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Band 2: Reinkarnation

Periodische oder zyklische Tätigkeit kann man mit bleibender Gültigkeit eine Gewohnheit der Natur nennen. Auf die gleiche Art und Weise werden auch menschliche Gewohnheiten erworben, nämlich durch Wiederholung, bis die betreffende Wesenheit schließlich automatisch der Gewohnheit folgt; dann ist sie das „Gesetz“, das ihr Handeln leitet. So sind auch Tod und Geburt wirklich tief verwurzelte Gewohnheiten der reinkarnierenden Wesenheit, und diese Reinkarnations-Gewohnheit wird die Zeitalter hindurch andauern, bis sie allmählich durch die wachsende Abneigung des reinkarnierenden Egos für materielles Leben zerbrochen wird, mit anderen Worten, weil die Anziehung zu dieser Sphäre und diesem Plan langsam ihre Macht über das sich wiederverkörpernde Ego verliert.

… Wir Menschen bilden keine Ausnahme hinsichtlich der kosmischen Methoden und Funktionen der Natur. Warum sollten wir – wie könnten wir? Wir sind nicht verschieden vom Universum, vielmehr sind wir ein untrennbarer und integraler Teil davon.

– Gottfried von Purucker, The Esoteric Tradition, S. 655

 

 

Wiederverkörperung – eine Gewohnheit der Natur 

Der Mensch ist eine unsterbliche, spirituelle Monade, die den Geist und den Körper als ein Vehikel benützt, um sich in der Welt zum Ausdruck zu bringen und Erfahrungen zu sammeln. Viele neigen dazu, sich selbst als ein Produkt einer materiellen Evolution zu betrachten. Dies ist eines der größten Hindernisse im Leben, denn dadurch wird der spirituellen Natur des Menschen wenig oder gar keine Beachtung geschenkt und die Angst vor dem Tode verstärkt. Wie kann jemand wirklich glücklich sein und das Leben sinnvoll finden, wenn er daran glaubt, daß mit dem Tod alles aufhört? Wenn wir davon ausgehen, daß die sinnlich wahrnehmbare Welt die einzige Wirklichkeit ist, können wir die Tatsache des Fortbestehens nach dem Tode niemals vor uns selbst beweisen. Jemand, der sein gesamtes Leben in einem dunklen Kerker verbringt, kann nicht beweisen, daß es eine Sonne gibt. Noch weniger wird er einsehen, daß sein Leben in vielerlei Hinsicht von dem unsichtbaren, aber nichtsdestoweniger alles erhaltenden Leben der für ihn nicht wahrnehmbaren Sonne abhängig ist.

Wir müssen uns aus den Kerkern des Materialismus befreien und in das Sonnenlicht der spirituellen Wahrheit treten. Dann werden wir in uns selbst die Kraft entwickeln können, um uns vor uns selbst zu beweisen, daß der wirkliche, innere Mensch – der essentielle Kern in jedem von uns – immer existiert hat, unsterblich ist und ebensowenig vernichtet werden kann wie das grenzenlose Universum, von welchem er ein untrennbarer Teil ist.

Weiterhin muß es auch eine befriedigende Erklärung für die Ungerechtigkeiten geben, die das Leben in so großem Maße zu beherrschen scheinen. Es gibt kaum jemanden, der sich nicht dann und wann zurückgedrängt fühlt. Haben nicht viele Menschen angeborene Begabungen, die in diesem Leben keine Möglichkeit einer Entwicklung erfahren, und Wünsche, die nicht in Erfüllung gehen können? Und werden nicht auch viele mit einer Neigung zum Bösen geboren, ohne daß sie die Möglichkeit bekommen, diese zu überwinden? Die so deutliche Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten ist ausreichend genug, um das menschliche Herz zu verbittern und seine moralische Kraft verkümmern zu lassen.

