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Esoterische Weisheit im Osten und Westen

Das in den vergangenen Jahrzehnten rasch gewachsene Interesse der Jugend an den Ideen und Religionen des Fernen Ostens ist verständlich, obgleich es teilweise auf einem Trugschluß beruht. Die jungen Menschen befinden sich in einer moralischen Revolte; sie wurden von dem krassen Materialismus abgestoßen, den sie als die treibende Kraft der westlichen Lebensart ansehen, und auch davon, daß in der westlichen Philosophie und Religion ganz offensichtlich jeder moralische oder geistige Inhalt fehlt. Sie sehen, daß sich weder aus den religiösen Bewegungen und Institutionen noch aus dem individuellen oder kollektiven Verhalten der Führer und Mitglieder der menschlichen Gesellschaft irgendeine Verbesserung des Lebensinhaltes ergibt. Da sie empfanden, daß ihre eigene Tradition vor dem Ende steht, suchten sie logischerweise anderwärts nach Hilfe - hauptsächlich beim Buddhismus, Zen-Buddhismus, Hinduismus und dem chinesischen I-Ging, wobei auch andere, weniger zuträgliche Überlieferungen beträchtliche Beachtung fanden. Wie in jedem Zeitalter sind die Fragen über den Menschen und das Weltall für sie immer noch die wesentlichsten: Wer und was ist der Mensch und das Universum? Warum existieren sie, woher kommen und wohin gehen sie? Ältere Menschen oder jene, die sich nie um solche Fragen gekümmert haben, vergessen sehr leicht, wie überaus wichtig die Erklärung für viele junge Menschen sein kann.

Die Lebensart im heutigen Orient bietet nicht mehr Anhaltspunkte für vernünftige geistige oder religiöse Übungen oder Erleuchtung, als sie im Westen gefunden werden. Selbstsucht und Mißachtung der Heiligkeit menschlichen Lebens sind dort ebenso verbreitet wie überall in der Welt. Und bei den orientalischen religiösen Autoritäten kann genausoviel nutzloser Dogmatismus, können ebensoviele Rituale und auch die gleiche Ignoranz festgestellt werden wie bei unserer eigenen Tradition. Heutzutage erlebt der Osten eine Explosion materieller Verbesserungen und Fortschritte, aber trotzdem weist er einen beträchtlichen Niedergang von dem einst hohen religiösen Lebensstandard auf und bietet wenig beständige spirituelle Inspiration für uns.

Worin liegt also die Anziehung? In erster Linie macht es eine lange Tradition religiöser Toleranz im Osten möglich, daß eine Anzahl von Bewegungen und Sekten friedlich Seite an Seite leben und wachsen. Das ist insofern wichtig, als es bedeutet, daß die zentralen Ideen dieser Religionen in der realen Welt praktisch auf eine Art und Weise ausgeübt werden können, wie es bei unseren eigenen anscheinend nicht möglich war. Außerdem enthalten die östlichen Religionen bestimmte Überlieferungen geistiger Schulung, durch die dem Ausübenden die Überwindung seiner Unwissenheit und die Erlangung innerer Erleuchtung möglich sein soll. Auf Grund ihrer Vorstellungen über Wiedergeburt und Karma anerkennen die östlichen religiösen Überlieferungen die wunderbare Komplexität der gesamten menschlichen Natur und eröffnen somit eine vielversprechende Hoffnung für die Zukunft des Menschen, weil für die volle Entwicklung seines Wesens durch eine lange Evolution des Bewußtseins Zeit und Spielraum gegeben werden. Außerdem stellen diese Überlieferungen die materielle Welt an den ihr zustehenden Platz. Indem sie Gedanke und Tat mit dem Schicksal verbinden, erzielen sie dadurch einen großen logischen Zusammenhang, der den fragenden Verstand anspricht. Auf einer niedereren Ebene ziehen gewisse östliche Yoga-Lehren dadurch, daß sie anscheinend die Möglichkeit zur Gewinnung psychischer und phänomenaler "Kräfte" anbieten, eine Reihe junger Menschen an, die annehmen, daß derartige Fähigkeiten wünschenswert oder einfach zu erlernen seien.

Im Vergleich dazu erscheinen die westlichen Religionsüberlieferungen reichlich schleierhaft, denn sie bieten für das künftige Schicksal des Menschen bestenfalls eine verhältnismäßig erbärmliche Hoffnung an. Wer möchte zum Beispiel tatsächlich nach seinem kurzen (und anscheinend einzigen) Erdenleben für immer existieren - genauso wie er auf Erden war -, um auf einer himmlischen Wolke sitzend auf einer ätherischen Harfe zu klimpern, ganz gleich welche Glückseligkeit in solch einer Erfahrung liegen mag? Überdies scheint unsere Überlieferung, so wie sie uns übermittelt wird, die Definition unseres wirklichen Wesens sehr stark einzuengen. Sie will uns von dem übrigen Weltall loslösen und macht aus diesem Weltall eine materielle Schale, die keine wahre raison d'être (keine wirkliche Daseinsberechtigung) und nicht viel innere Logik oder philosophischen Zusammenhalt hat. Wenn wir entsprechend dem westlichen, wissenschaftlichen Denken tatsächlich nur unser Körper sind und dieser nach kurzen siebzig Jahren für immer verschwindet, was bedeuten würde, daß wir für immer verschwinden, dann wären die Idee von der kosmischen Evolution und all die geheimnisvollen und majestätischen Erfahrungen unseres individuellen Bewußtseins bedeutungslos und ohne wirklichen Wert.

