Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Durch Geburten und Tode

Im Grunde genommen wird in allen Kulturen der Welt der Mensch als ein alter Pilger betrachtet, der sich auf einer Reise befindet, die endlose Zyklen von Geburten und Toden einschließt, während er schrittweise versucht, der größeren Vision, dem edleren Weg zu folgen, bis in fernen Zeiten jener Tag kommt, an dem er die innere Gottheit zum Ausdruck bringen wird. Hier im Westen geht man jedoch im allgemeinen trotz der wachsenden Unzufriedenheit mit den überkommenen Glaubensbekenntnissen auf diese größere Perspektive des Lebens nicht ein. Wir neigen dazu, unserer innewohnenden Weisheit zu mißtrauen, weil wir zu lange an unserer materialistischen Methode der Konzentration auf die Welt der Erscheinungen festhielten. Hinzu kommt die einseitige religiöse Belehrung mit der daraus hervorgegangenen Furcht vor dem Unbekannten.

Eines der am wenigsten verstandenen und am meisten gefürchteten Ereignisse ist der Tod. Wir haben uns so lange für unser individuelles Wohlbefinden im Jenseits interessiert, daß wir geneigt sind, das Hier und Jetzt zu übersehen. Dabei haben wir nicht erkannt, daß das Jenseits von sich aus für alles sorgen wird, wenn wir die täglichen Verantwortlichkeiten erfüllen, wie sie kommen. Der Glaube an nur ein einziges Leben hat auch zu einem Gefühl der Zwecklosigkeit und Entmutigung beigetragen. So wie Isaac Watts scherzhaft gesagt haben soll:

Wenn ich so bald dahin bin,

wozu wurde ich dann erst geschaffen?

In seinem Höhlen-Gleichnis erinnert uns Plato daran, daß

die Seele jedes Menschen die Kraft besitzt, die Wahrheit zu lernen, und das Organ hat, sie zu sehen; und daß so, wie man den gesamten Körper umdrehen müßte, damit die Augen das Licht sehen könnten anstatt die Dunkelheit, auch die Seele insgesamt von dieser veränderlichen Welt abgewendet werden müßte, bis ihr Auge es ertragen kann, die Wirklichkeit und jenen höchsten Glanz zu betrachten, den wir das Gute genannt haben.

- Der Staat, VII, 518

Wir sind glücklich, daß die Seele der Menschheit in dieser Zeit unseres Jahrhunderts beginnt, in mancher Hinsicht ihr Auge dem Licht zuzuwenden anstatt der Dunkelheit, um sich von dem begrenzenden Höllenfeuer-Himmelstor-Syndrom loszureißen, wenn das Suchen nach der Wahrheit mit dem Wunsche fortgesetzt wird, lieber zu wissen als nur zu glauben. Das gegenwärtige Interesse an den nichtchristlichen Religionen hat die Idee der Reinkarnation annehmbarer gemacht. Auch bestätigen neueste Untersuchungen über die Erlebnisse von Menschen, die dem Tode nahestanden oder für "klinisch" tot erklärt worden waren und dann wieder genasen, in wundervoller Weise das Wissen, das ein Teil der uralten Weisheitstradition ist.

Dr. med. Raymond A. Moody jr. und Dr. med. Elizabeth Kübler-Ross haben in voneinander unabhängigen Studien ähnliche Berichte über eine Fortsetzung des Bewußtseins nach dem 'Tode' mitgeteilt, von Menschen, die sich in ihrem religiösen, sozialen und bildungsmäßigen Milieu so weit unterschieden, daß es überzeugend ist. Sie haben in der Tat dazu beigetragen, die Einstellung der Furcht und Ablehnung diesem Thema gegenüber durch mehr Vernunft und Verständnis zu ersetzen. Alle Befragten empfanden das 'Todes'-Erlebnis als schön, friedvoll und natürlich, mit Ausnahme derjenigen, die einen Selbstmord versucht hatten und wiederbelebt wurden.1 Letztere kehrten mit einem positiven Gefühl der Nutzlosigkeit einer solchen Handlung zurück, denn sie hatten erkannt, daß sie ihrem Problem nicht entflohen waren, sondern es lediglich verstärkt hatten. Viele entdeckten, daß sie, als die Seele außerhalb des Körpers war, unterschiedliche, später mit Worten schwer zu beschreibende Bewußtseinsdimensionen wahrnahmen. Dr. Moody weist darauf hin, daß diese Erlebnisse durchaus nicht zum Bereich der Halluzinationen gehören. In jedem Falle gab es eine vernünftige Reaktion, die meist einem spirituellen Erwachen verwandt war. Einige fühlten trotz des Dranges, den absoluten Frieden zu genießen, die ernsthafte Verpflichtung, zurückzukehren, als ob sie in ihrem Leben noch einen Auftrag zu erfüllen hätten. Und viele wurden angeregt, ihre Lebenszeit sinnvoller werden zu lassen.