Es ist äußerst wichtig, daß der Mensch erkennt, welchen Platz er im evolutionären Plan einnimmt. Er muß einen besseren Einblick in das Ziel und die Bestimmung der menschlichen Rasse gewinnen. Die Theosophie bringt den Menschen in Beziehung zum Universum und zeigt, daß sein persönliches Bewußtsein ein Strahl des universellen, kosmischen Bewußtseins ist. Mit Nachdruck stellt sie fest, daß der Mensch essentiell ein Bewußtseinszentrum ist und nicht nur ein Körper, dem bei der Geburt auf die eine oder andere Weise eine Seele zugefügt wurde. Auch sind wir nicht das zufällige Produkt blinder, mechanischer Kräfte. Jeder Mensch ist Teil eines lebenden, organischen Universums. Das Universum selbst ist das Produkt der Evolution und trägt in sich seinen eigenen, sich entwickelnden Lebensplan, in dem alles enthalten ist – Atome, Menschen, Nebelhaufen, Welten, Sonnensysteme und Galaxien – in einem großen Entwicklungsplan, in dem das niedrigste Insekt wie das größte Genie seinen Platz hat.

In einer winzigen Eichel ist die Geschichte von Generationen von Eichen eingebettet. Als Reaktion auf die Einflüsse der Natur entfaltet sich aus dem Herzen der Eichel ein mächtiger Baum, der zum Ausdruck bringt, was die Eiche in ihrer Evolution in einer ungeheuren Vergangenheit entwickelt hat. Das gleiche gilt für den Menschen. In dem göttlichen Bewußtsein, das die Quelle unseres persönlichen Lebens ist, ist die Essenz einer ungeheuren Vergangenheit enthalten, die sich über unvorstellbare Zeiten zurück erstreckt. Unser Erscheinen als Mensch auf dieser Erde ist nur ein Akt im großartigen Drama unserer Evolution.

Die menschliche Rasse ist auch keineswegs eine neue Entwicklung der Natur. Der Mensch entstammt früheren evolutionären Zyklen und nahm hier auf der Erde, die sein gegenwärtiges Übungsfeld ist, wieder einen Körper an. Überdies muß angemerkt werden, daß all die Zeitalter hindurch nicht immer wieder neue Seelen „erschaffen“ wurden. Die Anzahl der sich entwickelnden Seelen auf dieser Erde, die unser Vorstellungsvermögen bei weitem übertrifft, ist festgelegt und stets gleichbleibend. Das bedeutet, daß alle Menschen als evolvierende Egos, in Übereinstimmung mit der Ökonomie der Natur, immer wieder auf der Erde wiedergeboren werden. Wir alle, die unsere heutige Zivilisation bilden, sind zuvor bereits viele Male hier gewesen. Wir waren die Männer und Frauen, welche die großen Kulturen der Vergangenheit formten und wir waren auch in den vielen großartigen vorgeschichtlichen Rasse1 verkörpert, worüber H. P. Blavatsky in ihrer Geheimlehre berichtet.

Die Theosophie geht deshalb von der Präexistenz als einem notwendigen Aspekt der Ewigkeit, etwas, das einen Anfang hat, muß notwendigerweise auch ein Ende haben. Die Natur macht das deutlich genug. Was wir Ewigkeit oder Unsterblichkeit nennen, muß sich endlos erstrecken, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Das innerste Selbst des Menschen ist ein unsterbliches Wesen – ein Gott –, welches sich von Zeitalter zu Zeitalter in neue Körper oder Vehikel kleidet, um darin alle Erfahrungen zu machen, die in dem Universum, zu dem es gehört, möglich sind, und so das Größtmögliche an Wachstum und Selbstausdruck zu erreichen.

