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Gedanken in einem göttlichen Verstand

Jeden Tag entsteht in uns eine Fülle von Gedanken, ein wahrhaft schöpferischer Akt, wenn auch nicht immer mit Überlegung oder Kontrolle. Durch diese Produktivität des Geistes gestalten wir die Welt, wie wir sie wahrnehmen und erkennen. Doch wie wenige Menschen versuchen zu ergründen, was diese Gedanken wirklich sind und woher sie kommen. Wenn wir dem allgemeinen Trend unserer Zeit folgen, dann können wir die Dinge, die unsere Sinne nicht in Form von materiellen Erscheinungen und Techniken wahrnehmen können, durch Erklärungen deutlich machen. Vielleicht sind die Gedanken jedoch mehr als nur Ergebnisse der Gehirntätigkeit oder von Abstraktionen, denen jede objektive Realität fehlt.

Es ist auch erstaunlich, wie selten wir über unseren höchst dynamischen und vertrauten Teil, den Verstand, nachdenken. Ob er ein Nebenprodukt der Gehirnfunktionen oder ein spezifischer Teil des menschlichen Wesens ist, der sich über das Gehirn zum Ausdruck bringt, mag als abstruse und theoretische Frage gelten. Die Antwort, die wir geben, hat jedoch tiefgehende Folgerungen. Wenn Materie die Quelle von allem ist, was existiert, dann sind Verstand, Bewußtsein und auch das Leben das Ergebnis der physikalischen Prozesse, die für die Eigenschaften und die Entwicklung völlig verantwortlich sind. Ist aber Bewußtsein die Grundlage der Natur, dann durchdringen Geist und Leben das gesamte Universum - wobei auch nicht der kleinste Punkt ausgenommen ist. In diesem Fall wird der Kosmos durch organische und nicht durch mechanische Vorgänge gebildet, durch lebende Wesen, die zu demselben göttlichen Ursprung gehören. Als Reflektionen oder Funken des Ganzen enthalten sie alle in sich selbst, aktiv oder passiv, die gesamten Möglichkeiten ihres Ursprungs, und sie versuchen diese in immer größerem Maße zur Entfaltung zu bringen.

Von diesem Standpunkt aus sind Geist und Leben die Hauptgrundlagen des menschlichen Wesens, wobei der menschliche Geist (mind) sein universales Gegenstück [den Universalen Geist] unvollkommen widerspiegelt. Wir sind nur mit den menschlichen Dimensionen dieser Eigenschaft vertraut, die bis jetzt noch nicht voll entwickelt ist. Wieviel mehr muß daher der größeren Intelligenz zugeschrieben werden, die ihr Ursprung ist. Überdies können in einem Universum, in dem nichts leblos ist, die Gedanken, die unser geistiges Leben bilden, nicht als "bloße" Energien angesehen werden, sondern als Bewußtseinszentren, die unabhängig existieren.

Als Wesen haben sie sich in ähnlicher Weise entwickelt, wie der Mensch. Wenn sie in unser Bewußtsein eintreten, werden sie daher von uns nicht aus dem Nichts geschaffen. Sie werden vielmehr von der Grundsubstanz unseres Geistes (mind) angezogen und gehen daraus hervor, wie ein Kind von seinen Eltern: Jeder dieser Gedanken besitzt seine eigene individuelle Vergangenheit und auch eine starke karmische Beziehung zu denjenigen, die ihn mit den Werkzeugen versorgen, die er braucht, um sich in der physischen Welt zu manifestieren. Durch unsere Einstellung und durch unsere Motive beeinflussen wir diese Gedankenwesen, wobei wir sie umformen oder ignorieren, ihnen einen schöpferischen oder einen zerstörenden Impuls geben, ehe wir sie wieder auf ihre Reise durch die Menschheit schicken.

Daß hinter dieser physikalischen Realität Bewußtsein steht und daß die Gedanken die Kinder unseres Verstandes (mind) sind, sind Vorstellungen, die von vielen Völkern empfunden wurden. Ihre Überlegungen haben sie häufig dazu geführt, Vergleiche zwischen den Prozessen des menschlichen Denkens und der Entstehung des Universums anzustellen. Eine der am weitesten verbreiteten Vorstellungen war, daß das Universum ein Gedanke im göttlichen Denken oder im Geiste Gottes darstellt. Einige haben dieses Thema weiter ausgearbeitet, indem sie beschrieben, wie das ganze Weltgebäude durch den Eindruck zustande kam, der der Ursubstanz durch den kosmischen Gedanken eingeprägt wurde. Im Westen konzentriert sich die vielleicht am besten bekannte Version dieser Vorstellung auf den Logos - den "Verstand" oder das "Wort", die vom göttlichen Gedanken erzeugt wurden. Im Johannes-Evangelium heißt es wie folgt:

Im Anfang war das Wort [Logos], und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alle Dinge sind durch das Wort [Logos] geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.

- 1:1-3

Dieser Abschnitt betont die grundlegende Identität des Logos mit seinem Ursprung, dem Höchsten, das die menschliche Seele erfassen kann, ob wir dieses Höchste nun Gott, Parabrahman, das Absolute oder die Gottheit nennen. Viele Quellen erwähnen jedoch drei Logoi, wobei der erste ein Bewußtseinspunkt ist, der aus der Göttlichkeit - das erste Selbst oder Ego - hervorgeht. Der zweite Logos wird oft mit der Ursubstanz identifiziert, und gleichzeitig wirken beide aufeinander ein, um einen dritten Logos zu erzeugen, ihren Sohn, der als kosmisches geistiges Wesen, als Demiurgos oder als der Weltenerbauer bezeichnet wird, der als direkter Ausgang aller Manifestationen wirkt.

