Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Was ist Wahrheit?

In jedem Jahrhundert hat es Weise gegeben, die das Absolute erkannt hatten und doch nur relative Wahrheiten lehren konnten, denn bis jetzt hat es in unserer Rasse noch keinen von einem sterblichen Weibe Geborenen gegeben, der einem anderen Menschen die ganze und endgültige Wahrheit hätte mitteilen können, weil jeder die (für ihn) endgültige Erkenntnis in sich selbst finden muß. So wie es keinen Menschen gibt, der einem anderen völlig gleicht, so muß auch jeder die höchste Erleuchtung durch sich selbst empfangen, wie er es eben vermag. Dieses Licht kann ihm kein anderer Mensch geben. Selbst der größte lebende Adept kann von der Universalen Wahrheit nur so viel offenbaren, wie der Mensch, dem er sie übermitteln will, assimilieren kann, und nicht mehr. Tot homines, quot sententiae (so viele Menschen, so viele Meinungen) - ist eine alte Binsenwahrheit. Es gibt zwar nur eine Sonne, aber ihre Strahlen sind zahllos; und ihre Wirkungen sind wohltätig oder schädigend, je nach dem Wesen und der Konstitution der jeweiligen Objekte, auf die sie scheinen. Polarität ist universal, aber das, was die Richtung bestimmt, ist in unserem eigenen Bewußtsein. In dem Verhältnis, in dem unser Bewußtsein zur absoluten Wahrheit erhoben wird, in dem Maße assimilieren wir Menschen sie mehr oder weniger vollkommen. Aber auch das Bewußtsein des Menschen ist nur die Sonnenblume der Erde. Sie sehnt sich nach dem warmen Sonnenstrahl, doch die Pflanze kann sich lediglich zur Sonne hinwenden und Runde um Runde sich mit ihr drehen, indem sie dem Lauf der unerreichbaren Lichtquelle folgt: ihre Wurzeln halten sie in der Erde fest, und die Hälfte des Lebens verbringt sie daher im Schatten. ...

Dennoch kann jeder von uns, wenn auch nur relativ, auch auf dieser Erde, die Sonne der Wahrheit erreichen und ihre wärmsten und direktesten Strahlen assimilieren, wie unterschiedlich sie auch auf ihrer langen Reise durch die physischen Partikel im Raum geworden sein mögen. Um das zu erreichen gibt es zwei Möglichkeiten. Auf der physischen Ebene können wir unser mentales Polariskop benützen und die Eigenschaften eines jeden Strahles analysieren, um uns dann den reinsten auszusuchen. Auf der spirituellen Ebene müssen wir, um die Sonne der Wahrheit erreichen zu können, ganz ernsthaft für die Entwicklung unserer höheren Natur arbeiten. Wir wissen, daß, wenn wir das Verlangen der niederen Persönlichkeit allmählich abschwächen, und damit die Stimme des rein physiologischen Verstandes zum Verstummen bringen, - des Verstandes, der auf sein Medium oder Vehikel, das organische Gehirn, angewiesen ist, und untrennbar mit ihm verbunden ist - der tierische Mensch in uns dem Spirituellen den Weg frei macht. Ist unsere Höhere Natur aber erst einmal aus ihrem latenten Zustand erweckt worden, wachsen in uns proportional die höchsten spirituellen Sinne und Erkenntnismöglichkeiten und entwickeln sich pari passu mit dem "göttlichen Menschen."

... Daraus ergibt sich also, daß - obwohl "allgemeine abstrakte Wahrheit die kostbarste aller Segnungen ist", viele von uns, wie s. Zt. auch Rousseau, sich inzwischen mit relativen Wahrheiten zufriedengeben müssen. Ganz nüchtern betrachtet sind wir also ein armseliges Häufchen Sterblicher, die schon angesichts einer nur relativen Wahrheit immer in Angst schweben, sie könnte uns samt unseren engstirnigen kleinen Vorurteilen vernichten. Eine absolute Wahrheit gar würden die meisten genausowenig erkennen, wie sie den Mond mit dem Fahrrad erreichen könnten. Erstens ist die absolute Wahrheit so unbeweglich wie der Berg Mohammeds, der nicht zum Propheten kommen wollte, so daß dieser sich selbst zu ihm bemühen mußte. Deshalb müssen auch wir seinem Beispiel folgen, wenn wir der Wahrheit auch nur etwas näherkommen wollen. Zweitens ist das Reich der absoluten Wahrheit nicht von dieser Welt, wohingegen wir zu sehr mit ihr verbunden sind. Und drittens ist der Mensch - obgleich er in der Phantasie des Dichters

... der Inbegriff

aller Vollkommenheit, die die Geschicklichkeit

des Himmels modelliert hat...

ist - in Wirklichkeit nur ein trauriges Bündel von Anomalien und Paradoxien, ein leerer, von seiner eigenen Wichtigkeit aufgeblasener Schwätzer, mit widersprüchlichen und leicht beeinflußbaren Meinungen. ...