Dieses Wachstum und diese Evolution sind ohne Anfang und ohne Ende. Alle Wesen haben daran teil, und sie machen Gebrauch von jenen Körpern, die dem Stadium der Entwicklung, in dem sie sich gerade in diesem Moment befinden, angepaßt sind. Wachstum vollzieht sich nicht in einer geraden, aufstrebenden Linie, sondern in Kreisläufen, die von kurzer Dauer und Umfang sein können, aber auch Perioden und Gebiete umfassen, welche unser Vorstellungsvermögen überschreiten. Diese Zyklen werden durch einen Beginn oder eine Geburt gekennzeichnet, einen Aufstieg und Höhepunkt, gefolgt von einem Niedergang und Ende oder Tod, denen wiederum ein neuer Beginn nachfolgt, wonach sich alles wiederholt. Jede Geburt ist darum eine Wiedergeburt und jeder Tod eine Zeit der Ruhe, die einer neuen Lebensperiode voranschreitet.

Dies gilt für alles, was lebt – Universen, Sonnensysteme, Sonnen, Welten, Menschen, Tiere, Pflanzen, Zellen, Moleküle und Atome. Sie alle kennen einen Anfang, gefolgt von einer Periode geoffenbarter Existenz und einem Ende oder „Tod“, welcher, nach einer Periode der Ruhe in ungeoffenbarter Existenz, wieder durch einen neuen Anfang und eine neue Periode der Existenz abgelöst wird. Das, was wir wahrnehmen sind die Formen, die durch ein Bewußtseinszentrum beseelt wurden, welches das eigentliche evolvierende Wesen ist. Die Formen sind jedoch immer zusammengesetzt und bestehen aus kleineren Leben mit einer eigenen Form, einem eigenen Bewußtseinszentrum und einer eigenen Evolution. Im Falle des Menschen denken wir an die Zellen, im Falle des Universums an die zahllosen Himmelskörper, die zusammen das äußere Universum bilden. So erkennen wir, daß die Natur überall dem gleichen Muster folgt und daß das, was sich im Großen ereignet, sich im Kleinen wiederholt.

Das menschliche Leben ist ein notwendiger und sehr bedeutender Teil des kosmischen Entwicklungsplanes. Wiederverkörperung ist eine Äußerung des universalen Lebensrhythmus, das Wissen von dem Gewohnten in der Natur, das wir überall wahrnehmen, wie beispielsweise bei Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Schlafen und Wachen, Leben und Tod, den Jahreszeiten, dem Aufkommen und Verfall von Kulturen usw. Beim Menschen bezeichnen wir den Prozeß der Wiedergeburt oder der Wiederverkörperung mit dem Ausdruck Reinkarnation, was „wieder zu Fleisch werden“ bedeutet oder abermals ein Gewand oder einen Körper von Fleisch anzunehmen. Für die verschiedenen Formen der Wiederverkörperung gibt es unterschiedliche Namen, die sich auf alle Wesen vom höchsten bis zum niedrigsten beziehen, aber hier haben wir es nur mit der Form zu tun, die den Menschen betrifft, und diese wird Reinkarnation genannt. Es ist die periodische Wiedergeburt des spirituellen Egos als Mensch auf der Erde.

Wir fragen uns natürlich, worauf der Zweck des Lebens beruht, denn in dem heutigen Durcheinander von Theorien und Auffassungen scheint es keinen klaren Hinweis auf das Wie und das Warum unserer Anwesenheit auf der Erde zu geben. Kurz gesagt, der Sinn des Lebens ist, das Sterbliche zum Unsterblichen zu erheben. Oder, um die Idee etwas zu erweitern, der unsterblichen, spirituellen Potenz im Kern des menschlichen Wesens Zeit und Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln, zu wachsen und sich zur Vollkommenheit zu entfalten. Der persönliche Mensch, das gewöhnliche, alltägliche Selbst, ist nicht unsterblich. Herr Müller und Frau Schmidt sind keine unsterblichen Wesen. Sie sind nichts anderes als Persönlichkeiten, und als solche reinkarnieren sie nicht. Sie sind nur ein unvollkommenes Abbild der Bewußtheit dahinter, und es ist dieses Bewußtsein, dieses Ego, das reinkarniert.

