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Zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch

Irgendwann vor vier- oder fünftausend Jahren, lange bevor Homer seine Iliade und seine Odyssee schuf, sangen unbekannte Dichter im Land der Sumerer von den Heldentaten Gilgameschs, der sich auf der Suche nach ewigem Leben in die Unterwelten wagte. Im Gilgamesch-Epos, das in Keilschrift auf Tafeln sumerischen, hethitischen, babylonischen und assyrischen Ursprungs aufgezeichnet ist, finden wir eine Initiationsgeschichte, die direkt zu uns spricht. Nicht, weil Gilgamesch ein Kandidat für die Initiation ist, sondern weil er eine sehr menschliche Person ist, die wie wir Krankheit und Tod ausgesetzt ist, aber nach ewigem Leben strebt.

"Was Tod und Leben anbelangt, das will ich erfragen!" So nimmt Gilgamesch die alte Frage nach der Erkenntnis über das Leben auf, indem er nach der Bedeutung des Todes forscht. Gilgamesch ist König von Uruk, und in seiner jugendlichen Stärke, "wie ein wilder Ochse", lief er Amok. Die Götter, die den dringenden Bitten seiner Untertanen Aufmerksamkeit schenkten, schickten ihm einen Begleiter, der ihm Freund sein und ihn schützen soll. Gilgamesch träumt von einer Sternschnuppe, und seine Mutter, die "alles wußte", deutete daraus, daß Enkidu komme, der sein Hüter und Freund sein wird. Enkidu, der erst vor kurzem aus einem Tier zum Menschen geworden war, ist sehr ergeben, besitzt Intuition und ist noch unverdorben. Fast unmittelbar sind beide jedoch in einen Kampf verwickelt, bis der überwundene Enkidu Gilgamesch Treue gelobt. Ihre Augen begegnen sich, und sie erkennen sich gegenseitig als Brüder. Gilgamesch hat weitere Träume, und seine Mutter drängt ihn und Enkidu, den unheimlichen Zedernwald zu durchdringen und den Riesen Huwawa zu erschlagen. Gilgamesch ist begierig auf dieses Abenteuer. Er ist furchtlos und möchte sich einen Namen machen, auch wenn es sein Tod sein sollte. Enkidu spürt jedoch die Gefahr. Auch er hat seltsame Träume, aber die beiden machen sich auf den Weg, und nachdem sie sieben Berge überschritten und sieben Zedern gefällt hatten, erschlagen sie den "sieben Mal schrecklichen" Huwawa. Beglückt kehren sie nach Uruk zurück.

An diesem Punkt verliebt sich Ischtar, die Göttin der Liebe und des Krieges, in Gilgamesch, aber er will nichts von ihr wissen. Sie ist wütend, und fleht ihren Vater, den Gott Anu, an, den Himmelsstier zu veranlassen, diese beiden zu vernichten. Mit Enkidus Unterstützung siegt Gilgamesch jedoch. Allein dies verstärkt wiederum Ischtars Zorn, und ihr Fluch veranlaßt Enkidu, die Göttin zu beschimpfen. In der Nacht hat Enkidu einen eigenartigen Traum: die Götter verfügen in ihrem Ratschluß, daß einer von ihnen sterben muß, doch es kann nicht Gilgamesch sein. Beide sind niedergeschlagen. Enkidu wird krank, und ist nach zwölf Tagen tot. Gilgamesch wacht voller Gram sieben Tage und Nächte bei seinem Freund, in der Hoffnung, daß dieser aus dem "Schlaf", der ihn gefangen hält, erwacht. Warum, oh warum gibt es den Tod? Warum müssen Freunde getrennt werden? Seine Wehklage ist eines der großen poetischen Heldengedichte aller Zeiten. Allmählich akzeptiert Gilgamesch die Tatsache des Todes und beginnt seine Reise zu Utnapischtim, dem Urgroßvater, um als Lohn die Unsterblichkeit für sich zu erlangen und auch die Macht, seinem Freund das Leben wieder zu erneuern.

Er muß in der Wildnis und in der Steppe fürchterliche Beschwernisse durchmachen und gelangt schließlich zu Mâschu, dem Gebirge, das von der "Himmelswand" bis in die Unterwelt reicht und den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang bewacht. Am Eingang stoppt der Skorpionmann Gilgamesch: niemand außer der Vorbereitete kann in die "zwölf Meilen Gründe der Finsternis eintreten, wo es kein Licht gibt." Doch seine Frau vermittelt: Dieser Jüngling ist kein gewöhnlicher Sterblicher - "zwei Drittel von ihm sind Gott, ein Drittel von ihm ist Mensch." Gilgamesch darf durch eine Öffnung im Gebirge in die Laufbahn der Sonne eintreten. Die Schrecken der immerwährenden Nacht sind überwunden, und er steigt empor, um Schamasch, die Sonne in ihrem vollen Glanz zu finden. Doch wiederum wird ein Versuch unternommen, um Gilgamesch von seinem Vorhaben abzubringen: "Du wirst niemals das Leben finden, das Du suchst." Er aber will nicht aufgehalten werden, und nachdem er die Einzelheiten der Unbilden seiner Reise berichtet hat, richtet er folgende Bitte an Schamasch, den Tapferen:

Muß ich meinen Kopf ins Herz der Erde legen,

Damit ich die ganzen Jahre über schlafen kann?