Diese Feststellungen deuten darauf hin, daß jeder Versuch, westliche und östliche religiöse Überlieferungen miteinander vergleichen zu wollen, darunter leiden muß, daß wir gewohnt sind, die erkannte Wahrheit in drei unterschiedliche und oft widersprüchliche Gedankenrichtungen zu trennen, die als Religion, Wissenschaft und Philosophie bekannt sind. Die östlichen Überlieferungen tun das nicht. Sie versuchen vielmehr, die gesamte Realität so zu beschreiben, daß sie eben religiöse, wissenschaftliche und philosophische Aspekte aufweist - jeder ein notwendiger Teil der Gesamtansicht. Es ist sehr wahrscheinlich, daß einige unserer jungen Leute, die die Uneinheitlichkeit ihrer Traditionen im Vergleich zu der organisch gewachsenen Struktur der östlichen Traditionen empfinden, die letztere als Stärke und die erstere als Schwäche ansehen, und das ist gewiß verständlich.

Es besteht kaum ein Zweifel, daß der hohe Grad an spiritueller Philosophie solcher orientalischen Texte, wie zum Beispiel die Bhagavad-Gita, die Upanishaden und das Tao-Te-King, nicht übertroffen werden kann. Diese Texte wurden jedoch vor Tausenden von Jahren geschrieben, als Indien, Ceylon, Tibet und China auf ihrem kulturellen Höhepunkt standen. Und es ist offensichtlich, daß ihre Übereinstimmung die Existenz einer inneren oder esoterischen Weisheit widerspiegelt, die in dieser weit zurückliegenden Zeit weitaus lebendiger wirksam war als heute. Heute ist diese Überlieferung im östlichen Ideengut so sehr in Fabeln und Allegorien eingehüllt und verkrustet, daß sie kaum zu entdecken ist. Erst Ende des 18. Jahrhunderts begannen westliche Gelehrte mit dem ernsthaften Studium östlicher Schriften, und erst als H. P. Blavatsky gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer Geheimlehre und in weiteren Schriften die erste vollständige Aufklärung über deren esoterischen Inhalt darbot, erfuhren wir allmählich, was uns die klassische östliche Religionsphilosophie zu sagen hatte.

Die Schriften von H. P. Blavatsky machen, wie mir scheint, auch deutlich, wie einseitig die gegenwärtige Beschäftigung mit östlichen Dingen ist, denn sie weist darauf hin, daß eine entsprechende innere oder geistige Überlieferung in der westlichen Welt unleugbar existiert, die immer schon die hauptsächlichsten Ideen enthielt, die wir der östlichen esoterischen Darstellung zugeschrieben haben. Sie sind im platonischen und neuplatonischen Gedankengut zu finden und zum Beispiel im Gnostizismus, der einen Teil der christlichen Lehren bildete, bis er durch verschiedene kirchliche Konzilien im 5. Jahrhundert aus dem kanonischen Schrifttum verbannt wurde. Man findet sie auch in den Lehren einer Anzahl von Personen, die bis zur Reformation und darüber hinaus inmitten der offiziellen christlichen Institutionen lebten. Von diesen seien erwähnt: Giordano Bruno, Pico della Mirandola, Dante, die Meister Eckehart und Wilhelm, Stephan Lochner, Cagliostro, der Theosoph Jakob Böhme, Louis Claude de Saint-Martin und Reverend William Law.

Diese esoterische Überlieferung wurde außerdem in einer Reihe anscheinend unterschiedlicher Bewegungen und mystischer Bruderschaften aufrechterhalten. Das waren zum Beispiel die Albigenser, die Freimaurer und deren Orden, die Rosenkreuzer und die Illuminaten. Wegen der frühzeitigen Zentralisierung der theologischen Macht in der offiziellen Kirchenhierarchie, die möglich war, weil dieses innere Ideengut absichtlich ausgeschlossen und als Ketzerei ausgegeben wurde, mußten sich diese Vertreter der esoterischen Überlieferung, die tatsächlich weltweit verbreitet ist, zwangsweise verbergen, um sich und ihre Lehren vor der Verfolgung zu retten. Die Folge davon war natürlich, daß die westliche Religion, so wie sie der Öffentlichkeit dargeboten wurde, immer weniger imstande war, den brennenden Hunger der Seelen und Herzen mit zufriedenstellenden Erklärungen über den Menschen und das Weltall zu stillen, so wie es auch von den jungen Menschen unserer Tage empfunden wird.

Der Trugschluß, auf den im ersten Absatz hingewiesen wurde, liegt in der Ansicht, daß man in den Osten gehen muß, um Erleuchtung zu erlangen. Vor langer Zeit gelang es unweisen Menschen im Orient, die reinen Vorstellungen über den Menschen und das Weltall, die der Menschheit von großen Weisen und Sehern mitgeteilt worden waren, unter einer beinahe undurchdringlichen Fassade von Ritualen und Fabeln zu verbergen. Später entfernten im Westen ebenso unweise Menschen diese Ideen absichtlich aus den kanonischen Schriften und boten an deren Stelle einen einschläfernden Katechismus an, der nicht auf den beobachteten Gesetzen und der regulären Tätigkeit des sichtbaren und unsichtbaren Universums basierte, sondern auf einer sehr willkürlichen und unlogischen Theologie. Paradoxerweise kann man heute die nützlichsten Interpretationen klassischer orientalischer Philosophie im Westen finden. Den westlichen Suchern muß somit nur noch gezeigt werden, daß die Wahrheit über uns selbst und über den Kosmos ebenfalls vor der eigenen Tür gefunden werden kann, und zwar in einer Form, die für uns besser geeignet ist als einige der weit bekannteren östlichen Formen über dieselben Dinge.