Wer hatte nicht auch schon einmal das Gefühl, daß das Leben zu kurz ist, zu unzureichend, um alles das zum Ausdruck zu bringen, was man an Inspiration und Fähigkeit in seiner eigenen Natur fühlt. Wie oft hört man, daß jemand sagt: „Nun, wo ich alt bin und der Tod naht, habe ich gerade gelernt, wie ich leben sollte.“ Aber so grausam und verschwenderisch arbeitet das Universum nicht. Allein die Tatsache, daß wir intuitiv wissen, daß große Reserven an Kraft und Möglichkeiten in uns schlummern, die nach Ausdruck suchen, und das tiefe Verlangen in uns, das größere Selbst zu entwickeln, es zu sein, zeugen täglich von dem wirklichen Ziel, das die Natur uns bereitgestellt hat. Nur weil wir von unserem begrenzten alltäglichen Bewußtsein derart beansprucht werden, und nur in seltenen Augenblicken in dem tiefen göttlichen Verlangen des größeren Wesens im Inneren leben, sind wir uns der größeren Möglichkeiten, die das Leben für uns bereithält, meistens nicht bewußt.

Wir sollten vor allem zuerst versuchen, zu erkennen, daß wir in unserem innersten Wesen ein göttliches Bewußtsein, ein göttliches Ego sind, und daß dieses Ego, das wir selbst sind, schon immer existiert hat und niemals aufhören wird zu sein und zu wachsen und sich zur Vollkommenheit hin zu entwickeln. Wir sollten unser ganzes Wünschen und Bestreben darauf richten, uns dieser Einheit mit dem göttlichen Ego bewußt zu werden, und es in unserem täglichen Leben als eine größere und tiefere Individualität als die unseres persönlichen Bewußtseins zu offenbaren. Dann werden wir ein neues Leben beginnen. Dann werden wir zu einem Schöpfer und werden aus uns selbst unsere eigene unbegrenzte, göttliche Bestimmung zum Vorschein bringen. Schließlich werden wir selbstbewußt an dem wirklichen Ziel der Evolution mitarbeiten. Nur durch die Reinkarnation kann der Mensch die Fülle seines verborgenen Reichtums an Kraft und Fähigkeiten, deren wir uns alle in gewissem Maße bewußt sind, zum Ausdruck bringen, gebrauchen und vervollkommnen.

Durch die Reinkarnation ist der Mensch in der Lage, alle Arten menschlicher Erfahrung zu durchlaufen, welche die Erde bietet. Mit jedem neuen Leben gestaltet sich der Charakter durch die Berührung mit der Umgebung vielseitiger. Neue Kräfte und Fähigkeiten entfalten sich aus dem Inneren. Durch das Leid, das wir durchleben, und das tatsächlich unser bester Lehrmeister ist, werden Schwächen und Selbstsucht überwunden, lernen wir unsere Begrenzungen zu erkennen und zu überwinden. Jedes neue Leben offenbart uns eine weitere Chance. Jeder Mensch bekommt auf diese Weise Zeit und Gelegenheit, sich selbst erneut zu formen, und kann durch Selbstbeherrschung und Wiedergutmachung des Schadens, den er möglicherweise anrichtete, zu Besserem gelangen. Jemand, der beispielsweise keine Möglichkeit hatte, seine musikalischen oder anderen Gaben zu entwickeln, weil er in diesem Leben völlig von der Sorge um andere beansprucht wurde, wird in einem folgenden Leben durch die moralische Kraft, die durch das Pflichtbewußtsein erweckt wurde, mehr Gelegenheit finden, seine bis dahin noch gesteigerte Begabung zu entwickeln.

Wenn wir unsere Möglichkeiten also gut wahrnehmen, werden wir von Leben zu Leben beständig wachsen, bis in einer zukünftigen Inkarnation auf dieser Erde der Charakter zum göttlichen Genius erblühen wird und wir in der Fülle unseres wahren spirituellen Seins leben und arbeiten werden.

Fußnoten

1. Siehe Die Geheimlehre, Band II, S. 3-5 engl. [back]