Das Wort Logos wird meist in einem kosmischen Sinne gebraucht, kann aber ebensogut auf jede Einheit im Universum angewendet werden, sei es ein Sonnensystem, ein Planet, ein Mensch oder ein Atom. Denn alles ist in der Göttlichkeit verwurzelt und manifestiert sich etwa auf dieselbe Weise. Der Logos jeder Wesenheit ist die Wurzel seines Selbst, die wahre Essenz seiner Existenz, aus der sein gesamtes Wesen fließt, ausgedrückt durch die umgebende Materie. Dadurch, daß der Denkprozeß am Anfang die Substanz der Natur geprägt hat, wird dieser Prozeß in allen Teilen der Natur wiederholt, wobei jede Einheit ein unabhängiges schöpferisches Zentrum ist.

Eine andere Seite der grundlegenden Analogie zwischen dem menschlichen Denken und dem Kosmos ist die eines kosmischen Architekten oder Mathematikers, die ebenfalls den Einfluß des Bewußtseins, die Ursubstanz andeutet. Hieraus kann man auf die Anwesenheit einer leitenden geistigen Kraft hinter der Ordnung der Natur schließen, so daß man diese nicht auf das Wirken planlosen Zufalls oder auf mechanische Gesetze zurückführen kann. Mehrere Wissenschaftler dieses Jahrhunderts haben sich dieser Metapher zugewandt, die von mystischen und Platonischen Denkern häufig verwendet wurde, um ihrer Intuition von jenem "Etwas" Ausdruck zu verleihen, das dem sichtbaren Universum zugrunde liegt. Zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen hatte man hauptsächlich die Vorstellung von einem Kosmischen Künstler oder Handwerker, der die Welten nach der Art seiner Gedanken formte.

Diese Personifikationen sollen nicht wörtlich genommen werden, sondern vielmehr auf eine grundlegende Beziehung zwischen Geist und Materie bei der Entwicklung des Universums hinweisen. Sie zeigen, daß der Weg der Evolution die fortschreitende Entwicklung des Bewußtseins zum Ziel hat, das geeignete Formen benützt und nicht, daß dieses Bewußtsein aus diesen Formen hervorgeht. Zweifellos liegt diesem universalen Drang nach Fortschritt zugrunde, daß eine stets wachsende Selbstentfaltung notwendig ist. Ein solcher Fortschritt bedeutet nicht, daß der Kampf um individuelle Verbesserung auf Kosten anderer geht - besonders der Schwächeren und weniger Entwickelten -, sondern daß eine wachsende Harmonie innerhalb des Ganzen angestrebt wird. In einem Universum von Geist und Leben ist der Hauptantrieb für das Wachstum schöpferische Umwandlung, die jede Einheit dazu führt, besser im Einklang mit dem universalen Geist, der diese Einheit hervorgebracht hat, zu handeln, je mehr die inneren Möglichkeiten zum Ausdruck gebracht werden.

C. S. Peirce, der Gründer des Pragmatismus, hat eingehend über diesen Wachstumsdrang nachgedacht. Gelegentlich brachte auch er den Kosmos mit Gedanken in Verbindung, die durch den Geist Gottes erzeugt wurden. Er verwendete diesen Vergleich in dem Bestreben, seine Ansicht über den Evolutionsprozeß zu verdeutlichen. Dabei führte er aus, daß:

Wachstum nur von Liebe kommt, von - ich will nicht sagen Selbstaufopferung, sondern von dem heftigen Impuls, den höchsten Impuls eines anderen zu erfüllen. Nehmen wir zum Beispiel an, ich hätte eine Idee, die mich interessiert. Sie ist meine Schöpfung. Sie ist mein Geschöpf ..., sie ist eine kleine Person. Ich liebe sie, und ich überlege mir, wie ich sie mehr vervollkommnen kann. Durch kalte Berechnung kann ich meine Ideen nicht wachsen lassen, sondern nur indem ich sie hege und pflege, als wären diese Ideen Blumen in meinem Garten. ... In dieser Art entwickelt sich das Denken, und was den Kosmos anbetrifft, so kann nur das, was immer noch Geist besitzt und somit Leben hat, imstande sein, weiterhin zu evolvieren.1

Wir alle sind in unserem Innersten Gedanken des Göttlichen, Teilchen aus seiner Essenz, danach strebend, unser spirituelles Erbe zu erfüllen. Genauso wie die Atome und Gedanken durch die verschiedenen Bereiche des Menschen zirkulieren, so sind wir in unserer Evolution dazu bestimmt, durch die viel größeren Wesenheiten zu zirkulieren, deren Körper die Galaxie bilden. Bei diesen Wanderungen sind es ganz gewiß Liebe und Mitleid, die vom Höheren auf uns - seine Gedankenkinder - ausströmen, und die uns schließlich zur Göttlichkeit emporheben.

Fußnoten

1. Buchler, Justus, Herausgeber, The Philosophy of Peirce: Selected Writings (Die Philosophie von Peirce: Ausgewählte Schriften), Routledge & Kegan Paul, London 1940, Seite 362-363. [back]