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Jahreszeiten der Seele

Der vergangene Winter war ungewöhnlich hart, sogar für jemanden wie mich, der sechsundachtzig solche Winter bereits erlebt hat. Wie viele andere in meinem Alter konnte auch ich kaum die Nase aus der Türe stecken. Ein eiskalter Tag nach dem anderen verging, und der Schnee häufte sich in Schneewehen sechs bis zehn Fuß hoch. Es schien fast unmöglich, daß Vögel und kleine Tiere, ja sogar Samen, Knollen und Sträucher eine derartig kalte Zeit überstehen konnten. Als jedoch die Sonne ihre Reise nach Norden begann und bei ihrem Höhersteigen in den Himmel den Schnee schmolz, da hoben die tapferen kleinen Schneeglöckchen den Kopf, sogar noch bevor der Schnee ganz geschmolzen war. Ihnen folgten die gelben Blüten des Winterlings, und die vielfarbigen Krokusse lockten die ersten Bienen zum Honigsammeln. In unseren Herzen regte sich tiefe Freude darüber, daß die Natur wieder einen Winter überstanden hatte und der Frühling eines neuen Jahres sich näherte.

Ich verspürte wieder einmal das Wunder der Lebenserneuerung aus ihrer tiefsten Stufe im Kreislauf der Jahreszeiten, und meine Gedanken wurden zu den Jahreszeiten der Seele hingeführt: Kindheit und Jugend sind der Frühling des Lebens; den Sommer kennzeichnen Reife und Arbeit; Frucht und Ernte kommen im Herbst, und der Tod schließt die Augen für den Schlaf und den Winter des Geistes, der sich dann in der schützenden Dunkelheit befindet, wo er von allen vorübergehenden Wunden und Enttäuschungen befreit ist - nur der karmische Same bleibt zurück, der zur gegebenen Zeit erwacht und auf die große lebenspendende Sonne reagiert, um eine neue Runde in den Jahreszeiten der Seele zu beginnen.

Als ich über diese endlose Prozession des Lebens in sich ständig vergrößernden Zyklen der Erfahrung nachdachte, fiel mir eine Legende aus dem Mahâyâna-Buddhismus ein. Nachdem Buddha durch eine lange Reihe von Verkörperungen gegangen war, kam er schließlich zum Höhepunkt seines Daseins, an dem er zur wohlverdienten Ruhe und Glückseligkeit in das Nirvana eingehen konnte. Doch bevor er in dieses eintrat, wandte er sich nochmals um und sah hinter sich Millionen Mitgeschöpfe, die sich immer noch in ihren Kreisläufen der Unwissenheit und des Leidens abmühten. Da bewegte ihn das Mitleid so sehr, daß er umkehrte und hinabstieg, um unter ihnen den Platz als Helfer einzunehmen. Das ist für mich keine bloße Legende, sondern eine weitere Parabel für die Wahrheit, daß der universale Leben-Spender jedem einzelnen seiner sich vermehrenden Nachkommenschaft mit brüderlichem Einfluß hilft, seiner gegenwärtigen Fähigkeit entsprechend, dieses Dasein zu begreifen und aufzunehmen.

Ein ähnliches Bild göttlicher Selbsthingabe für jene, die Jesus "die geringsten dieser meiner Brüder" nannte, wird von Paulus in seinem Brief an die ersten Christen in Philippi gegeben. An dieser Stelle spricht er von Christus, wie er Stufe um Stufe von der Göttlichkeit bis zum Menschen herabsteigt, und weiter vom Menschen zum Knecht, vom Knecht zum Tod, ja sogar bis zum Kreuzestod, damit er "die Gefangenschaft gefangen nehme" und den Menschen in immer größere Freiheit führe.

Als ich kürzlich mit einem japanischen Freund sprach, verglichen wir die buddhistische Religion mit der christlichen und kamen überein, daß ihre Lehren die gleiche Funktion des Ewig Einen demonstrieren, das sich immer wieder seinen Nachfolgern mitteilt, indem es ihr Los teilt und damit veranschaulicht, daß das Eine während ihrer langen Wanderungen durch die Jahreszeiten nie von ihnen getrennt ist, sondern immer in den zu ihm Gehörenden versenkt und verkörpert ist.

Kann es nicht sein, daß das Ziel für die Seele auf ihrer Wanderung durch die Zyklen von einer Erfahrung zur anderen durchaus nicht ein Endpunkt ist, sondern vielmehr, wie die Meister uns gezeigt haben, ein freiwilliges Wiedereintreten in den rhythmischen Gang der Natur - um mit unseren jüngeren, noch suchenden Brüdern das zu teilen, was wir von den Jahreszeiten der Seele gelernt haben?