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Die frühen Christen und ihre Lehrer

Von den größeren Religionslehren, die heute im Westen am wenigsten verstanden werden, stehen die des Christentums an erster Stelle. Das mag radikal klingen, doch wenn man etwas darüber nachdenkt, so ist es einleuchtend. Die christliche Religion ist in einem Netz von Ritual, Dogma und viel zu wenig verstandenen Wahrheiten gefangen. Die Erhabenheit und Reinheit ihrer Lehren sind nur noch ein schwacher Schimmer dessen, was sie einmal waren, so wie manche alte Fresken, die in ihren Schreinen aufbewahrt wurden.

In der christlichen Welt sind die vier Evangelien des Neuen Testaments die am meisten gelesenen Bücher der Bibel. Nur wenige kennen jedoch die übrigen Evangelien, die apokryph genannt werden, und noch wenigere haben sie gelesen. Apokryph ist von dem Zeitwort crypto abgeleitet und heißt "verbergen", woraus ersichtlich ist, daß es einfach eine Bezeichnung für ein geheimes Buch ist, das zu den Tempelbibliotheken gehörte, die sich oft in unterirdischen Räumen oder Krypten unter der Obhut von Hierophanten oder eingeweihten Priestern befanden. Dennoch können wir entweder durch ganze oder in Bruchteilen vorhandene Texte oder durch Hinweise von den ersten Kirchenvätern uns gut vorstellen, was sie bedeuten und welche Schätze der Weisheit sie enthalten.

Zu den bedeutendsten Themen, mit denen sich die Apokryphen des Neuen Testaments befassen, gehört die wahre Natur von Jesus, ein Thema, von dem die meisten Christen heute meinen, es sei abgeschlossen. Jedoch durch die weisen Aussprüche und die Lehren der Indianer, der Buddhisten, der Hindu und anderer, die jetzt überall gedruckt erscheinen, wird es für viele Menschen immer schwieriger zu glauben, daß Jesus buchstäblich der einzige Sohn Gottes war. Um das, was er wirklich war, klarer erkennen zu können, müssen wir erst den Zweck der Evangelien und die Inkarnation des Christos in Verbindung mit dem Begriff der Hindu vom Avatâra verstehen.

Ich muß vorausschicken, daß die Zeiten, in denen die allgemein bekannten Evangelien verbreitet wurden, unserer Zeit irgendwie ähnlich waren. Es gab eine revolutionäre Unterströmung, die nicht so sehr politisch war, sondern mehr in den Herzen und Gemütern der Menschen vor sich ging. 'Religiöse' Gruppen bildeten sich überall, und jede hatte ihren 'Messias' für das kommende neue Zeitalter. Diese Aktivität kam daher, weil es bei den Regelungen der Staatsangelegenheiten an charismatischer Führerschaft mangelte, aber, was noch mehr Bedeutung hatte, es war eine Reaktion auf einen lähmenden Buchstabenglauben. Das traf besonders auf den jüdischen Glauben zu, der die Lehren dem Buchstaben nach bewahrt hatte, deren lebendiger Geist aber größtenteils verlorengegangen war. Auch Gott war personifiziert und das Göttliche jeglichen metaphysischen Aspektes beraubt worden. Eine solche Veränderung der Maßstäbe ist unvermeidlich, wenn spirituelle Ideen zu einem starren, doktrinären Gebilde kristallisieren.

Unter solchen Umständen entstanden die Evangelien. Dabei ist zu beachten, daß bereits von "öffentlich verbreiteten Evangelien" gesprochen wurde, denn es gab tatsächlich Evangelien für die Allgemeinheit und Evangelien für die wenigen. Die Schreiber der allgemein bekannten Evangelien, die das, was sie verstanden, "übereinstimmend mit" jemand anderem schrieben, balancierten selbst wie Seiltänzer. An dem einen Ende des Seiles mußten sie mit zwei gegnerischen Dingen kämpfen: dem römischen Staat, der damals das Land besetzt hielt und auf alles sehr empfindlich reagierte, was die Bevölkerung in geistig-religiöser Hinsicht hätte einigen können, und dem organisierten jüdischen Glauben, der alles unterdrückte, was das Fundament seiner Macht bedrohte. Am anderen Ende (des Seiles) war unter einer wachsenden Anzahl der unwiderstehliche Drang, einen Ruf an die Menschenseelen ergehen zu lassen, sich zu befreien, um wieder einmal die alte Weisheitsreligion aller Zeiten vernehmen zu können. Dieser Ruf galt auch jenen, die diese Lehren bereits kannten, denn sie sollten sich ihren Bemühungen anschließen. Die Schwierigkeit bestand darin, die Botschaft jenen zugänglich zu machen, die imstande waren, sie zu verstehen, ohne gleichzeitig den Staat oder die Kirche zu beunruhigen. Dazu dienten die Evangelien "übereinstimmend mit" Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Es gab jedoch noch andere Evangelien, nämlich diejenigen, die entweder von den Originaltexten der christlichen Weisheit, die sorgfältig behütet wurden, inspiriert oder danach zusammengestellt worden waren. Beispiele für diese frühe Weisheit sind in den apokryphischen Evangelien oder in vereinzelten Hinweisen auf diese Lehren in den Schriften der Kirchenväter zu finden.

