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Die Lebenskette: Vom Stein zur Gottheit

Als Besucher einer Ausstellung afrikanischer Skulpturen reagiert man mit wechselnden Empfindungen, besonders wenn man mit dieser Kunstart nicht vertraut ist. Zunächst besteht ein gewisses Unverständnis oder sogar Widerwillen wegen der für den westlichen Geschmack unbestreitbaren Fremdartigkeit und Grobheit, die von den Idealen des Praxiteles noch weit entfernt sind. Auf den zweiten Blick treten solche Gefühle jedoch langsam zurück, um einem Verständnis für die sparsame und das Wesentliche betonende Eleganz Platz zu machen. Die Objekte beginnen eine Faszination auszuüben, die zunächst schwer zu erklären ist. Zuletzt spürt man intuitiv, daß es nicht bloße künstlerische Ausdrucksformen sind, sondern daß die Künstler vielmehr versucht haben, den metaphysischen Vorstellungen ihres Volkes bildhafte Gestalt zu geben, ob sie nun mit Holz, Bronze, Elfenbein oder mit einfachem Ton arbeiteten. Wenn man zu dieser Schlußfolgerung gekommen ist, fängt man an ernsthaft zu staunen, welche ursprünglichen Wahrheiten und Gedankenrichtungen in den ausgestellten materiellen Kunstwerken konkrete Form gefunden haben.

Studiert man ein wenig die Symbologie, so gibt sie uns einen kleinen Einblick in den Hintergrund der Kunstwerke, aber noch mehr verrät sie über die Art und Weise, in der die Afrikaner sich selbst in ihrer Beziehung zum Kosmos sehen; zu den Hierarchien der Götter und Vorfahren, zu ihren Mitmenschen und den Myriaden anderer Lebensformen, die in ihrer Gesamtheit die Gewänder der Mutter Natur ausmachen. Da ist zum Beispiel die häufig wiederkehrende Statue einer Mutter mit ihrem Kind, das sie auf ihrem Schoß hält oder auf ihrem Rücken trägt. Da wir an die Darstellungen der Madonna mit ihrem Kind in allen europäischen Mal- und Bildhauerschulen gewöhnt sind, scheint eine Beziehung leicht nachweisbar zu sein. Doch dieses stilisierte Bild berichtet uns nicht nur von der Glorie heiliger oder weltlicher junger Mutterschaft, sondern auch, in einer Form der Interpretationsmöglichkeit, vom ewigen Fluß der Generationen. Die Frau ist das Tor ins Leben; doch gleichzeitig kreuzt sich in ihr das Alte und das Neue; denn was ist das an ihrem Rücken festgebundene Baby denn anderes als einer der Vorfahren, der erst kürzlich in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist?

Man braucht nicht darauf hinzuweisen, daß man Dinge in bezug auf einen Kontinent, der so groß wie Afrika ist und so zahllose unterschiedliche Volksstämme hat, nicht verallgemeinern darf. Trotzdem gibt es einige gemeinsame Nenner. Wir können deshalb sagen, daß die Afrikaner das Leben im wesentlichen als einen Kreislauf betrachten, bei dem ein ständiger Übergang von einem Zustand in einen anderen besteht - den Tod nicht ausgenommen, denn in dieser Kette der Veränderungen folgt er so natürlich und allmählich wie die anderen Veränderungen. Man erkennt auch, daß die Inkarnation nicht plötzlich und nur bei der Geburt stattfindet, sondern daß das Individuum mehrere Jahrzehnte, ja das ganze Leben braucht, um zuerst seine körperlichen Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, dann die psychische und intellektuelle Reife zu erlangen und schließlich seine spirituellen Qualitäten zum Ausdruck zu bringen. Deshalb wird der Mensch, je älter er wird, immer vollständiger zum Menschen, indem er sein Potential mehr und mehr verwirklicht.

