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Halte Dein Gemüt rein

In seinen weiten und widersprüchlichen Bereichen und Aspekten ist das Gemüt ein wenig verstandenes menschliches Ausdrucksinstrument, besonders dann, wenn man es als eine Widerspiegelung des göttlichen Bewußtseins betrachtet, das allem Leben zugrunde liegt und das in sich endlose Möglichkeiten für tiefere Dimensionen der Entfaltung birgt. In diesem Zusammenhang sehen wir im Menschen, dem "unsterblichen Denker" ein Wesen mit einer spirituellen Bestimmung, das eine ungeheure evolutionäre Reise hinter sich und einen endlosen Pfad vor sich hat, der zu der allmählichen Verwirklichung des innewohnenden Gottes führt.

Das Unterscheidungsmerkmal unseres Menschseins liegt in unserer selbstbewußten Wahrnehmung, in unserer angeborenen Fähigkeit, das Leben und uns selbst erklären und den Lauf unserer Gedanken und Handlungen bestimmen zu können. Die Kenntnis von dem dramatischen Ereignis, das diesen Wendepunkt in unserer menschlichen Entwicklung herbeigeführt hat, ist jedoch in unserer heutigen Zeit im allgemeinen verloren gegangen, obwohl es tief in das Seelengedächtnis der Menschheit eingeprägt und in den Mythen und Legenden des Altertums und auch in vielen Heiligen Schriften der Welt bewahrt wurde.

In längst vergangenen Zeitaltern, so offenbaren uns die alten Überlieferungen, als sich der Mensch in einem halbbewußten Traumzustand befand, erweckten göttliche Wesen mit vollerwachten Gemütern die Flamme der höheren Intelligenz und die edleren Bereiche unserer Natur und wurden danach, karmisch mit uns verbunden, das höhere Selbst eines jeden von uns, unser ständiger Mentor und Beschützer oder "Gefallene Engel". Zu jener Zeit lebten große Wesen unter uns. Sie lehrten die Künste und die Wissenschaften und prägten unserer Seele die Samen der Weisheit ein, die uns helfen sollten, die Prüfungen zu bestehen, die uns auf unserem Weg begegnen würden. Denn von diesem Zeitpunkt an nahmen wir, als intelligente Wesen, ethische, moralische und spirituelle Verantwortungen auf uns, was bedeutet, daß wir auf dem langen Weg der Selbstentdeckung unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen.

Dieser Übergang von einem halbbewußten zu einem geistig aufgeschlosseneren Zustand wird von dem Apostel Paulus im Neuen Testament wie folgt erwähnt:

Und so steht geschrieben: Der erste Mensch, Adam, wurde zu einer lebendigen Seele, der letzte Adam aber wurde zu belebendem Geist. (1. Korinther 15:45)

Das Wort "belebend" ist hier von Bedeutung, weil es darauf hinweist, daß ohne unser eigenes Bereitsein zu diesem nächsten Schritt, dieser Wechsel nicht hätte stattfinden können. Latent in der "lebenden Seele" ruhte die höhere Intelligenz, die nur zu einer Flamme entfacht werden mußte.

Dieser "belebende Geist", der das menschliche Gemüt oder die menschliche Seele ist, erzeugte zwischen den Tieren und Menschen eine unüberbrückbare Kluft, vor allem, weil die Tiere, obwohl sie einen eigenen Intelligenzgrad besitzen, unschuldig und ohne Verantwortung geblieben sind. "Der Falke tötet mit derselben Arglosigkeit, wie der Esel eine Distel frißt." Wir dürfen dem Tötungsinstinkt des Falken keine menschlichen Maßstäbe zugrunde legen. Er handelt nicht "grausam", wie wir es sehen, sondern gemäß der Ökonomie und Arbeitsweise der Natur. Er trägt dazu bei, das Gleichgewicht des Lebens zu erhalten. Andererseits hat sich der Mensch weit über die Tiere erhoben, was auf sein Ichbewußtsein, seine erweiterten Wahrnehmungsfähigkeiten und seine Intelligenz zurückzuführen ist, sowie auf den Willen, diese Fähigkeiten nach seinen Wünschen zu lenken. Da er für seinen Entwicklungslauf verantwortlich ist, muß er für seine grausamen, leidenschaftlichen und ähnlichen Gedanken und Handlungen Rechenschaft ablegen, da sie eine bewußte Verletzung der Harmoniegesetze in der Natur sind und wissentlich begangene und nicht aus Unkenntnis entstandene Handlungen sind.

