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Der Lebenskünstler

Früher habe ich oft gedacht: "Wenn ich nur malen könnte, wenn ich nur bildhauern könnte, wenn ich nur ... könnte." So wünschte ich mir immerfort, ein viel größerer Künstler zu sein, als ich es meinen Fähigkeiten nach sein konnte. Ich nehme an, daß ich in einer solchen Gemütsverfassung war, als ich mich entschloß, einer guten Freundin bei ihren Vorbereitungen für ein Sommerfest zu helfen. In den drei Tagen, die ich bei ihr war, lernte ich viel über den Künstler, wie wir ihn alle werden können.

Das Leben des Künstlers ist eine beständige Anstrengung, etwas von ihm selbst aus den Tiefen hervorzubringen, das sorgfältig in ihm verborgen ist. Was dabei zum Vorschein kommt, kann durch schöpferische Anstrengung umgewandelt werden, so daß andere eventuell erkennen können, wer oder was sie selbst sind. Im Verlauf des ganzen fieberhaften, schöpferischen Prozesses geschieht mehr als nur Gestalten, Formen und Entwerfen. Ein guter Künstler arbeitet am besten direkt aus seinem Innersten, von da aus, wo er Künstler ist. Er erlaubt den fließenden, erfinderischen Kräften, von diesem Punkt aus ihren Anfang zu nehmen und sich von innen nach außen zu ergießen. Er lauscht nach innen und übermittelt dann den empfangenen Eindruck durch das gewählte Ausdrucksmittel.

Ich lernte in diesen drei heißen Tagen, daß es für jene Menschen, die ihr Leben als Ausdrucksmöglichkeit für ihre Kunst betrachten, eine Alternative für Staffelei und Pinsel gibt. Der Lebenskünstler hat eine ähnliche Pflicht wie jene, die Leinwand und Öl oder Töpferscheibe und Ton benutzen. Auch er muß sich nach innen an das Selbst der Selbste, an seine eigene höhere Natur wenden und sie so getreu er kann zum Ausdruck bringen. Die Bereicherung und Freude des Schöpfers liegt im intuitiven Prozeß der Darstellung und darin, das zu sein, was Imagination und Inspiration mit ungeheurer Intensität schufen. Ob die Schöpfung in Pastellmalerei, aus Bronze oder in seinem Bewußtsein besteht, sie hat wenig Wert, wenn nicht andere daran teilhaben können. Darin liegt die Verantwortlichkeit des Künstlers.

Man kann etwas für sich schaffen, aber es ist etwas ganz anderes, die Schöpfung allen zugänglich zu machen, so daß sie mit kritischen Augen betrachtet werden kann. Man muß Kritik oder Gleichgültigkeit von jenen, die Kunst nicht schätzen, hinnehmen können. Das verletzt oft unsere Gefühle und unseren Stolz - man muß Mut haben, das innere Selbst zu zeigen. Die Stöße und Stiche sollten jedoch für uns das sein, was die Schläge des Arztes für das neugeborene Kind sind. Wir tun den ersten Atemzug und erwachen in größeren Dimensionen der Wirklichkeit.

Wie für jeden Künstler, so ist es auch für den Lebenskünstler immer wieder notwendig, seinem Programm etwas hinzuzufügen oder etwas davon wegzulassen. Wenn er immer tiefer in sein eigenes Wesen eindringt, so lernt er aus seinen früheren Erfahrungen und schreitet weiter zu neuen Gelegenheiten, zu besseren Ausdrucksweisen, zu größerem Wahrnehmungsvermögen seines inneren Wesens. Unbeirrt durch Erfolg oder Fehlschlag, gelangt er zur Vervollkommnung des Ausdrucks, der Auslegung, der Darstellung. Dessenungeachtet steht er vor seiner wahren Prüfung, wenn er seine Verantwortlichkeiten erfüllt. Es ist das Leben, so wie er es sieht, wie er es fühlt und wie er andere daran teilnehmen läßt. Dadurch verleiht er dem, was er tut, einen Wert.

Der Lebenskünstler enthüllt im Alltag seinen Wert. Der Prozeß des Teilens mit anderen ist oft nicht so erregend wie jene Augenblicke, in denen sich eine Idee klärt und die Aufregung unbändige schöpferische Tätigkeit bringt. Der Lebenskünstler muß seine Ideale in seinem Leben lebendig werden lassen, und dafür braucht er die Materialien des gewöhnlichen Lebens. Wenn die Bilder der alltäglichen Ereignisse auf der Leinwand fehlen - besonders jene, die geringere oder unbedeutende Bruchstücke unserer Erfahrung zu sein scheinen -, haben die Ideale keine Gelegenheit, sich zum Ausdruck zu bringen. Sie können dann wertlos sein oder nur der Eigenbefriedigung dienen.

Das ist unsere Aufgabe. Man kann erhabene und schöne Gedanken haben, aber sie im täglichen Leben anzuwenden und sie mit unseren Mitmenschen zu teilen, besonders mit jenen, die wie wir selbst in dem anscheinend alltäglichen Geschehen des Lebens gefangen sind, das ist etwas ganz anderes. Jedoch gerade darin liegt unsere Verantwortlichkeit, wenn wir den Weg des Künstlers gewählt haben. Eine solche Wahl erfordert persönliche Stärke und moralische Kraft.

Unsere Leinwand ist daher die Anstrengung eines Vierundzwanzigstundentages, der unsere Lebenskraft verzehrt und uns schnell Worte sprechen läßt, von denen man bald wünscht, sie wären nicht gesprochen worden. Unsere Handlungen entsprechen dem zu modellierenden Ton, ob wir nun Nahrungsmittel einkaufen, den Wagen auftanken, das Haus reinigen, hinter dem Ladentisch stehen oder eben nur einmal die Straße entlang gehen. In den alltäglichen Ereignissen wird uns die Gelegenheit geboten, jene, die um uns sind, an unserem höchsten und edelsten Selbst teilhaben zu lassen. In einem kurzen Augenblick schöpferischer Stille, in dem Erkenntnisse die Oberfläche unseres Bewußtseins zu überfluten scheinen, werden dann und wann direkt aus dem Zentrum unseres Wesens aufsteigende erhabene Ideen aus den scheinbaren Alltäglichkeiten des Lebens geboren.