Seit der Zeit, als das delphische Orakel dem Fragesteller sagte: "Mensch, erkenne dich selbst", ist keine größere und wichtigere Wahrheit mehr gelehrt worden. Ohne diese Einsicht wird der Mensch für viele relative Wahrheiten, und erst recht für irgendeine absolute Wahrheit, ewig blind bleiben. Der Mensch muß sich selbst kennen, d. h. das innere, nie trügende Wahrnehmungsvermögen erwerben, ehe er irgendeine absolute Wahrheit erkennen kann. Absolute Wahrheit ist das Symbol der Ewigkeit, und kein begrenzter Verstand kann je das Ewige erfassen, und daher kann ihm die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle nicht voll zum Bewußtsein kommen. Um den Zustand zu erreichen, in welchem der Mensch sie sieht und fühlt, müssen wir die Sinne des äußeren, aus Lehm geformten Menschen unwirksam machen. Man wird sagen, das sei eine schwierige Aufgabe, und die meisten Menschen werden es unter diesen Umständen vorziehen, sich mit relativen Wahrheiten zufrieden zu geben. Doch, um sich auch nur der weltlichen Wahrheit zu nähern, ist vor allem Liebe zur Wahrheit um ihrer selbst willen erforderlich, weil sie sonst nicht erkannt werden kann. Und wer liebt in diesem Jahrhundert schon die Wahrheit um ihrer selbst willen? Wer von uns ist überhaupt bereit, sie zu suchen, anzunehmen und daran festzuhalten, inmitten, einer Gesellschaft, in der etwas Erfolgversprechendes auf Äußerlichkeiten aufgebaut sein muß, nicht auf Realitäten; auf Geltungsbedürfnis, und nicht auf dem wahren Wert.

 

Wo findet man nun wenigstens relative Wahrheit? Wenn sie schon zur Zeit Demokrits diesem wie eine Göttin erschien, die ganz am Grunde eines Brunnens liegt, so tief, daß nur wenig Hoffnung für ihre Befreiung bestand, dann dürfen wir erst recht annehmen, daß sie unter den gegenwärtigen Umständen mindestens so weit entfernt und verborgen ist, wie die dunkle Seite des Mondes.

Doch selbst dann, wenn die Göttin, die am Grunde des Brunnens wohnt, aus ihrem Gefängnis entweichen würde, könnte sie dem Menschen nicht mehr geben, als er zu assimilieren imstande ist. Inzwischen kann sich aber jeder an den Brunnen setzen - dessen Name Erkenntnis ist - und in die Tiefe blicken, in der Hoffnung, wenigstens die Widerspiegelung des reinen Bildes der Wahrheit auf dem dunklen Wasser zu sehen. Darin liegt jedoch eine gewisse Gefahr, wie Richter meinte. Sicherlich wird gelegentlich eine Wahrheit, wie von einem Spiegel reflektiert, an der Stelle erscheinen, auf die wir blicken, und auf diese Weise den geduldigen Beobachter belohnen. Aber, so fügt der deutsche Denker hinzu: "Ich habe gehört, daß einige Philosophen bei der Suche nach Wahrheit, in ihrer Huldigung ihr eigenes Bild im Wasser sahen und dann dieses bewunderten."

... der "Beweis für unsichtbare Dinge" ist nur für den ein Beweis, der diese sieht, hört und spürt. Es darf nichts aus dem "Allerheiligsten" herausgezerrt werden, aus dem Tempel des unpersönlichen, göttlichen Ego oder des innewohnenden Selbst. Jede Tatsache außerhalb seines Wahrnehmungsvermögens kann, wie gezeigt wurde, bestenfalls nur eine relative Wahrheit sein - ein Strahl der absoluten Wahrheit jedoch kann sich nur in dem reinen Spiegel seiner eigenen Flamme reflektieren - in unserem höchsten Spirituellen Bewusstsein.

 

 

- Aus einem Leitartikel in Lucifer, 15. Februar 1888