Hieraus folgt, daß die doppelte Funktion des Gemüts ein unvermeidliches Ergebnis unserer zunehmenden Intelligenz war, da nicht nur die höhere Natur entflammt wurde, sondern auch die bereits bestehende niedere Natur erwacht war. Das Gemüt wurde zu ein und derselben Zeit unser "Versucher und Erlöser". Es schwankt hin und her zwischen der ungezügelten persönlichen, tierischen oder Wunschseite, die dem Wechsel Widerstand leistet und das Gemüt nach unten zieht und den feineren Einflüssen des höheren Gemüts und der Intuition, durch die wir eines Tages unser niederes Selbst erlösen werden.

Wenn wir die drei Hauptteile Körper, Seele und Geist betrachten, dann ist das Gemüt unsere menschliche Seele, der Mittelteil unseres Wesens. Es steht buchstäblich in der Mitte, wie eine zentrale Empfangsstation, wobei es auf dem Gebiet, auf dem unser gegenwärtiges Bewußtsein oft tätig ist, entweder auf die unterhalb befindlichen Wünsche und Sinne reagiert oder die intuitiven, schöpferischen Kräfte über uns anzieht, um die sich jeder höhergeistig Strebende bemüht. Wir können sagen, daß das Gemüt, obgleich es die stabile Eigenart der Intelligenz besitzt, die ein universales Prinzip ist, hinsichtlich seiner Qualität leicht veränderlich ist und die Form der Gedanken und Gefühle annimmt, die durch dieses Gemüt wirken; oder anders gesagt, es ist eine Brücke zwischen dem persönlichen, egoistischen "Ich-bin-ich"-Bewußtsein und dem umfassenden unpersönlichen universalen Bewußtsein.

Die verschiedenen Heiligen Schriften der Welt konzentrieren sich auf die Dualität des Gemüts in seinen vielfältigen Formen und auf das Leid und die Sorgen, die unweigerlich aus einer Mißachtung der spirituellen Weisheit resultieren. Wir erkennen, daß wir dem Gemüt oder irgendeinem der komplexen Elemente unserer Konstitution ebensowenig eine Begrenzung auferlegen können, wie wir diese Elemente als voneinander getrennt betrachten dürfen. Zwischen den Wünschen, dem Willen und den verschiedenen Stufen der Gemütstätigkeit besteht eine dauernde Wechselwirkung. Wünsche reichen von den gröbsten Gefühlsregungen bis zu den reinsten Formen des Strebens und der Liebe. Das Gemüt umfaßt ein breites Gedankenspektrum. Es reicht vom Nichtigen, Selbstischen, Egoistischen und Grausamen bis zum Universalen, Selbstlosen, Unpersönlichen und Mitleidsvollen. Und die Denkungsarten durchlaufen die Skala vom rein verstandesmäßigen Denken bis zu den tiefsten philosophischen Betrachtungen.

Die Parabel vom Streitwagen in der Katha Upanishad, und ein verwandtes Thema, das Platon in seinem Phaidros behandelte, entwickeln dieses alte Konzept von der Doppelrolle des Gemüts im Zusammenhang mit unserer gesamten Natur, wobei die idealen Bedingungen in uns, die uns zu tieferen Einsichten führen und zum höheren Gemüt gehören, den Einstellungen und undisziplinierten Impulsen gegenübergestellt werden, die dem niederen Gemüt angehören und unseren Blick für die Wirklichkeit trüben.

