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Eine geheimnisvolle Lebenskraft

Abenddämmerung über dem Strand. Und die Zeit der Ebbe. Die nachmittägliche Menge ist verschwunden ... Schwimmer, Spaziergänger, Familien beim Picknick und herumspringende Kinder; ... alle sind weggegangen. Einsamkeit und die Weite des Ozeans und des Himmels umhüllen die Welt in einer harmonischen Einheit.

Die Gezeiten rollen ihr tägliches Schauspiel ab. Immer wieder sinne ich über dieses Mysterium nach. Welche Stimme gebietet der See jeden Tag, das Land vom Abfall zersplitterten Holzes, einzelner Schuhe und Anschwemmungen schmutzigen Papiers freizuspülen? Wir wissen, daß die Anziehung des Mondes die Gezeiten bewirkt. Aber welche Anweisung setzt den Mond in Bewegung? Und alle jene Himmelskörper, die sich von Universum zu Universum immer weiter in die Ferne ausbreiten? Welcher Weitblick überwacht in Wahrheit das Weltall? Wie oft haben wir eine Antwort gesucht auf die unergründliche Frage nach - dem ehrfurchtgebietenden Ursprung der Schöpfung.

Die Stille ist unermeßlich. Nichts regt sich. Dann ertönen im Herzen die Worte: "Am Anfang [schuf] Gott ..."

Dieser einleitende Satz der Genesis ist eine reine Behauptung und erklärt Gott als die Erste Ursache. Noch immer ist eine wachsende Zahl von Philosophen und Wissenschaftlern bereit, sie anzuerkennen (wobei diejenigen unter ihnen, die sich nicht an der Bibel orientieren, ähnliche Ausdrücke wie Intelligenz, das Absolute oder andere abstrakte Bezeichnungen vorziehen).

In Wirklichkeit sind wir mit der Tatsache konfrontiert, daß sich das Geheimnis des Lebens selbst weiterhin den angestrengtesten Forschungen entzieht, obwohl in Laboratorien beinahe magische Formeln zusammengestellt wurden, um die Bedingungen der menschlichen Existenz von ihrer Morgendämmerung bis zu ihrem Vergehen besser zu erschließen. Es will scheinen, als könne man die kosmische Essenz, die alles durchdringt, was je existierte, nicht in genauen wissenschaftlichen Ausdrücken begreiflich machen. Abermals behauptet ein Bibeltext: "Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist" (Johannesevangelium, I: 1-3).

Die Wissenschaftler stimmen heute darin überein, daß das Weltall in seiner grundlegenden Substanz eine Einheit ist und daß jegliche Form der Materie, die im Weltall vorkommt, nichts anderes ist als eine unterschiedliche Anordnung oder ein Aspekt derselben Elemente (Atome, in der wissenschaftlichen Ausdrucksweise), die von der ursprünglichen Lebenskraft mit Energie gespeist werden. Wieder fragen wir, was ist diese Lebenskraft? Es liegt auf der Hand, daß alles, was existiert, infolge seines Ursprungs miteinander verwandt ist. Individualität herrscht in jedem Naturreich in zahllosen Formen, im Mineral-, Pflanzen- und Tierreich. Dennoch liegt dieser Vielfalt die tiefere Realität einer einzigen Kette durch den Bereich der Schöpfung zugrunde. Individuelle Übereinstimmung ist wie ein Tropfen Wasser im Ozean des Ganzen.

"Alle Geschöpfe der Erde stammen aus einer gemeinsamen Quelle", schreibt I. M. Oderberg. "Die gleiche Lebenskraft, die ursprünglich durch Vulkane hervorbrach und sich zur materiellen Welt verdichtete, brachte uns alle hervor."1

Somit wissen wir, daß wir verwandt sind mit der Amöbe und der Lerche, mit dem Unkraut und dem riesigen Mammutbaum, mit der Erdscholle, dem Löwen, dem Regenbogen und dem Stern. Wir sind wahrhaft eins mit allem Sein.

Im erlöschenden Abendlicht denke ich nach über diese Einheit des Kosmos, einem majestätischen Universum, geschaffen aus ein und derselben Substanz durch eine geheimnisvolle Lebenskraft und gelenkt durch eine unfehlbare Direktive.

Meer und Himmel sind in der zunehmenden Dunkelheit miteinander verschmolzen. Der Raum verliert sich in Unermeßlichkeit. Und die Zeit wird eins mit der Unendlichkeit ... Klar erkenne ich von neuem die einzigartige Identität von Ewigkeit mit dem gegenwärtigen Augenblick. Es gibt kein abtrennbares Jetzt. Es ist ebenso ein Teil der endlosen Dauer, wie eine halbe Stunde ein Teil eines Tages ist. Diejenigen, welche das Leben als immer-während empfinden, wissen, daß sie selbst stets in der Ewigkeit sind, sei es innerhalb oder außerhalb der Inkarnation. Wir existieren in Ewigkeit. Unser Weg führt durch sie in ewiger Stetigkeit.