Besonders interessant war, daß der Rückblick auf ihr Leben in keiner harten Verurteilung bestand, obwohl viele das anscheinend eher erwartet hätten. Einer erklärte, es ähnele "einer autobiographischen Diavorführung." In zahlreichen Fällen schien ein Wesen wie aus Licht anwesend zu sein - möglicherweise der ständige innere Führer, das Höhere Selbst des Menschen? -, das mit Wärme und Verständnis half, den Rückblick zu erläutern. Dieses Wiederabspielen der Geschehnisse wird in verschiedenen Religionen in unterschiedlicher Weise beschrieben. Die moderne Theosophie nennt sie die "panoramische Schau", in der alle guten, schlechten und indifferenten Gedanken, Gefühle und Handlungen auf der Filmleinwand der Zeit registriert sind. Diese Schau erweckt das Bewußtsein, daß alles, was wir im Leben tun, uns nachfolgt. Wir lernen, daß der Tod nicht das Ende des Lebens ist, sondern lediglich ein Wechsel, wie er durch die Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling symbolisiert wird. Vom Standpunkt des inneren Menschen aus ist der Tod der Beginn eines glorreichen Abenteuers des Geistes.

Sobald wir anfangen, das Leben in seiner Gesamtheit zu betrachten und alle Phasen der äußeren Existenz als Teile der einen göttlichen Kraft zu empfinden, beginnt alles in überaus bemerkenswerter Weise zusammenzupassen. Man erkennt einen alles umfassenden Plan von unvergleichlicher Schönheit und herrlicher Synchronie bis ins kleinste Detail. Und in diesem Modell "bewegt" sich das spirituelle Ego, der Schauspieler, das wahre menschliche Selbst "in Ewigkeit wie ein Pendel zwischen den Stunden der Geburt und des Todes."2

Die Beziehung zwischen dem Leben hier auf der Erde und dem Leben nach dem Tode ist wie eine Gleichung. So wie unser Verständnis für den wahren Zweck unserer manifestierten Existenz wächst, beginnen wir die Notwendigkeit des Todes und seine natürliche Funktion im universalen Schema zu spüren; und je mehr wir über sein Mysterium und seine Erhabenheit nachdenken, desto besser erkennen wir das Ausmaß der Möglichkeiten, die in jedem menschlichen Wesen zu erwecken sind. Wie wir leben, so werden wir sterben. Es ist kein Vermittler erforderlich, um eine gerechte Erfahrung sicherzustellen, da jeder Mensch seine eigene Erfahrung anzieht. Die Gleichung stimmt genau. Wie der Charakter eines Lebens ist, so wird das Leben danach sein. Und weiter, welche Ursachen auch immer in einem Leben geschaffen worden sind, sie werden als Wirkungen in folgenden Leben geerntet werden.

Die Periode nach dem Tode ist, mit anderen Worten, eher eine Welt der Wirkungen als der Ursachen, ein Abspulen von Ereignissen, wodurch dem Gedächtnis die Qualität dieser Ereignisse eingeprägt wird. Die Vorgänge sind jedoch so kompliziert und miteinander verbunden, daß das Leben auf der Erde - obwohl in erster Linie eine Welt der Ursachen - auch das Feld ist, auf dem man die Ergebnisse der gesäten Ursachen verarbeiten muß. Die Gesamtsumme der in früheren Leben erzeugten Ursachen hilft, die Tendenz oder die Umstände unseres gegenwärtigen Lebens zu schaffen.

Die göttliche Ökonomie der Natur ist so beschaffen, daß der Tod gleichzeitig viele Funktionen erfüllt. Durch ihn wird die notwendige Erholungspause, die zur psychischen und spirituellen Wiederherstellung des Egos erforderlich ist, auf natürliche Weise geschaffen. Durch ihn kommt auch eine Zeit der Assimilation und Absorption, in der alles Wertvolle aus einer Lebenserfahrung in das Gedächtnis der Seele eingefügt und von Leben zu Leben weitergetragen wird. Auch werden während der Ruheperiode nach dem Tode bestimmte Energien aufgebraucht, die während des Erdenlebens einer Wesenheit keine geeignete Ausdrucksform fanden. Das alles geschieht ganz getrennt von dem spirituellsten Aspekt der menschlichen Konstitution und ist doch mit ihm verbunden. Von diesem Teil wird gesagt, daß er durch die himmlischen Reiche zirkuliert, in welchen er zu Hause ist. Tatsächlich ist diese Erde nur eine Wohnung von vielen. In anderen Kulturen wird von den Wanderungen der Seele nach dem Tode, von ihren Reisen zu den verschiedenen Planeten und von ihren Kreisläufen durch den Kosmos gesprochen. Es gibt einen alten römischen Spruch, der von den frühen Christen übernommen wurde: Dormit in astris - er schläft in den Sternen.