Die Parabel wird in den Upanishaden mit einer Erklärung der darin enthaltenen grundlegenden Symbolik eingeleitet: Der Wagen bedeutet das psycho-physische Vehikel; die Rösser sind die Sinne; die Wege, über die die Pferde traben, sind die Sinnesobjekte; die Zügel sind das Denken und der Fuhrmann ist der Lenker oder die Intuition (buddhi in den Upanishaden; nous im Phaidros). Die Wahl eines Wagens als Symbol ist vielsagend, da seine Bewegung mit dem Rad des Lebens in Beziehung steht, von dem wir alle ein Teil sind, mitgetragen durch die vorwärts gerichtete Kraft der Evolution. Alles hängt davon ab, wie der Wagen gelenkt wird oder wie wir unser Leben gestalten; ob wir uns auf unserem spirituellen Pfad aufwärts oder abwärts bewegen.

Der einleitende Vers beginnt: "Wisse das Selbst als den Herrn des Wagens und den Körper fürwahr als den Wagen selbst ..." Das ergibt den Grundton der Parabel, denn das Selbst bedeutet hier den alles durchdringenden Geist, der sogar im Körper (Wagen) widergespiegelt wird. Er ist der innere Gott, der im menschlichen Herzen immer gegenwärtig ist, die Quelle der Liebe und des Mitleids. Der Wagenlenker, die Intuition, gehorcht dem Selbst oder dem Besitzer des Streitwagens, denn sie ist eine Widerspiegelung des göttlichen Selbst. Sie kann die Zügel (die Gedanken) nur halten und die Lenkung nur übernehmen, wenn die Pferde (die Sinne) unter Kontrolle sind und den unfehlbaren Gesetzen der Natur gehorchen. Wenn die niederen Impulse die Oberhand gewinnen, ist die Intuition oder die Vernunft machtlos.

Wer kein Verständnis besitzt, wessen Denken ständig zügellos ist, dessen Sinne sind unbotmäßig, wie bösartige Pferde beim Wagenlenker.

Wer jedoch Verständnis besitzt, wessen Denken immer gezügelt ist, dessen Sinne sind unter Kontrolle, wie gute Pferde bei einem Wagenlenker.

- Kathaka Upanishad, I, 3, 5-6

Die beiden nächsten Verse führen den Gedanken noch etwas weiter aus. Sie stellen fest, daß derjenige, dessen Herz und Seele nicht verstehen ... und dessen Denken unrein und ungezügelt ist, zum irdischen Leben zurückkehren muß. Wer aber Verständnis besitzt und wessen Denken gezügelt und stets rein ist, der "erreicht das Ziel, aus dem keine Wiedergeburt mehr stattfindet." Mit anderen Worten, er erlangt Unsterblichkeit. Es leuchtet ein, daß wir bis zu dem Zeitpunkt, wo wir unser menschliches Ziel erreicht und uns selbst bemeistert haben, bis wir die Selbstsucht, unsere tausenderlei Wünsche und die selbstgeschaffenen Illusionen des persönlichen Ichs (mind) überwunden haben, immer wieder zur Erde zurückkehren werden, da nur die höheren Bereiche der menschlichen Seele unsterblich sind.

Platon spricht in seiner Rede über die Wagen-Symbolik im Phaidros auch über die Unsterblichkeit der Seele und über die himmlischen Regionen, der sie angehört, wenn sie vom Körper befreit ist. Er unterscheidet drei Teile der Seele: Ein Gespann von zwei geflügelten Rossen und einem Wagenlenker.