bild_sunrise_11979_s53_1Allgemein gesprochen wird so auch prinzipiell im afrikanischen Brauchtum der Initiation vorgegangen. Es gibt eine Menge Literatur darüber. Oberflächlich betrachtet mögen viele dieser Einweihungsriten auf uns primitiv oder sogar barbarisch wirken. Ohne Zweifel hat sich auch eine gewisse Degeneration eingeschlichen, und dennoch bezwecken alle diese Initiationen verstärkte Selbstbeherrschung, ob sie nun von Völkern ausgeführt werden, die die Schlüssel zu ihrer angestammten Weisheit verloren, oder von solchen, die sie bewahrt haben. In beiden Fällen sind sie eine Hilfe bei der Bewältigung der Krise, die Identität zu erkennen, die durch das Erwachen der bis dahin verborgenen Aspekte des menschlichen Bewußtseins verursacht werden kann. In unserer eigenen Gesellschaft ist es allgemein bekannt, daß die einsetzende Pubertät oft eine verwirrende Erfahrung ist und der Übergang von der Jugend zum Mannes- oder Frauenalter eigene Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Das Stammesleben hat Methoden eingeführt, die den jungen Leuten helfen, diese Schwellen zu überschreiten und in die Gemeinschaft integriert zu werden, indem sie auf ihre Rolle als Eheleute oder Eltern vorbereitet werden. Anders als viele junge Leute in unserer Kultur übernimmt bei diesem System niemand die ernsten Verantwortlichkeiten des Erwachsenen, ohne entsprechende Information und Vorbereitung oder ohne eine Gelegenheit gehabt zu haben, sich selbst zu prüfen. Auch werden während solcher Lernperioden heilige Lehren und anderes überliefertes Wissen weitergegeben.

Bildtext: Mutter und Kind; Weissagungsschale der Yoruba.

In einigen afrikanischen Gemeinschaften ist diese Art der Instruktion nicht auf die Jugend beschränkt. Bei den Dogon beginnt sie zum Beispiel in der Kindheit und setzt sich durch das ganze Leben fort. Der Bambara durchschreitet eine Reihe von Initiationen, die sich über Jahrzehnte hinziehen und das Ziel haben, das Bewußtsein des Einzuweihenden zu erweitern. Die erste Initiation, der er sich als Kind unterzieht, will ihm Selbsterkenntnis lehren, während die zweite dazu anregt, die eigenen Erfahrungen und Kenntnisse zu erforschen. Die dritte in der Reihe behandelt die Beziehung zwischen Körper und Seele, Mann und Frau, Gut und Böse; die vierte ist den Mysterien der menschlichen Natur gewidmet, der Dualität von Körper und Geist und den Themen Einsicht und Gewissen. In der fünften erwirbt der Schüler Kenntnisse über die Beziehung des Menschen zu Erde, Sonne und den Sternen, was die Jahreszeiten bedeuten und über Fauna und Flora. Während der sechsten Initiation konzentriert sich der Kandidat auf die Vergeistigung und Vergöttlichung seiner eigenen Natur.1 Am Ende dieser Einweihung hat der Mikrokosmos Mensch seinen rechtmäßigen Platz im Makrokosmos gefunden. Alle Tests und Prüfungen haben dazu gedient, seinen Körper und seinen psychologischen Apparat zu schulen, und die gesammelten Erkenntnisse haben ihn näher dahin gebracht, ein vollständiger und wirklicher Mensch zu werden.

Das Konzept einer lebenslangen Entwicklung spiegelt sich auch im Altersgruppensystem wider. Durch jahrelange Teilnahme verändert das Individuum seine Eigenschaften für die Mitwirkung in der Gemeinschaft; von der körperlichen Stärke zum scharfsinnigen Denken und zur moralischen Integrität. Dies gipfelt in der reifen Urteilsfähigkeit, der Frucht langer Erfahrung. In Tirikiland in Kenia hat zum Beispiel ein Junge bis zum Alter von zehn Jahren keine Verantwortlichkeiten. Dann folgt eine Periode der Einführung und der Schulung, bis er etwa fünfzehn Jahre alt ist. Zwischen seinem sechzehnten und dreißigsten Jahr bekommt er als junger Erwachsener etwas Verantwortung. Von dreißig bis vierzig dient er als Krieger und von vierzig bis fünfundfünfzig als ein älterer Krieger mit Führungsaufgaben. Männer von fünfundfünfzig bis siebzig Jahren sind unparteiische Älteste, die den Gerichten vorstehen. Wenn sie ein Alter von siebzig Jahren erreichen, werden sie keineswegs in den Ruhestand versetzt, bilden aber eine eigene Gruppe; denn diese Altersgruppe besitzt die letzte und die gesetzgebende Autorität. Im Alter von fünfundachtzig Jahren erhält ein Mann den Rang der ganz Alten und wird nicht länger zu den aktiven Pflichten herangezogen.2

