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Das unsichtbare Orchester der Natur

From The Caves and Jungles of Hindostan, Seite 280-288. Mit Erlaubnis abgedruckt.

 

 

 

Als der letzte goldene Strahl unterhalb des Horizonts verschwand, fiel schnell ein durchsichtiger blaßlila Nebel über die Landschaft. Das tropische Zwielicht wurde mit jedem Augenblick dunkler und verlor schnell jedoch gradweise seine weiche samtartige Färbung, wurde dunkler und dunkler, als würde ein unsichtbarer Maler eine Schattierung nach der anderen über die umgebenden Bäume und über das Wasser streichen und dabei ruhig, aber beständig seinen gigantischen Pinsel über dem wunderbaren Hintergrund unserer Insel bewegen ... Um uns begannen schwache phosphoreszierende Lichter aufzuflackern. Gegen die dunklen Stämme der Bäume und die stattlichen Bambusse erschienen sie hell. Sie verschwanden bald in dem silbrig perlmutternen Hintergrund des opalisierenden Abendhimmels ... Noch weitere zwei oder drei Minuten, und Tausende dieser feenähnlichen lebendigen Funken, dieser Herolde der Königin der Nacht, tanzten um uns, flammten auf und gingen wieder aus, sie ergossen sich wie ein feuriger Regen über die Bäume, wirbelten in der Luft umher, über dem Gras und über dem dunkler werdenden See ... Und nun, seht die Nacht selbst! Sich still auf die Erde herabsenkend, übernahm sie ihre souveräne Macht. Bei ihrer Annäherung beruhigte sich alles von selbst und fiel in Schlaf. Unter ihrem kühlen Atem erlöschte die ganze Lebhaftigkeit des Tages. Wie eine liebevolle Mutter sang sie der Natur ein Wiegenlied und hüllte sie in ihren weichen dunklen Mantel. Und nachdem sie die Welt in Schlummer eingelullt hatte, bewachte sie ihre ermüdeten und schlafenden Kräfte bis zum Anbruch der Morgendämmerung ...

Die ganze Natur schlief, der Mensch allein war wach in dieser feierlichen Abendstunde. Wir wollten noch nicht schlafen. Um das Feuer sitzend, sprachen wir fast im Flüsterton, als fürchteten wir die Natur aufzuwecken. Herr Y und Fräulein B hatten sich schon vorher zurückgezogen, und niemand hatte versucht sie davon abzuhalten. Aber wir sechs - der Oberst, vier Hindu und ich - lagerten bequem in dem fünfzehn Fuß hohen "Gras"; wir hatten nicht den Wunsch, diese herrliche Nacht im Schlaf zu versäumen. Außerdem warteten wir auf das "Konzert", das uns der Thâkur versprochen hatte.

"Habt Geduld", sagte er, "kurz vor Mondaufgang werden unsere Musiker erscheinen."

Der Mond ging spät auf. Es war fast zehn Uhr. Unmittelbar bevor er erschien, als das Wasser am entgegengesetzten Ufer des Sees glänzender wurde und der Horizont sich aufhellte und nach und nach eine silberne, milchige Tönung annahm, erhob sich plötzlich ein Wind. Die schlafenden Wellen regten sich wieder; sie plätscherten an den Füßen der Bambusse, deren riesige gefiederte Köpfe sich hin und her bewegten und miteinander tuschelten, als würden sie irgendwelche Anweisungen weitergeben ... Plötzlich hörten wir in der allgemeinen Stille wieder die gleichen seltsamen musikalischen Töne, die wir wahrgenommen hatten, als wir uns auf der Fähre der Insel näherten; es war, als würden rund um uns herum und selbst über uns unsichtbare Windinstrumente gestimmt, Saiten gezupft und Flöten geprobt. Nach etwa zwei Minuten fuhr ein neuer Windstoß durch die Bambuspalmen. Die ganze Insel widerhallte von den Klängen Hunderter von Äolsharfen ... Und dann brach plötzlich eine wilde, unheimliche, nicht endende Symphonie los!

Sie widerhallte in den uns umgebenden Bäumen und erfüllte die Luft mit einer unbeschreiblichen Melodie, die selbst unseren verwöhnten europäischen Geschmack bezauberte. Ihre gedehnten Sätze klangen traurig und feierlich. Jetzt klangen sie wie das fließende Tempo eines Trauermarsches. Dann wechselten sie plötzlich in einen vibrierenden Triller. Sie quollen hervor wie der Gesang der Nachtigall, summten wie die legendäre selbstspielende Zither1, um dann in einem langen Seufzer zu enden ... Zuweilen klangen die Melodien wie ein langgezogenes, herzzerreißendes, jämmerliches Heulen wie von einer Wölfin, der ihr Junges geraubt wurde. Manchmal klang es wie türkische Glocken in einer lustigen und schnellen Tarantella. Dann wieder hörte man einen Gesang wie von einer menschlichen Stimme oder den sanft fließenden Ton eines Violoncellos, der entweder mit einem Schluchzen oder mit einem unterdrückten Lachen endet ... Und das alles wurde von dem spöttischen Echo des Waldes in jeder Variation wiederholt, als wenn Hunderte sagenhafte Kobolde des Waldes in ihren grünen Laubhütten erwacht wären und auf die wilde musikalische Orgie antworteten.