Die Rosse der Götter, beide weiß, sind edel, während unsere menschlichen Rosse verschieden sind; ein Roß ist weiß, von edler Herkunft, und eines ist schwarz, von niedriger Herkunft, das heißt, gut und böse. Weil diese verschiedenen menschlichen Rosse oder die Gedanken des Menschen in entgegengesetzte Richtungen ziehen, ist es schwierig, sie zu beherrschen, und die Reise ist beschwerlich. Platon erklärt den Unterschied zwischen den Göttern und den Menschen, wie folgt:

Da fahren nun die Götterwagen, wohlgezügelt das Gleichgewicht haltend, leicht dahin, die anderen aber mühsam. Denn das mit Schlechtigkeit behaftete Roß, wenn es von seinem Wagenlenker nicht richtig abgerichtet worden ist, beugt sich und drückt schwerfällig zur Erde hinab. Da ist nun einer Seele die äußerste Mühe und Anstrengung bereitet.

- Platon, Band 2, Seite 437

Im Falle des Götterwagens, der von zwei weißen Pferden gezogen wird, steht alles mit den Naturgesetzen im Einklang, und das Gemüt ist ein vollkommenes Instrument des Geistes. Das ist das menschliche Ideal. In bezug auf den Menschen stellen das schwarze und das weiße Pferd in Platons mythologischer Erzählung anscheinend die Dualität des Gemüts dar, das Niedere und das Höhere, wobei der Wagenlenker als der spirituelle Einfluß der Intuition und des Verstehens anzusehen ist, der durch das höhere Gemüt arbeitet.

Platons Erzählung geht sehr ins Detail, wenn er die Eigentümlichkeiten des weißen und des schwarzen Pferdes oder die hellen und die dunklen Aspekte des Verstandes und des Willens schildert. Das weiße Pferd ist durchdrungen vom Licht des Geistes, ist königlich, gehorcht dem Wagenlenker mit angemessener Vernunft, edel oder hoheitsvoll, aufrecht, ein Beispiel für alles, was schön, gut und ehrenwert ist, hat schwarze Augen, die tiefgründige Dinge erforschen und das Unbekannte durchdringen. Das schwarze Pferd steht nicht aufrecht, es ist plump gebaut, wird von plötzlichen Impulsen angetrieben, lebt seinen Begierden, hat graue Augen, die die äußere, täuschende Welt nicht durchdringen, ist widerspenstig, rücksichtslos, unbeherrscht und reagiert nicht auf die Befehle des Wagenlenkers, auch nicht auf Peitsche und Sporen. Dieser Vergleich zeigt ganz deutlich den Unterschied zwischen der Lauterkeit, der Schönheit und dem Adel des geistig orientierten Lebens, und einer seelenlosen Existenz, in der ziellos eine Sache nach der anderen verfolgt und jedem Impuls nachgegeben wird, der sich einstellt.

In unserem gegenwärtigen Evolutionsstadium werden wir in diese Dualität verstrickt, und trotz allem, was wir über den Verstand zu wissen glauben, beginnen wir erst sein Geheimnis und seine Veränderlichkeit zu verstehen. Niemand von uns ist ganz rein. Jeder besitzt etwas von den schlechten und auch etwas von den guten Eigenschaften des schwarzen und des weißen Rosses. Eines der Wunder in der menschlichen Natur besteht jedoch darin, daß jeder Mensch diese Eigenschaften in einer etwas anderen Mischung besitzt. Wir sind das Produkt unserer Gedanken, und jeder muß seinem eigenen Gesetz des Seins im Rahmen des größeren Musters der universalen Gesetze folgen, um die innere Seelenweisheit zu erkennen; denn die Weisheit ist da, eingeschlossen in unserem Herzen. Es ist ein Verlangen der menschlichen Seele, zur Geltung zu kommen und ihr göttliches Recht zu beanspruchen. Unser erwecktes Gemüt oder unsere wachgewordene Seele ist notwendigerweise Leben um Leben im Körper begraben, bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir das dunkle Roß des Nichtwissens in das weiße Roß des Mitleids und des spirituellen Verstehens umwandeln können.