Wenn wir das Wirken der Natur von innen her sehen könnten, würde es wie ein unaufhörlicher Bewußtseinsstrom erscheinen, und wir würden uns einer allmählichen Bereitschaft für das Bevorstehende bewußt werden. Es gibt in der Natur keine plötzlichen Veränderungen. Es gibt vielmehr eine getreue Wiederholung des Gesetzes, von den ganz großen Dingen bis zu den ganz kleinen - ein kosmisches Gesetz, das unendlich gerecht und mitleidsvoll ist.

Der Schlaf ist zum Beispiel ein kleiner Tod. Er bereitet uns in einem sehr realen Sinne auf das größere Abenteuer vor. Die Griechen bezeichneten Schlaf und Tod als Brüder. Der Schlaf kommt als notwendige Unterbrechung zwischen den Tagen, um das Gleichgewicht des ganzen Wesens wiederherzustellen. Der Tod sorgt für eine längere Zeit zwischen den Leben. Die Länge der Zeit, die aufgebracht wird, entspricht genau der Qualität und Intensität der Bestrebungen des Individuums. Wer nicht genügend höhere Energien erzeugt hat, wird schneller zurückkehren. Gleichzeitig werden jene, die den tiefen Wunsch haben, ihren Mitmenschen zu helfen, gleichermaßen eher zur Erde zurückgezogen als andere, die egozentrischer eingestellt sind. Auch die Länge des Schlafes schwankt gleicherweise entsprechend der besonderen Erfordernisse. Der wesentliche Unterschied zwischen Schlaf und Tod besteht darin, daß während des Schlafes der Lebensfaden als Verbindungsglied für die Rückkehr des Bewußtseins in den Körper intakt bleibt.

Wenn wir die Geheimnisse des Schlafes wirklich verstehen würden, dann hätten wir viele Anhaltspunkte, um uns den Tod besser vorstellen zu können. Wohin gehen wir, wenn wir schlafen und träumen? "Schlaf, der sich über das zerrissene Gewand der Sorge legt - der Tod jedes Lebenstages ...", sagt Shakespeare. Pythagoras und andere haben besonders darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, sich auf den nächtlichen Schlaf vorzubereiten: die Handlungen des Tages vorüberziehen zu lassen, Frieden in Gedanken und im Herzen zu haben und keinen Haß zu hegen. Diese Gewohnheit erzeugt nicht nur Ruhe und Verständnis den Lebensproblemen gegenüber, sie läßt auch "die beunruhigende Schau der Ereignisse, die im Augenblick des Todes vor dem geistigen Auge vorüberzieht, viel leichter, lebendiger und vollständiger ablaufen."3

Geburt und Tod sind also verschiedene Aspekte des gleichen Spektrums des einen Lebens. Ohne das eine würde das andere nicht sein. Frei nach dem Sprichwort: Wenn die Saat nicht stürbe, könnte die Pflanze nicht entstehen. Der Tod des Physischen wird zur Geburt des Geistes.

Sowohl die älteren Leute als auch die ganz kleinen Kinder haben von entgegengesetzten Standpunkten eine Verbindung zur jenseitigen Welt. Die Jungen haben gerade die Welt der Träume verlassen, die noch immer in ihrer Atmosphäre lebendig sind, während die Gedanken der Älteren anfangen, eben diese Welt widerzuspiegeln, in die sie bald eintreten werden. Wenn der Tod im natürlichen Verlauf der Ereignisse zu den Älteren kommt, kann er eine herrliche Befreiung, die natürliche Erfüllung eines gut gelebten Lebens sein. In späteren Jahren geht die Konzentration der Gedanken von der Betonung äußerer Dinge zum inneren Leben über; die Schleier zwischen dieser und der nächsten Welt werden dünner, und man erkennt eine bessere Reflektion des inneren Selbst. So wie die Farben im Herbst aufleuchten, bevor die Blätter zur Erde fallen und die kahlen Bäume ihre inneren Funktionen weitertragen, bis die Zeit für das Erscheinen der frischen Blätter im Frühling wieder reif ist, so kann es in den späteren Jahren eine Ausstrahlung geben, eine Summierung von allem Vorangegangenen, eine Gereiftheit und Weisheit, die die bevorstehende wunderbare Reise ahnen läßt.