Sprachlos vor Überraschung blickten der Oberst und ich einander an. Schließlich riefen wir fast gleichzeitig aus: "Wie wunderbar!" "Welche Zauberei!" Die Hindu lächelten und schwiegen. Der Thâkur rauchte seine gargarî so ruhig, als wäre er plötzlich taub geworden. Nach einer kurzen Weile, während der unser Gemüt unwillkürlich eine Frage formulierte, ob das vielleicht ein neues magisches Kunststück sei, setzte das unsichtbare Orchester wieder ein und schwoll mit noch größerer Hemmungslosigkeit an, uns für einen Augenblick fast betäubend. Der Ton strömte hervor und rollte durch die Luft gleich unsichtbaren Wogen, die unsere Aufmerksamkeit gefangen nahmen. Wir hatten nie etwas Ähnliches gehört - es war für uns ein unbegreifliches Wunder ... Hört: Wie ein Sturm auf hoher See pfeift der Wind durch das Takelwerk, es tost wie sich überstürzende toll gewordene Wogen! Oder es weht wie ein frischer Blizzard über die stillen Steppen ...

Es heult wie ein Tier,

Es schreit wie ein Säugling!2

Und jetzt sind es die feierlichen Klänge einer Orgel ... Ihre mächtigen Töne gehen ineinander über, verbreiten sich jetzt durch den ganzen Raum, brechen ab, vermischen sich und werden nun verworren wie die seltsame Melodie eines Fiebertraumes, wie eine musikalische Phantasie, die von dem im Freien heulenden und pfeifenden Wind erzeugt wird.

Aber einige Augenblicke später begannen diese zuerst so bezaubernden Töne wie Messer durch unsere Gehirne zu schneiden. Es schien uns, als wenn die Finger der unsichtbaren Künstler nicht mehr auf unsichtbaren Saiten spielten oder als ob sie in magische Trompeten bliesen, sondern als ob sie auf unseren Nerven spielten, unsere Sehnen anspannten und uns hinderten zu atmen ...

"Um Gottes Willen, laß das aufhören, Thâkur! Es genügt vollkommen!" ... rief der Oberst und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. "Gulâb-Singh, befiehl ihnen, damit aufzuhören!"

Bei diesen Worten lachten die drei Hindu laut, und selbst die sphinxgleichen Züge des Thâkur erhellten sich zu einem heiteren Lächeln ...

"Auf mein Wort", sagte er lachend, "Sie scheinen mich tatsächlich im Ernst wenn nicht für den großen Parabrahman, dann zumindest für eine Art Genie zu halten, für Marut, den Herrn der Winde und der Elemente. Sie glauben, es liege in meiner Macht, den Wind aufzuhalten oder augenblicklich diesen ganzen Bambuswald auszureißen? Ersuchen Sie mich um etwas Leichteres! ..."

"Was meinen Sie mit Aufhalten des Windes? Und mit dem Bambuswald? Hören wir das nicht alles unter einer Art psychologischem Einfluß?"

"Ihre Psychologie und Ihre Elektrobiologie werden bald in Unordnung geraten, mein lieber Oberst. Hier ist keine Psychologie irgendwelcher Art im Spiel, lediglich ein akustisches Naturgesetz ... Jeder dieser Bambusse, die uns umgeben - und es gibt Tausende von ihnen auf dieser Insel -, enthält ein natürliches Musikinstrument, auf dem der Wind, der universale Künstler, nach Sonnenuntergang seine Kunst probt, und zwar besonders im letzten Viertel des Mondes."

"Hm, der Wind! ...", murmelte unser etwas verlegener Präsident. "Aber es wird ein furchtbares Getöse ... nicht gerade angenehm ... Kann man da nichts dagegen machen?"

"Ich wüßte wirklich nicht ... Aber es geht ganz in Ordnung, in fünf Minuten werden Sie sich daran gewöhnt haben, und Sie werden sich in den Pausen erholen, wenn der Wind nachläßt ..."

Es wurde uns gesagt, daß es in Indien viele solche natürliche Orchester gibt. Sie sind den Brahmanen gut bekannt, die diesen Wind vînâ-devas (die Laute der Götter) nennen und aus dem Volks-Aberglauben Nutzen ziehen, indem sie sagen, die Töne seien göttliche Orakel. Die Fakire der Idole anbetenden Sekten haben zu dieser Besonderheit der Schilfrohre3 noch ihre eigene Kunst hinzugefügt, und aus diesem Grunde gilt die Insel, auf der wir uns befanden, als besonders heilig.

