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Tausend Lichter entzünden

16 – Die tägliche Initiation

Jedes Volk hat den heiligen Kern des Göttlichen in seinem tiefsten Herzen hervorgebracht. Wie seltsam ist es angesichts dieses wunderbaren Erbes, dass wir uns jemals ‘der Gegenwart der Götter beraubt’ fühlen sollten, als wäre das Band mit unserer göttlichen Quelle geschwächt und nicht länger sicher. Wir sind nicht die erste Zivilisation, die sich verloren und verwirrt fühlt, noch werden wir die letzte sein, aber das bedeutet nicht, dass es kein Heilmittel gibt. Immer war Hilfe in unserer Reichweite: Hilfe, unser ganzes Wesen mit den aufbauenden Energien des Universums zu vereinen und sich zu weigern, die – natürlich nicht absichtlich, aber womöglich durch ein Versäumnis wirkenden – zerstörerischen Kräfte zu stärken, die stets bereit sind, eine unentschlossene Seele anzugreifen. Dennoch müssen wir durchhalten, denn sobald wir einmal die Wahl treffen, werden all die ‘Teufel’ in der Unterwelt unserer Natur anscheinend auf uns losgelassen, um unsere Integrität zu prüfen. Je ernsthafter wir sind, umso so feiner und hartnäckiger wird der Widerstand sein – nicht von anderen zuwege gebracht, sondern von unserem eigenen höheren Selbst.

Darin liegt nichts Mysteriöses. Wahrscheinlich hat jeder die Erfahrung gemacht, dass – wenn wir uns entscheiden, unser gewohnheitsmäßiges Denken zu ändern – sich anscheinend alles und jeder gegen uns verschwört. Das ist unvermeidlich, denn die Intensität der Aspiration fordert die Götter heraus, die ‘eifersüchtig’ auf uns Menschen sind, die sich unvorbereitet in ihre Domäne wagen. Nur diejenigen, die beinahe gottgleich geworden sind, dürfen eintreten. Und da die Götter in einem tiefen Sinn wir selbst sind, kann das Eingehen auf unsere aufdringlichen Forderungen eine Lawine von Karma aus vergangenen Leben, das sich noch nicht ausgewirkt hat, auslösen. Das kann für das persönliche Selbst schockierend sein, aber nicht für den Teil von uns, der tief im Innern weiß, dass wir uns bis zur Erschöpfung unseres Durchhaltevermögens nach der Prüfung gesehnt haben.

William Q. Judge gebraucht die kryptische Formulierung „karmische Ausdauer“ im Zusammenhang mit Aspiranten, die vorübergehend in „einen psychischen Strudel oder einen Wirbel des Okkulten“ geraten, in den selbst andere hineingezogen werden können und in dem „die Samen des Guten oder Bösen zur Aktivität heranreifen“.1 Das Ergebnis wird nicht nur von unserer Willensbeständigkeit und Selbstlosigkeit des Motivs abhängen, sondern auch von der Reserve unserer moralischen und spirituellen Beständigkeit, unserer eigenen Ausdauer. Das Wort „Ausdauer“, englisch „stamina“ – vom lateinischen Wort für „Kette, Faden, Gewebe“ – passt hier gut, denn die Kettenfäden auf dem Webstuhl werden gewöhnlich fester gezogen als der Schuss, da sie die Grundlage bilden, auf welche die Querfäden gewebt werden. Die täglichen Begegnungen und Wechselwirkungen mit anderen und die Einwirkungen der Ereignisse auf uns sind alle Karma: Die Kette stellt das Hervorfließen vergangener Erfahrung dar, während unsere Reaktionen, die wir gewählt haben, der Schuss sind, den das Schiff der Seele trägt, wenn wir unsere Vergangenheit und Zukunft auf der Kette der Vergangenheit weben.