Wenn wir das Leben Jesu verstehen wollen, was er tatsächlich war und welche mächtige Kraft durch ihn wirkte, müssen wir das Geheimnis des Avatâra verstehen. Das Wort ist von ava abgeleitet, was "hinab" bedeutet, und trî, "hinübergehen" oder "hindurchschreiten"; daher bedeutet ava-trî "hinuntergehen" oder "herabsteigen". Die spirituelle Bedeutung liegt im Herabkommen einer Gottheit in ein menschliches Vehikel. Zu einem Avatâra gehört das Opfer von mehreren Wesenheiten; in Wirklichkeit erfordert er das Opfer von drei erhabenen Wesen. Zuerst wird ein menschlicher Körper als Träger benötigt; es genügt nicht irgendeiner, sondern es muß ein Körper von großer Reinheit sein. Die zweite Wesenheit gibt ihre Seele als Bindeglied zwischen dem physischen Körper und dem göttlichen Einfluß, der später hinzukommt. Im Falle von Jesus war diese Zwischenseele von höchst erhabener Art. Sie war von einem der Höchstentwickelten der Menschheit entliehen. Nur jemand, der unendliche Weisheit und unermeßliches Erbarmen besaß, konnte seine Seele als Mittel für einen Christus zur Verfügung stellen. Zuletzt, wenn Körper und Seele bereit sind, erfolgt das Herabkommen der Gottheit, um dieses zusammengesetzte Wesen, Avatâra genannt, zu vervollständigen. Es ist die Gottheit, die sich als Christus manifestierte, der Urquell der Lehren für dieses Zeitalter.

Nach dieser kurzen Einführung in einen sehr komplizierten Vorgang können wir nun zur Prüfung einiger Fragmente der apokryphischen Evangelien schreiten, auf die sich verschiedene Kirchenväter beziehen. Das erste und zweckdienlichste stammt von Epiphanius, der während des vierten Jahrhunderts Bischof von Konstantia auf Cypern war. Im "Evangelium der Ebioniter" erklärt er, daß er von einer hebräischen Version des Johannes und der Apostelgeschichte gehört habe, "die geheim in den Schatzkammern von Tiberias aufbewahrt werde." Sich darauf beziehend, erklärt er:

Und darum sagen sie, daß Jesus aus dem Samen eines Menschen gezeugt und auserwählt worden sei; und so wurde er durch die Wahl Gottes der Sohn Gottes genannt, wegen dem Christus, der in der Gestalt einer Taube, von oben in ihn eintrat. Und sie leugnen, daß er von Gott dem Vater erzeugt wurde; sie sagen vielmehr, daß er als einer der Erzengel, nur größer, erschaffen wurde und daß er der Herr der Engel und aller Dinge ist, die durch den Allmächtigen geschaffen wurden.

- Das Apokryphische Neue Testament (englische Übersetzung von M. R. James), S. 10

Selbst wenn dies das einzige Beispiel frühen christlichen Denkens solcher Art wäre, so müßte ihm ernste Bedeutung beigemessen werden, weil es mit den avatarischen Inkarnationen des alten Indien, wie Râma und Krishna, bemerkenswert übereinstimmt. Diese Lehre verbindet Jesus mit einer Reihe von Gott-Menschen, die von Zeitalter zu Zeitalter erschienen, um erneut die esoterische Weisheit zu verkünden - einer Reihe von Lehrern, die, wie die Überlieferung versichert, weitergeführt wird, bis wir uns alle ebensoweit entwickelt haben und wie sie geworden sind. Auch die Quelle dieser Dokumente ist von Bedeutung; Epiphanius sagt von ihnen, sie seien in Tiberias geheimgehalten worden. Das allein schon dürfte ein Hinweis auf ihre Wichtigkeit sein. Außerdem finden wir, daß Irenäus, der ebenfalls einer der ersten Kirchenväter war, schon zweihundert Jahre früher Beispiele aus der gleichen christlichen Lehre anführte. Er spricht von den ketzerischen Ansichten des Karpokrates und seiner Anhänger und schreibt:

