtung für diese unbekannten Künstler und Wissenschaftler empfinden, zu der vielleicht mehr Grund besteht als wir vermuten. Eine tiefe gemeinsame Verehrung für die Großartigkeit der Sonnenwesenheit, deren physische Gegenwart sie so sorgfältig aufzeichneten, mag wohl die Jahrhunderte überbrücken. Wir können nicht in ihre Welt eindringen, aber es gibt eine universale Sprache der Symbole, die die Intuition im Denken anspricht, und etwas im Vorrücken ihres Sonnendolches berührt den Rand wortlosen Verstehens: Zur Wintersonnenwende ist die Spirale ohne Licht, das dann Tag für Tag zurückkehrt, bis es das Herz der Spirale durchdringt, wenn die Sonne im Sommer ihren höchsten Stand erreicht hat. Das erinnert zu sehr an die heiligen Ereignisse, die in anderen Ländern der alten Welt gefeiert wurden, als daß man es übersehen könnte. Das erinnert zu stark an die fortschreitende Entwicklung von der mystischen jungfräulichen Geburt in der dunklen Höhle oder dem Stall bis zum großen Opfer, dem die Sommersonnenwende Ausdruck verleiht. Man spürt hier ein Wissen jenseits von Zeit und Raum, wo Vergangenheit und Zukunft sich treffen und verstanden und verschmolzen werden.

Fußnoten

1. In Search of Ancient Astronomies, herausgegeben von Edwin C. Krupp, Seite 147. [back]

2. "The Anasazi Sun Dagger", Science 80, Nov.-Dec. 1979. Das ist die erste Ausgabe einer neuen, regelmäßig erscheinenden Zeitschrift, herausgegeben von der Amerikanischen Vereinigung für den Fortschritt der Wissenschaft. [back]