Laß meine Augen die Sonne schauen,

Damit ich mich mit Licht sättigen kann!

Die Dunkelheit schwindet, wenn genügend Licht da ist.

Möge der, der einen Tod gestorben ist,

Die Strahlen der Sonne erblicken!

Nicht einmal der Sonnengott könnte jemanden, der von inbrünstigem Suchen erfüllt ist, zurückhalten. Gilgamesch wandert weiter, und macht nur Halt in der Nähe des Sees, wo Siduri, die Weinausschenkerin, lebt. Vor ihr wiederholt er noch einmal seine traurige Geschichte. Sie sieht seine Seelenqual und drängt ihn, dahin zurückzukehren, von wo er kam, denn "das Leben, nach dem Du suchst, wirst Du nicht finden." Sie erzählt ihm von den Wassern des Todes, die niemand außer Schamasch überqueren kann. Doch wenn er darauf beharrt, dann soll er nach Urschanabi, dem Fährmann Utnapischtims Ausschau halten, der, wenn es möglich ist, ihn hinüber bringen wird; wenn nicht, dann sollte er nach Hause zurückkehren und sein ihm bestimmtes Leben zu Ende leben.

Ärgerlich und frustriert durch die fortwährenden Warnungen nimmt Gilgamesch seine Axt und zerstört die Takelage des Bootes und auch die "heiligen Steine", die ihn vor den Wassern des Todes geschützt haben würden. Auch der Fährmann wird durch das Schicksal des Fremden bewegt und beschließt, ihm zu helfen. Er weist ihn an, 120 Stangen zu schneiden und jede Stange nach einmaligem Gebrauch wegzuwerfen, denn seine Hand dürfe das Tod bringende Wasser nicht berühren. Dann staken sie über zu der Insel, wo Utnapischtim lebt.

So bruchstückhaft dieses Gedicht auch ist, zusammengestückelt aus den verschiedenen erhalten gebliebenen Versionen, so drückt es doch sogar in der Übersetzung eine gewisse Magie aus. Die Antworten Utnapischtims, dem Weitentrückten, enthalten Stellen von seltener Schönheit und Kraft.

Alles ist vergänglich; weil Zeit jenseits von Erkenntnis keine Beständigkeit hat: "der Schlaf und der Tod, wie gleichen sie sich doch ... der Gemeine und der Edle, irgendwann erreicht sie ihr Schicksal." Gilgamesch wundert sich, daß Utnapischtim ein Mensch wie er zu sein scheint, doch er ist hier in der Gemeinschaft der Götter und hat das Geschenk des ewigen Lebens empfangen. Wie kann das sein? Utnapischtim (der Vorläufer Noahs) erzählt dann die Geschichte von der großen Flut, die Schurrupak überschwemmte, was die Götter beschlossen hatten, weil die Menschheit gefehlt hatte und vernichtet werden mußte. In einem Traum oder durch andere Mittel hatten sie ihm geraten "die Besitztümer aufzugeben und das Leben zu retten." Die Balken seines Hauses sollte er verwenden, um ein Boot zu bauen und darin den "Samen aller lebenden Geschöpfe" sicherstellen. Der aufkommende Sturm wütete mit solcher Heftigkeit, daß sogar die Götter des höchsten Himmels und die Richter der Unterwelt vor Mitleid weinten. Auf diese Weise wurden Utnapischtim und sein Weib, weil sie ihre Mission, die Lebenssamen für die Nachwelt zu bewahren, erfüllt hatten, und den Göttern gefällig und treu geblieben waren, wie diese.

Utnapischtim sieht Gilgamesch fest an und beschließt, ihm dieselbe Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen, die sie erhalten hatten, zu beschaffen, vorausgesetzt, daß er für sechs Tage und sieben Nächte auf seinem Posten und wach bleiben kann. Doch noch während Utnapischtim spricht, überfällt seinen Gast der Schlaf wie ein "feiner Schleier". Gilgamesch schläft, bis er am Morgen des siebten Tages wieder erwacht. Er hat die Probe nicht bestanden. Hoffnungslosigkeit erfüllt seine Seele: wo immer er auch hingeht, da ist der Tod. "Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen?"

Utnapischtim bittet den Fährmann, diesen Menschen - der zwar zum Teil schon ein Gott sein mag, aber immer noch ein Mensch ist - in seine Obhut zu nehmen und ihm zu erlauben, sich in dem klaren, fließenden Wasser zu reinigen und zu erfrischen. Er solle ihm neue Kleidung geben, an der bis zu seiner Rückkehr nach Uruk keine Anzeichen von Abnutzung zu sehen sein würden. Nachdem dies ausgeführt ist, besteigen Urschanabi und Gilgamesch das Boot. Gerade als sie dabei sind, die Segel zu setzen, wendet sich Utnapischtims Frau an ihren Mann und bittet ihn, den jungen Mann nicht gehen zu lassen, ohne ihm etwas zu geben, das er in seine Heimat mitnehmen kann. Utnapischtim bietet Gilgamesch etwas "Geheimnisvolles" an, eine Pflanze, die wie die Dornen einer Rose sticht. Wenn er diese ergreifen und festhalten kann, dann wird er das Leben, das er sucht, erlangen. Gilgamesch freut sich. Er bindet sich schwere Steine um seine Füße und springt in das tiefe Wasser, wo die Pflanze wächst, packt sie und bringt sie an Land. Überglücklich machen er und der Bootsmann sich auf die Rückreise.

