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Die vielen Bedeutungen der Mythen

Ein Prüfstein für die Reife, die wir in der Religion erlangt haben, ist die Frage, ob wir unsere Vergangenheit wirklich bejahen. Die meisten von uns sind durch den einen oder anderen Glauben, der für unser Leben nicht mehr von Bedeutung ist, dahin gekommen, wo wir heute sind. Wir haben uns vielleicht offen dagegen aufgelehnt oder wir haben uns einfach von ihm getrennt. Die wichtige Frage besteht jedoch darin, ob wir die Vergangenheit als einen Teil unseres Wachstums akzeptiert haben, als einen Teil, der sogar notwendig war. Lebt die Religion in uns als ein guter Lehrer, auch wenn wir ihren religiösen Wegweisern nicht mehr folgen? Haben uns ihre Irrtümer, aber auch ihre Wahrheiten gestärkt, oder lehnen wir uns immer noch gegen sie auf wie ein Jugendlicher gegen seine autoritären Eltern?

Wenn wir unsere Religion mit dem Verstand und mit unserer echten Erfahrung in Übereinstimmung bringen wollen, dann müssen wir uns einiger Tatsachen im seelischen Leben der menschlichen Rasse bewußt sein: Tatsachen, die zu oft übersehen werden oder über die man sich hinwegsetzt. Wir lehnen vielleicht die konventionelle Theologie mit ihren vertrauten religiösen Mythen als falsch und irreführend ab; doch die Art und Weise, wie unsere Väter und Mütter den Weg vor uns gegangen sind, um uns dahin zu bringen, wo wir heute stehen, kann eine belehrende Geschichte sein. Wenn wir in diesen alten Glaubensformen ein neues Licht suchen, dann müssen wir erkennen, wie die Mythen im menschlichen Leben und Denken sich bemerkbar machen. Emerson sagte vor 150 Jahren, daß "der Mensch ein mythentragender Baum ist", und wie die Männer und Frauen ihre Mythen verstehen und anwenden, ist unterschiedlich. In den letzten Jahren sind die westlichen Gelehrten von einem ganz anderen Standpunkt aus an das Thema herangegangen als die Rationalisten des 19. Jahrhunderts, die Söhne der Aufklärung. Wir betrachten heute die Frage, warum die Mythen so bedeutsam sind und warum sie sich so hartnäckig im Bewußtsein der Menschen halten, von einem neuen Standpunkt aus.

Über die Mythen herrschen heute teilweise weitverbreitete Unklarheiten, weil mit dem Begriff drei verschiedene Bedeutungen verbunden werden. Die verbreitetste und populärste Ansicht ist, daß eine Mythe eine Erdichtung, eine Fabel, ein Aberglaube oder ein irriger Glaube ohne tatsächliche Grundlage sei. Einer zweiten Ansicht nach ist die Mythe ein nützlicher, wünschenswerter Glaube, zwar nicht unbedingt wahr, aber oft für wertvoll gehalten, um die Menschen zu veranlassen, ein nützliches Leben zu führen. Zum Beispiel hat die Mythe, daß der Mensch im Innersten gut sei, oder daß ein Fortschritt möglich sei, eine ermutigende und sogar begeisternde Wirkung, indem sie uns anspornt, vorwärtszugehen und uns weiter zu bemühen, ganz gleich, ob das Gesagte nun wirklich zutrifft oder nicht.

Die dritte Bedeutung der Mythe bringt uns auf eine ganz andere Ebene. Wir gelangen zu der Erkenntnis, daß es stets ihre Aufgabe war, die Wahrheit in einer symbolischen oder bildlichen Art darzustellen. Carl Sagan, Professor für die Erforschung des Weltalls an der Cornell-Universität, hat in seinem kürzlich erschienenen Buch The Dragons of Eden (Die Drachen von Eden) diese Auffassung zugrundegelegt. Er meint, die Mythen seien weit davon entfernt falsche oder nutzlose Überzeugungen zu sein, sie seien vielmehr Sinnbilder, die grundlegende Wahrheiten enthalten, die zur Entwicklung des menschlichen Geistes unbedingt notwendig sind. Auf verschiedenen Ebenen unserer menschlichen Entwicklung haben wichtige Mythen uns geholfen zu verstehen, wer und was wir sind. In der Tat können einige der neuesten wissenschaftlichen Beschreibungen des Universums als moderne Mythen angesehen werden, genauso wie die Bemühungen des Altertums und des Mittelalters, die Wahrheit der Dinge zu erfassen, die Mythen jener Zeiten waren. Alle zusammen, die heutigen eingeschlossen, werden sicherlich mit der Zeit durch noch größeres Wissen abgelöst werden.