Wie in fast allen Völkern mit Tradition wird auch hier die ältere Generation nicht zu einem nutzlosen Anhang, den man in Behaglichkeit isoliert, sondern sie wird in Ehren gehalten und darum gebeten, ihre angesammelte Weisheit weiterzugeben. Die Ältesten werden überdies oft als Bindeglieder zu den Toten betrachtet, die auf der nächsten Bewußtseinsebene leben. Als solche sind sie für die Gemeinschaft enorm wichtig, da die Irdischen mit ihrem Wohl und Weh vom guten Willen der Dahingeschiedenen abhängig sind; denn wenn Menschen sterben, werden sie Ahnen, die sich zwar nicht länger im physischen Körper, aber doch in der Umgebung der Lebenden befinden und für deren Wohl wirken. Manchmal erscheinen sie spontan ihren Verwandten, um sich über ihre unzulängliche Beerdigungsfeierlichkeit zu beklagen. In anderen Fällen nehmen Priester oder Wahrsager Kontakt mit ihnen auf, wenn die Überlebenden sie in schwierigen Entscheidungen konsultieren möchten. Da sie den Göttern oder Gott näher sind, werden sie bei den höheren Mächten zum Nutzen der Familie oder des Clans vermitteln. Ohne ihre Hilfe könnte die Ernte dürftig sein, oder es könnten Nachkommen ausbleiben, denn man glaubt, daß sie eine wichtige Rolle bei der Erzeugung von Mensch, Tier und Pflanze spielen. Deshalb erhalten sie Trankopfer und Opfergaben und werden verehrt, solange es Menschen gibt, die sich an ihren Namen erinnern. John S. Mbiti klassifiziert diese Art der entkörperten Wesen, die noch an den Interessen der Gemeinschaft teilhaben, als die Lebendig-Toten.3 Wenn sie einmal vergessen sind, verlieren sie ihre Persönlichkeit und mit ihr ihre Bindungen an die Lebenden. Allmählich verschwinden sie in die Vergeistigung und verbleiben dort - nach den Anschauungen von Mbiti -, über das Menschenreich erhoben; aber sie werden niemals Götter, bis auf wenige Ausnahmen.

Es gibt aber auch andere Ansichten über die Bestimmung der Seele nach dem Tode; denn einige Forscher glauben Beweise zu haben, daß viele Afrikaner an einen Wiedereintritt in die Welt der Lebenden nach einer Periode der Ruhe und Assimilation glauben. Die Vorstellungen über die vermutliche Länge des Aufenthalts auf den anderen Ebenen und welcher Teil der menschlichen Konstitution wiedergeboren wird, sind ganz unterschiedlich, und auch die Vorstellungen oder manche zu persönlich aufgefaßten Begriffe, die gegenwärtig im Westen darüber vorherrschen, mögen den Lehren der Hindu über die Reinkarnation nicht genau entsprechen. Für die Afrikaner gleicht der Lebensfluß ganz dem eines Baumes, dessen Blätter im Herbst abfallen und zu Staub werden (und vielleicht sogar über den Humus ihren Weg in den Baum zurückfinden); seine Lebenskraft kehrt jedoch zum Stamm zurück, um sich im Laubwerk einer neuen Jahreszeit wieder zu manifestieren. Sie zeigen auch nicht jene Furcht vor dem Zwang zur Wiedergeburt, der man bei den Orientalen immer begegnet. Trotz des Leidens im menschlichen Lebensablauf schätzen die Afrikaner das Erdendasein mit allen seinen Gelegenheiten sehr und haben keine Sehnsucht nach einem schnellen Nirvana.

Ein Beispiel dafür sind die Akan von Ghana. Ihre Philosophie lehrt, daß der Mensch Teil der göttlichen Quelle ist, mit der er direkt in Berührung steht und von der er seine nkrabea oder "Botschaft" über sein endgültiges Schicksal erhalten hat, das er erfüllen muß. Offensichtlich kann das nicht in einer Lebensspanne ausgeführt werden. Es erfordert vielmehr eine Serie von Leben, während der das Gute, das er in jeder irdischen Existenz getan hat - so wie ein Bankkredit -, in die nächste Existenz übertragen wird. Die Wiederverkörperung wird nicht als Sühne für Sünden angesehen oder als Abarbeitung schlechten Karmas, denn er

kehrt gewiß unvollkommen zurück, sonst wäre es nicht notwendig, daß er zurückkehrt, ... unvollkommen, weil er nicht vollkommen gut ist. Er gleicht einem Menschen, der einen Kübel in einen tiefen Brunnen taucht. Das Gewicht des Kübels beim Heraufziehen aus dem Brunnen sagt ihm, ob er ganz mit Wasser gefüllt ist oder nicht. Wenn er sich leicht anhebt und nicht schwer ist, läßt er den Kübel wieder hinunter; vielleicht taucht er ihn ein zweites, drittes oder auch viertes Mal hinab, bis er aufgrund des Gewichtes sicher ist, daß der Kübel voll ist. So ist es mit dem Weggang und der Wiederkehr der Seele zum Ursprung. Der Mensch wird nicht erhoben und vom Ursprung zum Dienen genommen, ehe sein nkrabea-Kübel voll mit Gutem gefüllt ist - bis die Bestimmung der Seele voll verwirklicht ist. Doch dann ist es für die vollständig integrierte Seele eine freudige Heimkehr. Die zur Erde zurückkehrende Seele gleicht deshalb nicht einem zum Tode verurteilten Verbrecher, sondern eher einem kleinen Kind, das bereit ist, mehr und besser zu lernen.4