Eines Abends, als sie an einer Quelle rasten, kann Gilgamesch nicht widerstehen, in dem kühlenden Wasser zu baden. Eine Schlange, die träge auf dem Grunde liegt, riecht den Duft der Pflanze und taucht unbeobachtet auf, frißt sie, verjüngt sich und läßt ihre abgeworfene Haut zurück. Der so hart errungene Preis ist verloren! Unser Held weint, seine Niedergeschlagenheit ist vollständig: "Für wen habe ich mich geplagt? Für wen habe ich mein Herzblut gegeben?" Nur für eine Schlange; einem Erdenlöwen verschaffte er die Gabe des ewigen Lebens!

Die Tafel bricht hier ab mit der Ankunft in Uruk, und nur mit einem flüchtigen Hinweis auf Gilgamesch, den König, der weise war und "alles sah", und der in Stein den Bericht von der Großen Flut und alles, was er auf seiner langen, langen Reise auf der Suche nach dem unsterblichen Leben erfahren hatte, einprägte.

Andeutungen auf eine Weisheit, die seit uralter Zeit zum Allerheiligsten gehört, ziehen sich durch das Epos: die enge Verbindung zwischen Göttern und Menschen, gepaart mit verheißungsvollen und visionären Träumen; die wiederholten Warnungen und Anstrengungen, um den jungen Mann davon abzuhalten, seine Fähigkeiten bei seinem Wagnis zu überschätzen - nur die Sonne allein kann die Wasser des Todes sicher überqueren, jeder andere würde sterben; die wiederholten Hinweise auf die Zahlen sieben und zwölf, die offensichtliche Kenntnis von himmlischen Dingen - in den "zwölf Meilen" beim Umlauf der Sonne, die von Skorpio(n) geschützt werden. Und liegt etwa kein Sinn in der mitleidsvollen Einmischung der Frauen (des Skorpionmenschen und von Utnapischtim), die das Schicksal zugunsten des jungen Mannes wendeten? Was die Schlange oder "den Weisen" anbetrifft, nur einer wie er konnte die "Pflanze" der Unsterblichkeit mit Recht beanspruchen. Schließlich, auch wenn es einleuchtet, daß Gilgamesch noch nicht für die höchste Prüfung bereit ist, durfte er doch "versuchen", weil er unablässig danach fragte. Und, obwohl er erfolglos war, erwarb er den Schutz der Götter und konnte sicher heimkehren, wo er seine Bestimmung erfüllen und mit Gerechtigkeit und Güte bis zu seinem Tod im Alter von 120 Jahren regieren konnte.

 

Und wir heute? Was kann es uns helfen, wenn wir von den alten Helden lesen, wenn wir die Lehren über die Zustände nach dem Tod studieren? Wie kann es helfen, jetzt zu leben und den Trennungen und dem Tod, die unser Leben kreuzen, verständnisvoll zu begegnen? Wie Gilgamesch sind auch wir teils Gott, teils Mensch, und es ist wahre Menschlichkeit, die unser Herz bewegt und unseren Mut stärkt. Wenn es Fehlschläge gab, so war es nur, weil er noch mehr zu lernen und zu meistern hatte. Ist es nicht ein Sieg, wenn er aus Liebe zu seinem Freund das Unmögliche gewagt hatte, auch wenn er nicht genügend wach war, um die "Unsterblichkeit" festzuhalten, die er scheinbar erlangt hatte? Alles was er verstehen konnte, hat er behalten. Geläutert und geschult kehrte er nach Uruk zurück.

Die Keilschrift-Aufzeichnung ist unvollständig, aber wir würden uns wundern, wenn sie nicht gerade dort endet, wo sie soll, damit künftige Generationen sich besser mit ihr identifizieren können. Wir leben in einer ganz anderen Zeit und unter ganz anderen Umständen als jenen, denen Gilgamesch gegenüberstand, aber wir besitzen dieselben Eigenschaften, Edles und Unedles. Leid und Freude, Fehlschlag und Triumph sind stets das Los der Menschen, aber auch das Streben nach Wahrheit und Weisheit.

 

 

Bibliographie:

Eliade, Mircea: Death, Afterlife, and Eschatology, Harper & Row, 1967.

Heidel, Alexander: The Gilgamesh Epic and Old Testament Parallels, U. of Chicago, 1949.

Kramer, S. M.: Sumerian Mythology, U. of Pennsylvania, 1972.

Sandars, N. K.: The Epic of Gilgamesh, Penguin Classics, 1972.

Speiser, E. A.: Ancient Near Eastern Texts, U. of Princeton, 1950.