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Die Entscheidung liegt bei uns

Als die Herzen und Gedanken der Menschen noch von den Mysterienschulen beeinflußt wurden, gab es im alten Griechenland bestimmte Methoden, durch die man gewisse Kenntnisse erlangen konnte. Es war ein ganz ordnungsgemäßer Vorgang, vom Staat gebilligt und anerkannt. Eine dieser Methoden bestand darin, Orakel zu befragen, zum Beispiel das von Apollo in Delphi oder das von Trophonius, die ihre Antworten ausnahmslos in symbolische Worte kleideten.

Dabei nahm keiner der damaligen Philosophen an, daß etwa der Sonnengott Apollo persönlich irgendwo unsichtbar stünde und seine Antworten in verschleierten Worten der Priesterin diktiere, die, auf einem Dreifuß sitzend, auf die Eingebung wartete und die so empfangenen Worte weitergab. Man stellte sich vielmehr vor, daß neben großen Sehern, die immer schon da gewesen waren, auch jeder einzelne Mensch durch ein reines Leben, höhergeistiges Streben und Studium den inneren Menschen so läutern kann, daß der Sonnenstrahl - also jener Teil von uns, den die Griechen als Teil der geistigen Sonne bezeichneten - dem aufnahmefähigen Gemüt die Wahrheit zu übermitteln vermag.

Die berühmte Antwort, die vom Orakel zu Delphi einem Abgesandten des Königs Krösus von Lydien gegeben wurde, zeigt, wie das vor sich ging. König Krösus war wegen des politischen und militärischen Vorgehens des persischen Reiches, das damals sehr mächtig war und im Osten Lydiens lag, sehr beunruhigt. Die Perser waren ein angriffslustiges, hochintelligentes, zivilisiertes und ehrgeiziges Volk. Deshalb fragte man das Orakel: "Soll König Krösus, um sein eigenes Volk und Reich vor einer möglichen persischen Invasionsgefahr zu schützen, den König und das Reich der Perser bekriegen?" Die Antwort lautete: "Wenn König Krösus gegen die Perser Krieg führt, wird König Krösus ein mächtiges Reich zerstören."

Hätte die Antwort lediglich zustimmend oder ablehnend gelautet, so wäre das - nach griechischer Anschauung - ein direkter Eingriff der göttlichen Mächte in menschliche Angelegenheiten gewesen, denn die damaligen grundlegenden religiösen und philosophischen Lehren führten dahin, daß der Mensch unter Anwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel sich sein eigenes Schicksal erarbeiten müsse. Die Götter greifen nie in die freie Willensausübung des Menschen ein. Sie unterstützen ihn nur, um dem Allgemeinwohl besser dienen zu können; doch zuvor muß der Mensch selbst den ersten Schritt in dieser Richtung getan haben. Herkules hätte dem Wagenlenker, der seinen Karren aus Unachtsamkeit in ein Loch rollen ließ, nicht beim Herausschieben geholfen, wenn dieser nicht zuerst selbst seine Schulter gegen das Rad gestemmt und mit voller Kraft geschoben hätte.

Was König Krösus anbetrifft, so war ihm die Entscheidung selbst überlassen, welchen Weg er beschreiten wolle: Den selbstsüchtigen Weg der Vergrößerung seiner Herrschaft und seines Ruhmes, oder den Weg zum Wohle aller Betroffenen. Von seinem eigenen Verstand und seiner Intuition allein hing es ab, das Rechte oder das Falsche zu tun. Das ist die Grundlage jeder Ethik. Das Orakel gab dennoch eine Antwort und drückte darin die Wahrheit aus; so verband es eine eindringliche Warnung mit einer erneuten Bekräftigung des ethischen Gesetzes. König Krösus entschied sich für den Krieg gegen die Perser und ihren König Cyrus und verlor damit sein eigenes Königreich: er zerstörte tatsächlich ein mächtiges Reich!