Anfang dieses Jahrhunderts entdeckte P. Amaury Talbot, daß die Menschen im größeren Teil Südnigerias an etwas glaubten, das er, mangels eines besseren Ausdrucks, eine "Über-Seele", einen "Funken der Gottheit oder eine Monade" nannte, die "Emanationen durch verschiedene Ebenen bis zur Erde hinab sendet."5 Diese "Emanationen" kleiden sich auf unserer Manifestationsebene selbst in Körper von verschiedenen spirituellen Graden und gehen ihren langen Evolutionsweg, um ihre angeborenen Möglichkeiten voll hervorzubringen. Bei den Ibo wird diese "Überseele" Chi genannt. Sie ist ein Stück des großen Gottes Chukwu. Von ihm wird gesagt, daß er einen Teil seiner selbst in mehreren Menschen gleichzeitig manifestiert. Diese Vorstellung läßt an die Idee der Monade in der modernen Theosophie denken, die ihre Monadenkinder aussendet.

Für diese Südnigerianer ist die Reinkarnation ebenfalls keine düstere Vorstellung, obwohl sie zugeben, daß gegenwärtige falsche Handlungen jetzt oder in einem zukünftigen Leben ausgeglichen werden müssen und des Menschen Weg niemals ohne Sorgen und Schicksalsschläge sein kann, denn sie glauben an die "Gerechtigkeit und Weisheit der Weltenlenkung. Ungerechtigkeit und Mißgeschick existieren nur dem Anschein nach und nicht wirklich, und wenn sie nicht durch irgendeine Handlung in dieser oder einer vergangenen Inkarnation völlig verdient worden sind, werden sie in einer späteren mehr als ausgeglichen werden."6 Allgemein gesagt wird das Gesetz der Verursachung und Wirkung von den Afrikanern in einer natürlichen Weise akzeptiert, denn sie kennen - wie die alten Griechen - keine unbeseelte Natur: Jeder Baum, jeder Stein oder dahinfließende Strom hat seine innewohnende Gottheit, und auch die Ebenen über unserer eigenen und deren Bewohner sind nicht gänzlich unbekannt, weil viele Menschen noch angeborene "übernatürliche" Gaben besitzen und deshalb in diese mehr ätherischen Sphären hineinsehen können, deren Frequenzbereich das gewöhnliche Auge nicht wahrnehmen kann. In dieser großartigen Gesamtheit der belebten sichtbaren und unsichtbaren Natur beeinflußt jeder einzelne Teil alle anderen und wird umgekehrt von ihnen beeinflußt. Die Vorstellung von Karma muß deshalb nicht als ein theoretisches Gesetz besonders erklärt werden, weil es in der Wirklichkeit wurzelt, und auch seine Wirkungen werden nicht so empfunden, als wären sie von einer äußeren Macht über jemand verhängt worden, denn

nichts geschieht zufällig ... Ein Mensch erleidet Krankheit und Mißgeschick nicht durch Willkür; der Wind bläst nicht zufällig, noch leuchtet der Blitz durch einen Zufall. Gott kann in jeder Handlung durch das Medium eines seiner Agenten gesehen werden. Alle Kräfte der Welt werden durch Intelligenz gelenkt, in Ausführung des höchsten Willens.7

Die Buschmänner behaupten sogar, die Gräser würden einen anklagenden Laut geben, wenn jemand über sie geht, der eine böse Tat begangen hat.

In der Kette der Wesen nimmt das Menschenreich eine zentrale Stellung ein. Auf der einen Seite stehen die Minerale, Pflanzen und Tiere; auf der anderen Seite die Naturkräfte, die Geisterwelt, die Götter und das höchste Absolute. Die Menschen sind jedoch auf dem Wege ihres Wachstums und ihrer Vervollkommnung nicht allein. Die Afrikaner glauben, daß alle Teile der Gesamtheit zum selben Ziel streben. Die drei niedrigeren Reiche, die in einem gewissen Sinne Diener der Menschen sind, sind trotz ihres bescheideneren Status von diesem Plan der Dinge nicht ausgeschlossen, denn es herrscht unter den Weisen oder Initiierten in Südnigeria allgemein der Glaube "... an die Evolution des Menschen vom Stein aufwärts zur Gottheit."8 Wir können sicher annehmen, daß der gleiche Gedanke in anderen Teilen des Kontinents lebendig ist. Über die evolutionären Prozesse der Hierarchien oberhalb des Menschen wird nicht allzuviel erwähnt, obgleich wir hier und dort bestätigende Zeugnisse finden.