Über die Verbundenheit eines Kindes mit der Seele der Dinge hinterließ Wordsworth der Welt ein Vermächtnis in seinem Gedicht "Ode über Ahnungen der Unsterblichkeit". In erklärenden Anmerkungen zu den Gedanken, die ihn zu diesem Werk bewegten, schreibt er:

In meiner Kindheit war nichts schwieriger für mich, als die Vorstellung vom Tode auf mein eigenes Sein anzuwenden ... Es war mir oft unmöglich zu denken, daß äußere Dinge eine äußere Existenz haben, und ich war mit allem, was ich sah, eng verbunden; es war nicht etwas von mir Getrenntes, sondern etwas, meiner eigenen immateriellen Natur Innewohnendes.

Von der Präexistenz und der Unsterblichkeit der Seele überzeugt, schrieb Wordsworth, daß Kinder als "dahinziehende Wolken der Herrlichkeit ... von Gott, der unsere Heimat ist", kommen und daß ihnen diese Atmosphäre in den Jahren der Kindheit bleibt. Für ihn ist die Geburt in diese Welt eine Art Tod, "ein Schlaf und ein Vergessen", und unsere Seele, "unser Lebens-Stern", wird allmählich in das "Gefängnis" der weltlichen Täuschungen eingeschlossen.

Einsichten wie diese haben manche dazu gebracht, unser Erdenleben als ein Tal der Tränen anzusehen. Vom Standpunkt der Seele aus ist es jedoch der Ort, an den wir zurückkehren müssen, um während der Zyklen der Wiedergeburt durch selbstbewußtes Bemühen allmählich zu dem edlen Wesen zu werden, das wir potentiell sind. Unsere Erdenleben können besser als Stufen im Wachstum der Seele betrachtet werden. Während wir die Tage und Jahre durchlaufen, unser eigenes Schicksal formen und unsere eigenen Himmel und Höllen schaffen, befindet sich jeder von uns tatsächlich auf seiner eigenen selbstgeschaffenen Odyssee. Wie Odysseus auf seinen Wanderungen, suchen wir beständig unsere spirituelle "Heimat", indem wir versuchen, jenen haarfeinen Mittelweg zwischen den gefährlichen Extremen der Scylla und Charybdis zu finden, während uns die feindlichen Winde entgegenwehen und wir unbekannte Meere der Erfahrung erforschen.

Es gibt entlang des Weges viel Kummer, während wir leiden und versuchen, über unsere zahllosen Heimsuchungen hinwegzukommen. Die Hoffnung, die wir aus der größeren Sicht gewinnen, aus der Kenntnis des wesentlichen Zweckes und aus dem Wissen, daß es immer wieder eine Chance gibt, wenn nicht in diesem, dann in einem anderen Leben, macht uns diese Prüfungen leichter. Dazu zählt auch das Wissen, daß keine noch so geringe Anstrengung jemals vergeudet ist. Auf der gegenwärtigen Stufe unserer menschlichen Entfaltung ist Leiden ein notwendiger Ansporn für das Wachstum, denn dadurch werden unsere Sympathien erweitert und unser Charakter gestärkt. Doch der Verlust eines nahestehenden und lieben Menschen, im besonderen ein plötzlicher Verlust, ist eine wirklich sehr traurige Angelegenheit; besonders schlimm ist es, wenn der Betroffene glaubt, daß der Verstorbene für immer gegangen sei. Unabhängig von der philosophischen Überzeugung wird allein die Zeit die Kluft überbrücken. Die Bande der Liebe sind jedoch zeitlos, und in diesem Gedanken liegt die Saat des Trostes; denn Liebe ist eine magnetische Kraft, die das Universum zusammenhält und Leben für Leben jene zurückzieht, die eine tiefe Zuneigung füreinander fühlen.

Eines Tages, in zukünftigen Äonen, wenn jeder Teil unseres Wesens auf die Harmonie des Universums eingestimmt sein wird, werden wir über Geburt und Tod, wie wir sie heute kennen, gesiegt haben. Unser ganzes Wesen wird durch die Wärme des Mitleids für alles Lebende strahlen. Erst dann wird diese ureigene Odyssee zu Ende sein und eine neue, großartigere wird beginnen.

Fußnoten

1. Aus Raymond A. Moody, Jrs, Life After Life. [back]

2. H. P. Blavatsky, The Key to Theosophy, S. 167. [back]

3. G. de Purucker, Fountain-Source of Occultism, S. 551. [back]