Es ist für uns leichter, die Gedanken und Anschauungen vergangener Zeiten als Mythen zu betrachten, als unsere eigenen Ideen. Alle sind aber Versuche, in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit, dem stets begrenzten menschlichen Geist die Unermeßlichkeit, das Rätsel und die Vielfalt des Lebens um und in uns verständlich zu machen. Diesen Blick, dieses Verständnis für unsere religiösen Glaubensformen müssen wir suchen, indem wir unser Augenmerk nicht auf die irrigen Ansichten derer richten, die vor uns waren, sondern auf die Wahrheiten, die sie erkannt hatten. Wir müssen uns daran erinnern, daß die mythologische, theologische und die religiöse Sprache nicht als unmittelbare Mitteilungen von Tatsachen oder geschichtlichen Ereignissen gedacht sind. Sie wirken auf einer anderen Ebene als die Physik, die Biologie, die Astronomie oder die Geologie. Die Rolle der Mythe hingegen ist es, zu versuchen, den Geist für die Entdeckung der verborgenen Wahrheit, die dem Drama des Lebens zugrundeliegt, zu öffnen. Dadurch wird es uns möglich, selbst etwas herauszufinden. Die alten Griechen und Römer wußten dies und handelten danach. Durch ihre Mythen erklärten sie die Bedeutung der grundlegenden Elemente des Universums, Erde, Luft, Feuer und Wasser. Demeter war mit der Fruchtbarkeit der Erde verbunden, Neptun herrschte über die Gewässer, Apollo war der Geist jeglicher Erleuchtung und die Quelle des Lebens. Athena war die Königin der Weisheit. Wenn wir die Geschichten von Ödipus, von Prometheus und von Orpheus lesen, oder die Mythe von Sisyphus, oder auch die Sage vom Garten Eden, die Episode von Jonas und dem Wal, dann sehen wir darin natürlich keine tatsächlichen historischen Berichte. Wir betrachten sie als Allegorien und daß darin die Ziele des Menschen sowie Wahrheiten über ihn und über die menschlichen Erfahrungen enthalten sind. Es ist nun unsere Aufgabe, in jeder Mythe oder in jedem Glauben, ob alt oder modern, hinter und zwischen den äußeren Worten die Wahrheit zu finden, die ihre Grundlage bildet.

Die ältesten klassischen Mythen waren gewöhnlich Schauspiele, in denen der Kampf der Seele um Reinheit, Erleuchtung und schöpferische Kraft dargestellt wurden, denn das ist am leichtesten zu verstehen. Können wir jene Mythen innerhalb unseres eigenen Erfahrungsbereiches, die großenteils von den jüdisch-christlichen Überlieferungen stammen, nicht auch als Widerspiegelung der Wünsche und Hoffnungen und Ängste von Männern und Frauen in ihrem Ringen sehen, als Bemühungen von Menschen, die versuchten, im Universum einen Sinn und in ihrem Leben eine Führung zu finden? Lediglich an sie zu glauben, sie anzuzweifeln oder sie abzulehnen, berührt nur die Oberfläche, befaßt sich nur mit der Frage, ob die Mythen, wörtlich genommen, wahr oder falsch sind. Doch welche tiefere Bedeutung hatten sie für diejenigen, die sie vertraten, und welche tiefe Bedeutung hatten sie für diejenigen, die an ihnen festhielten, und welche Rolle spielen sie im Leben der heutigen Menschen?

Das müssen wir von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten. Unter den Menschen, die sich damit befassen, hat es schon immer einige gegeben, die erkannten, daß die populären religiösen Vorstellungen nicht wörtlich zu nehmen sind. Männer wie Tom Paine, Voltaire, Theodore Parker und Robert Ingersoll drückten öffentlich ihre Zweifel an den überlieferten Gottesvorstellungen aus. Damit entfachten sie nicht nur bei den frommen Gläubigen riesigen Zorn, sondern auch bei den Intellektuellen, die sich meist nicht allzusehr um Glaubensangelegenheiten kümmerten, aber die Wirkung des Zweifels auf das allgemeine Verhalten fürchteten, wenn die religiöse Angst als Abschreckungsmittel zurückginge. Daher gab man der Mythe, als zwar unwahre aber nützliche Erfindung, den Vorrang. Die Einsicht, die jedoch heute bei einigen beharrlich sich haltenden Glaubensformen sichtbar wird, berührt eine tiefere Ebene der Erkenntnis. Viele nachdenkliche Menschen haben bereits zu zweifeln begonnen und dann für sich die buchstäblich ausgelegte Wahrheit der allgemeinen Religion abgelehnt. Einige meinen, der Glaube sei gerechtfertigt und nützlich, entweder weil er die Menschen glücklich mache oder weil er sie in Schach halte; aber ein tieferes Verständnis für die tatsächliche Rolle der Mythe im menschlichen Leben muß bei vielen erst noch aufgehen. Sie bezieht sich auf eine andere Ebene der Wirklichkeit, auf eine andere Dimension der Wahrheit, als die der Tatsachen oder Erdichtung. Wäre es nicht möglich, daß die wohlbekannten traditionellen Überlieferungen, an die Jahrhunderte hindurch geglaubt wurde und die jetzt angezweifelt und aufgegeben werden, trotzdem Erkenntnisse enthalten, die tiefer und dauerhafter sind als rein buchstäbliche Tatsachen?