Unter den Akan herrscht der Glaube, daß das Individuum durch seine Bemühungen um moralischen Fortschritt die Gemeinschaft stärkt, während umgekehrt die Evolution der Gemeinschaft Individuen mit hervorragender Qualität das Tor öffnet, damit sie in ihrer Mitte inkarnieren können. Solch ein "Übermensch", ob er als großer Held, Staatsmann, Philosoph auftritt oder anderweitige Funktionen ausübt, kommt als ein Heiland, um den anderen den Weg zum Guten oder zu Gott zu zeigen oder eine höhere Idee zu vertreten. Seine Hauptaufgabe ist es, die Menschengruppe, zu der er gehört - sei es ein Stamm, eine Nation oder eine ganze Rasse -, zu größerem Verständnis anzuregen, so daß sich ihr spiritueller Horizont erweitert und sie eine noch größere Zahl menschlicher Wesen als ihre Brüder umarmen, bis es eines Tages eine echte Bruderschaft der ganzen Menschheit geben wird. Diese Heilande, sagen die Akan, werden oft verleumdet und getötet, weil die Menschen noch nicht genügend fortgeschritten sind, um ihre Mission zu verstehen; aber wenn Herz und Geist offen sind, erfolgt ein bedeutender Fortschritt für die Gemeinschaft, während der "Übermensch" in jedem Falle aus der Erfahrung Nutzen zieht, denn er befindet sich auf dem Wege zu noch höheren Stufen des Bewußtseins.

In der Formulierung der Akan erkennen wir deutlich eine Parallele zu der theosophischen Lehre von der Hierarchie des Mitleids, von der Buddha, Jesus und Sankarâchârya die bekanntesten Vertreter sind. Sie sind eine Klasse von Wesen, die über der allgemeinen Menschheit steht, obwohl sie noch von Körpern aus Fleisch und Blut Gebrauch macht, wenn es erforderlich ist. Diese Wesen sind der Prototyp des idealen Menschen, den eines Tages hoffentlich jeder von uns erreicht - ein Prototyp, der tief im Bewußtsein der Nationen aller Zeiten und Orte eingebettet ist. Es überrascht nicht, ihn auch in den hoch ethischen Lehren der Akan wiederzufinden.9

Dasselbe westafrikanische Volk hat noch eine weitere interessante Idee, denn, so fragen sie, warum trat Onyame oder die Letzte Realität in Erscheinung? Er schuf "das Ding" oder das Universum durch Nyankopon oder den Zweiten Logos, während der Dritte Logos, Odomankoma, der Hauer oder Architekt war. Beide werden dabei für bedeutender angesehen als Onyame selbst, aus dem Grunde, weil sie vollständiger manifestiert sind. Könnte es sein, daß Onyame den Wunsch hegte, sich selbst in seiner Schöpfung auszudrücken, aber auch von ihr erkannt zu werden und vielleicht in ihr Honhom oder den Geist zu verwirklichen? Die Akan denken so und halten fest an ihrem Glauben, daß sie Kinder dieses allumfassenden Wesens sind - Blut von seinem Blut, Geist von seinem Geist -, das sich selbst, wie der Mensch, auf seinem Weg zu größerer Vollendung befindet.

Fußnoten

1. Dominique Zahan, Religion, spiritualité et pensée africaines, Payot, 1970; S. 208-209. [back]

2. Basil Davidson, The African Genius, Little, Brown and Company, 1969; S. 84-85. [back]

3. John S. Mbiti, African Religions and Philosophy, Praeger Publishers, 1969; S. 32. [back]

4. J. B. Danquah, The Akan Doctrine of God; A Fragment of Gold Coast Ethics and Religion, Lutterworth Press, 1944; S. 82. [back]

5. P. Amaury Talbot, The Peoples of Southern Nigeria, Oxford University Press, 1926; II., S. 279. [back]

6. Ibid., S. 18-19. [back]

7. Ibid., S. 27. [back]

8. Ibid., S. 279. [back]

9. Danquah, S. 94-96. [back]