Nicht alles ist Mühsal und Versuchung. Unser innerer Gott kann ein strenger Lehrmeister sein, aber er ist unendlich gerecht und deshalb unendlich mitleidsvoll. Welche Saaten der Disharmonie wir auch immer gesät haben – die Stärke unseres Sehnens bringt sie ganz gewiss zum Keimen, aber ebenso belebt sie die Samen des Edlen im Charakter, so dass wir innerlich gestützt und ermutigt werden. Sie kann wahrlich eine Flut von Licht auf unseren Pfad werfen. Eine solche Entschlossenheit findet in unserem innersten Selbst einen Widerhall, und wenn wir Leben um Leben wiederkehren, führt sie uns weiter und weiter, um die Verantwortung erneut aufzunehmen. Jeder Tag, jedes Jahr, jedes Leben beseelen wir die alte Entschlossenheit mit neuer Kraft. Katherine Tingley spricht darüber sehr gekonnt in ihrem Buch Theosophy: The Path of the Mystic [Theosophie: Der Pfad des Mystikers]:

Ein Gelöbnis ist eine Tat, die sich wie ein Stern über den Maßstab der gewöhnlichen Handlungen des Lebens erhebt. Es ist ein Zeuge, dass der äußere Mensch in diesem Augenblick sein Einssein mit dem Innern und dem Zweck seines Daseins erfasst …

In diesem Augenblick wird der strahlende Pfad des Lichts mit dem Auge des reinen Schauens erblickt; der Jünger wird wiedergeboren, das alte Leben wird zurückgelassen, er betritt einen neuen Weg. Einen Augenblick lang fühlt er die Berührung einer führenden Hand, die sich aus der inneren Kammer immer nach ihm ausstreckt. Für einen Augenblick erhascht sein Ohr die Harmonie der Seele.

Dieses und mehr noch erfahren diejenigen, die ihr Gelöbnis mit ganzem Herzen ablegen, und in dem Maße, wie sie das Gelöbnis und auch ihre Anstrengungen beständig erneuern, kehren die Harmonien wieder und wieder und der klare Pfad wird aufs Neue überschaut.

… Jede Anstrengung bahnt den Pfad für die nächste und in kurzer Zeit wird ein Augenblick der Stille dem Jünger durch die Stärke seiner Seele Hilfe bringen.

– S. 53-54

Ein solches Gelöbnis ist ein Anklopfen an das Tor unseres höheren Selbst. Wenn das Anklopfen aufrichtig ist, können die Erleuchtung und die Stärke, die in uns fließen, zu einem transformierenden Einfluss werden, der uns helfen kann, die Absicht des höheren Selbst für unser gewöhnliches Selbst intuitiv zu erfassen. Wenn das Motiv, der Menschheit zu dienen, willentlich verstärkt wird, nimmt das höhere Selbst unser Leben an die Hand und wir bemerken, dass wir in Situationen geführt werden, die uns bis in das Innerste prüfen, damit wir unseren Wert und die Tiefe unseres Bemühens unter Beweis stellen – nicht zum eigenen Nutzen, sondern damit wir anderen Licht und Inspiration bringen können.

Das höhere Selbst ist unser wirklicher Lehrer, unser innerer Buddha. Das ist eine altbewährte Wahrheit: Sie legt die Verantwortung für Wachstum und inneren Fortschritt direkt in unsere Hände. Wir können niemand als uns selbst für unsere Dummheiten tadeln, es gibt niemanden, dem wir unsere Lasten aufladen können. Wir sind unser eigener Erwecker, unser eigener Erlöser, denn wir sind die Stufen, die wir steigen müssen, und die Wahrheit, die zu finden wir uns so sehnen. Dennoch fühlen sich wenige von uns ausreichend dafür gerüstet, die Anforderungen Dharmas zu erfüllen, oder selbstdiszipliniert genug, um mit Gleichmut der Wirkungsweise des täglichen Karmas zu begegnen. Vertrauen ist der Schlüssel: Karma zu vertrauen, bedeutet, uns selbst zu vertrauen und darauf zu vertrauen, dass wir die inneren Mittel haben, zu erledigen, was anfällt. Wenn wir die Wahl getroffen haben, achtsam zu leben, gibt es keinen Weg zurück. Allerdings wird nicht verlangt, mehr als einen Schritt auf einmal zu machen; das ist unser Schutz, denn durch die Begegnung mit den Herausforderungen des Lebens sammeln wir Tag für Tag Stärke und ausreichend Weisheit für den täglichen Bedarf.