"Morgen vormittag", sagte der Thâkur, "werde ich Ihnen zeigen, mit welch großer Kenntnis der Gesetze der Akustik die Fakire Löcher in verschiedenen Größen in diese Rohre bohrten. Sie vergrößern die von den Käfern an irgendeiner Stelle des Stammes gebohrten Löcher entsprechend der Größe des Stammes und geben ihnen entweder runde oder ovale Formen. Diese Vervollkommnung eines Naturinstrumentes kann mit Recht als das ausgezeichnetste Beispiel der Anwendung von Mechanik auf Akustik angesehen werden. Das ist indessen nicht zu verwundern. Unsere ältesten Sanskritwerke über Musik beschreiben diese Gesetze ganz genau und erwähnen viele Musikinstrumente, die nicht nur vergessen, sondern heute vollkommen unbekannt sind ... Und wenn diese zu innige Nachbarschaft der singenden Rohre Ihre empfindlichen Ohren stört, werde ich Sie zu einer Wiese nahe am Ufer führen, etwas von unserem Orchester entfernter. Der Wind hört nach Mitternacht auf, und Sie können ungestört schlafen. In der Zwischenzeit wollen wir hingehen und zusehen, wie die "heiligen Freudenfeuer" angezündet werden. Sobald die Leute in der Nachbarschaft die entfernten Stimmen der 'Götter' in den Rohren hören, versammeln sich ganze Dörfer am Ufer, zünden Feuer an und verrichten eine 'pûja' (Anbetung der Insel)."

 

Wir gelangten zu einer kleinen Lichtung in der Nähe des Sees, etwa zwei- oder dreihundert Fuß vom Bambuswald entfernt. Wir saßen windwärts des Röhrichts. Die Töne des magischen Orchesters erreichten uns nun nur dann und wann und nur gedämpft. Es klang wie ein harmonisches Flüstern und erinnerte an die friedlichen Klänge einer Äolsharfe. Die Töne hatten nichts Mißtönendes oder Unangenehmes mehr an sich. Im Gegenteil, sie vermehrten nur die poetische Schönheit dieser farbenfreudigen Szenerie.

Wir saßen auf den Teppichen, die ausgebreitet worden waren, und da ich mich seit morgens vier Uhr auf den Füßen befand, war ich richtig müde. Die Männer fuhren fort, über den Swâmi und über die "pûja" zu sprechen, aber bald war ich, wie gewöhnlich, in Gedanken versunken, so daß ich nur Bruchstücke der Unterhaltung auffing ...

"Wach auf! ...", sagte der Oberst und gab mir einen sanften Stoß. "Der Thâkur sagt, du sollst nicht im Mondlicht schlafen ..."

Ich schlief nicht, ich habe einfach nachgedacht, aber ich war wie betrunken. Ich habe wohl kaum geantwortet, so schlaftrunken kann man unter einem solch wunderbaren Himmel werden ...

"Um Himmels willen wach auf!" fuhr der Oberst fort. "Sieh nur diesen Mond ... und die Landschaft um uns. Hast du je etwas Wunderbareres gesehen als dieses Panorama? Schau ..."

Ich schaute, und der vertraute Vers von Puschkin "jetzt ist der goldene Mond aufgegangen ..." fiel mir ein. Und es war wirklich ein "goldener Mond". Er schüttete in diesem Augenblick eine goldene Lichterflut aus, ließ sie auf den ruhelosen See zu unseren Füßen herunterströmen und versprühte goldenen Staub auf jeden Grashalm, jeden Kiesel, auf alles um uns herum und in die entlegene Ferne. Sein silbern-gelber Globus glitt schnell aufwärts in den dunkelblauen Himmel, der mit Myriaden leuchtender Sterne überstreut war, die über unseren Köpfen schienen. Wie viele monderleuchtete Nächte man in Indien auch erleben mag, jedesmal wird man neue und unerwartete Eindrücke erleben ... Solche Anblicke können nicht beschrieben werden; sie können weder auf der Leinwand noch mit Worten lebendig dargestellt werden, sie können nur empfunden werden. Welch unaussprechliche Erhabenheit und Schönheit!

Fußnoten

1. H. P. B. benützt hier den unübersetzbaren russischen Ausdruck "gusli-samogudi", eine Zusammensetzung, die sich auf eine legendäre Zither, Zimbel oder ein Hackbrett bezieht, die oder das der russischen Folklore entsprechend spielt, ohne von jemandem berührt zu werden. - Der Bearbeiter. [back]

2. Aus einem Gedicht von Alexander S. Puschkin, betitelt Winterabend, geschrieben 1825. - Der Bearbeiter. [back]

3. Die verschiedenen Bambusse werden beständig von einem gewissen kleinen Käfer befallen, der schnell große Löcher in den hohlen Stamm des Rohres bohrt, und in diesen Löchern fängt sich der Wind. - H. P. B. [back]