Es gibt scheinbare Unterbrechungen, wenn wir ihre niemals zu Ende gehenden Wege beschreiten, um in neue Lebensspannen einzutreten; denn das Leben ist die Schulungsperiode, die für unseren weiteren Fortschritt in der Evolution notwendig ist. Aber diese Unterbrechungen sind nur vorübergehende Stationen während unserer Pilgerfahrt auf dem Pfad. Es gibt viele Pausen, denn es müssen viele Leben gelebt werden, möglicherweise unzählige Aufeinanderfolgen von Leben, mit ihren Schulungen und läuternden Erfahrungen, bevor wir die Qualitäten erlangen, die uns zur letzten Erkenntnis des Ganzen führen.

Welche Leben das sind, die wir dazu antreten müssen, oder welche es waren, die wir hinter uns haben, ist nicht offenbar. Wenn wir uns auf unserem Planeten umsehen, so bemerken wir die große Zahl verschiedener Reiche, die, abgesehen von der gegenseitigen Abhängigkeit, voneinander getrennt sind. Der Ozean ist ein solches Reich, das bedeutend ausgedehnter als das unsere ist. Der Lebensraum der Vögel ist ganz anders als für andere Lebewesen; ebenso verhält es sich mit der Domäne der Geschöpfe, die in der Erde ihre Gänge graben. Eine unermeßliche Zahl solcher Domänen existiert im Bereich unserer derzeitigen Kenntnis. Welche Legionen solcher Domänen muß das Universum in seiner Unermeßlichkeit enthalten! Und welche unter ihnen werden innerhalb dieser Fülle und Komplexität unsere Welten werden?

Der Mensch verfügt über ein logisch denkendes Bewußtsein, das dasjenige seiner geringeren Bruderkreaturen überragt. Deshalb erwarten wir nicht, daß wir uns in irgendeinem zukünftigen Zustand auf einer niedrigeren evolutionären Entwicklungsstufe wiederfinden werden. Wenn wir es versäumt haben, aus den Chancen, die uns in einem Leben angeboten werden, Nutzen zu ziehen, oder wenn wir gegen seine natürlichen Gesetze verstoßen haben, werden wir unvermeidlich in der darauffolgenden Existenz weniger günstige Bedingungen in Kauf nehmen müssen. Wir werden in gleichwertige oder andersartige Lebenslagen, aber auf jeden Fall erneut in menschliches Leben zurückkehren. Aber wo wir auch hinkommen werden, es wird doch nicht in einem niedrigeren Zustand sein; denn der große Plan der Evolution ist nicht nach rückwärts, sondern nach vorwärts ausgerichtet.

Da die Zyklen fortschreiten, werden wir ohne jeden Zweifel Welten antreffen, die sich derart von derjenigen, die wir gegenwärtig bewohnen, unterscheiden, daß es unmöglich ist, sich deren äußere Erscheinung, Struktur oder Zusammensetzung vorzustellen oder gar zu erwarten, daß wir uns selbst dann so ähnlich sind wie heute. Vielleicht ist es möglich, daß auf Planeten und Sternen Wesen, die für unsere Astronauten unsichtbar sind, Systeme unter Bedingungen aufrechterhalten, die unsere menschlichen Augen und Sinne nicht wahrnehmen. Wäre es nicht möglich, daß gerade hier, in diesem Augenblick, in unserer Atmosphäre feinstoffliche Erscheinungen innerhalb ihres eigenen Gebietes einem für ihre Art spezifischen Plan folgen, obgleich wir von ihrer Existenz ebensowenig wissen, wie sie in bezug auf uns und unsere Region?

Diese Vermutung ist gar nicht so grotesk, aber ich kann sie nicht vom Standpunkt einer wissenschaftlichen Schulmeinung verteidigen, weil ich nur ein Amateurstudent des Universums bin. Aber falls sie sich bewahrheiten sollte, müssen wir annehmen, daß alle diese Manifestationen Einheiten aus der Familie des Schöpfers sind, welche Form oder welches Aussehen sie auch immer haben mögen und in welcher Region sie auch immer existieren und daß sie deshalb ganz entschieden unter der Obhut des Schöpfers stehen, so wie wir es in unserer vertrauten Welt auch sind.

Es gibt nichts Erschreckendes in der Verbindung mit dem Gedanken an vergangene Leben. Weshalb sollten wir dann die kommenden fürchten? Wenn wir den riesigen Plan des Kosmos wahrnehmen und die Lenkung durch den gütigen Geist, der die Himmelskörper hoch oben kontrolliert und dennoch sich herabneigt, um dem kleinsten Insekt seinen Platz im Gleichgewicht des Universums (wie uns die Wissenschaftler sagen) zuzuweisen, sollten wir da nicht überzeugt sein, daß uns derselbe Geist in jeder Phase unseres vorübergehenden Aufenthalts auf dem ewigen PFAD begleitet?

Die Sterne sind aufgegangen, denn ich verweilte lange. Sie ziehen in geordneter Prozession über das Firmament und lassen die himmlische Sphärenmusik zu Ehren der unermeßlichen Weiten der Schöpfung erklingen. Und in dem beseligenden Licht, das auf die Erde scheint, wende ich mich heimwärts, zuversichtlich und heiter.

Fußnoten

1. Sunrise, deutsche Ausgabe, Heft 5/1971, "Alles Leben hat einen gemeinsamen Ursprung". [back]