Sie behaupten auch, daß Jesus der Sohn von Joseph und genauso wie andere Menschen war. Er unterschied sich von diesen nur insofern, als seine Seele standhaft und rein war und er sich vollständig an jene Dinge erinnerte, die er innerhalb der Sphäre des aus sich selbst seienden Gottes wahrgenommen hatte. Aus diesem Grunde stieg eine Kraft von dem Vater auf ihn hernieder...

- Irenäus gegen Ketzereien, I. XXV1

Diese Beschreibung ist bemerkenswert klar, was das dreifache Wesen der Avatâra-Zusammensetzung anbetrifft - d. h. des Körpers, der aus einem menschlichen Samen hervorging, der ganz besonderen Seele als Zwischennatur und der herabgestiegenen Gottheit. Später spricht Irenäus gegen die Lehren von Cerinthus, "ein Mann, der in der Weisheit der Ägypter unterrichtet war" und Führer einer jüdischen Sekte gewesen ist. Er sagt von ihm:

Er sagte über Jesus, daß er nicht von einer Jungfrau geboren worden sei, sondern daß er durch natürliche menschliche Zeugung der Sohn von Joseph und Maria gewesen ist. Dessenungeachtet war er gerechter, klüger und weiser als andere Menschen. Außerdem kam nach seiner Taufe vom höchsten Herrscher der Christus in der Gestalt einer Taube auf ihn herab, und von da an verkündete er den unbekannten Vater und wirkte Wunder.

- Ebenda, I. XXVI

Hier haben wir die Anerkennung Jesu als ein Avatâra oder als "göttliche Inkarnation", ein Begriff, der offensichtlich in jenen frühen Jahrhunderten sehr verbreitet war. Als jedoch die sich neu bildende Kirche begann ihre Macht zu behaupten, vernichtete sie alle Sekten, die andere Ansichten vertraten als sie. Noch wichtiger ist die Tatsache, daß die so wohlbehüteten heiligen Lehren in anderen Überlieferungen, die noch älter sind, weiterhin das wahre Wesen von Jesus verkünden.

Wir könnten wohl die Frage stellen: "Wozu erforschen wir dieses Quellenmaterial? Nur um eine flüchtige Neugier zu befriedigen?" Vor allem erfahren wir dadurch, daß das Christentum nicht immer ein und dieselbe Form hatte. Die ersten Anhänger von Jesus hatten viele Standpunkte. Ihre Unterscheidungen bezogen sich weniger auf das Dogma und das Ritual, sondern vielmehr auf die bedeutenden charakteristischen Merkmale von Jesus und auf die Erhabenheit seiner Botschaft. Dies ist bei vielen die Hauptsorge in ihrem höhergeistigen Streben, denn in der christlichen Seele ist die Furcht fest verankert, daß man nicht in den Himmel kommt, wenn man nicht an Jesus glaubt. Doch wenn wir uns Jesus so vorstellen, wie es offenbar viele frühe Christen taten, als die Verkörperung einer göttlichen Energie in einer erhabenen menschlichen Seele, und ihn nicht als ein einmaliges Ereignis betrachten, sondern als etwas, das in heiligen Zeitabständen stattfand, um die Welt zu erleuchten, dann sind wir frei. Im Geiste dieser Freiheit können wir die eine universale Lehre finden, die von vielen Avatâras verkündet wurde, die alle kamen, um für ihre Zeit in einer neuen Weise die gleichen Wahrheiten zu verkünden. Wenn wir das tun, werden wir unsere besondere Form der Verehrung nicht zerstören, sondern sie vielmehr bereichern, indem wir entdecken, wie eine gewaltige und überzeugende Wahrheit sich unter den Menschen aller Zeiten unaufhörlich verbreitet.

Fußnoten

1. The Ante-Nicene Fathers (Die vornizäischen Väter) I. 350, 352. [back]