Die uralten Fragen, die wir Menschen in unseren Religionen oft gestellt haben: Was ist das Universum, was bedeutet unser Leben, woher kommen wir, wohin gehen wir, was für Wesen sind wir wirklich, worauf kommt es in diesem unserem Leben wahrhaft an? - diese Fragen sind immer noch offen. Wir Menschen sind mit diesem Verlangen, in unserem Leben einen Sinn zu finden, gesegnet oder verflucht. Unsere Vorfahren hatten sich ihre Antwort nach der Erkenntnis ihrer Zeit gebildet und ihr Verständnis in die Glaubensformen oder in die Mythen geprägt, die für ihr Leben und ihren Glauben Wegweiser waren. Wir leben in einem anderen Zeitalter, sind aber keine neue wurzellose Rasse, ohne Erfahrung, aus der wir nicht Gewinn ziehen könnten. Wir beginnen das Leben nicht von neuem, als ob niemand jemals vor uns gelebt oder mit den Fragen gerungen hätte, die uns quälen. In der menschlichen Erfahrung besteht eine wunderbare Kontinuität; die Gegenwart ist immer eine Fortsetzung der Vergangenheit; die Zukunft wird immer eine Fortsetzung der Gegenwart sein. Der Strom der menschlichen Erfahrung fließt durch uns, wie er einst die Männer und Frauen des vierten und des vierzehnten Jahrhunderts durchströmte.

Für uns lautet die Frage nicht, ob sie mit ihrem Glauben recht hatten oder nicht, sondern vielmehr, ob wir mit unserer fortschrittlichen Technik wirklich klüger sind als sie, besonders wenn wir nicht mehr der Ansicht sind, daß ihre Bemühungen, ihr Leben und ihr Universum zu verstehen, keine Bedeutung für uns hätten? Die Menschen reden zum Beispiel unablässig von Liebe, als ob sie soeben eine neue Entdeckung im Leben gemacht und den Schlüssel dazu gefunden hätten. Gleichzeitig hat die alte Mythe von der Kreuzigung für viele moderne Menschen wenig oder gar keinen Sinn. Wir fragen uns vielleicht, ob die Kreuzigung Jesu historisch jemals stattgefunden hat; wir fegen den Glauben der Theologen an Dinge wie: das Opferblut des Lamms - einfach hinweg oder sehen möglicherweise auch die Kreuzigung ganz nüchtern als politische Hinrichtung eines Rebellenführers durch die Römer. Dabei entgeht uns allerdings die Kraft dieser Geschichte als Symbol der Liebe mit ihren Leiden, ihre Kraft als Mythe, und wir verlieren damit die Verbindung mit dem Heer von Menschen, für die die Kreuzigung eine tiefe Bedeutung für ihr eigenes Leben darstellt. Kahlil Gibran wußte es besser, denn eine seiner ständig wiederkehrenden Meditationen über die Liebe in The Prophet erfaßt die ewig bleibende Bedeutung der Kreuzigung:

Wenn Dir die Liebe ein Zeichen gibt, folge ihr,

Auch wenn ihre Wege hart und steil sind.

Und wenn ihre Flügel Dich einhüllen, ergib Dich ihr,

Auch wenn das Schwert, das in ihren Schwingen verborgen ist,

Dich verwunden mag.

Und wenn sie zu Dir spricht, glaube ihr,

Wenn auch ihre Stimme Deine Träume zerstören mag,

Wie der Nordwind den Garten verwüstet.

 

Denn so wie die Liebe Dich krönt, wird sie Dich kreuzigen.

Denn so, wie sie Deinem Wachstum dient,

So wird sie Dich erniedrigen.