Sobald wir die Tatsache erfassen, dass wir der Pfad vor uns sind, werden wir nie mehr jene schmerzliche Einsamkeit der Verzweiflung fühlen, denn wir werden mit unserer Lichtquelle in Berührung gekommen sein – wie flüchtig auch immer. Sollten Phasen des Verzagtseins zurückkehren, werden sie keinen festen Halt finden, denn ein Teil von uns, der in Gemeinschaft mit unserem höheren Selbst getreten ist, bleibt in gutem Kontakt mit der größeren Bruderschaft des Geistes, die jeden Aspiranten auf dem Pfad berührt. In dem Maß, wie wir es unserer Buddha-natur erlauben, unser gewöhnliches Selbst zu erleuchten, wird das Tathāgata-Licht, die Christos-Sonne, unser Wesen und den Pfad vor uns erstrahlen lassen. Da wir eine Menschheit sind, lässt der beleuchtete Pfad eines einzigen Individuums den Pfad aller anderen Menschen in diesem Maß heller werden.

Es ist eine Binsenweisheit, dass niemand andauernd auf den Höhen leben kann. Wir sind gezwungen, in die Täler der täglichen Erfahrung zurückzukehren, wo wir noch Lektionen zu lernen haben. Aber das aus den Höhen erblickte Panorama ist, wenn es auch noch so kurzlebig war, unsere Stütze. Es braucht Mut, dem höheren Selbst zu gestatten, uns in jene Umstände zu führen, die alte karmische Ursachen zum Erblühen bringen, deren Wirkungen auf uns und andere wir nun begegnen müssen. Hat man sich jedoch einmal darauf eingelassen, ist die Sache erledigt. Wenn mitunter alles schiefzulaufen scheint und jede Anstrengung, die wir unternehmen, mit Gegenwehr beantwortet wird, ist das zu erwarten.

Die von uns getroffene Wahl, dem Weg des Mitleids zu folgen, ist ihrem Wesen und Ziel nach eine stromaufwärts gerichtete Bemühung. Es ist keine einfache Sache, gegen die Strömung zu schwimmen; es erfordert Mut, Jahr um Jahr einen Kurs zu halten, der – selbst wenn wir tief im Innern wissen, dass es für uns der richtige Pfad ist – manchmal unserem persönlichen Selbst ziemlich entgegengestellt zu sein scheint. Wenn wir jedoch darüber nachdenken, werden wir durch eine innere Bestätigung erwärmt und gestärkt, dass wir uns keine großartigere Gelegenheit hätten wünschen können. Von Karma wurde es uns gestattet – in welch geringem Ausmaß auch immer –, im mitleidsvollen Orden des Universums mitzuhelfen: Das ist ein Segen, nach dem sich die Seele während vieler Leben im Stillen gesehnt hat.

Wir lernen früh, dass jede Aspiration durch Selbstdisziplin aufrechterhalten werden muss. Heute strapazieren die Menschen ihre Seelen, sie sehnen sich danach, sich über ihr gewöhnliches kleines Selbst zu erheben und eine Vision dessen zu erhaschen, was jenseits und innerlich ist. Viele von uns sind jedoch so sehr von ihren eigenen Ideen über den Sinn des Lebens erfüllt, dass wir wie der Schüler sind, der auf der Suche nach Wissen zu dem Zenmönch kam: „Lehre mich, Roshi, was Zen ist.“ Der Zenmeister lud ihn zum Tee ein. Er begann Tee in die Tasse zu gießen und er goss und goss und goss, bis der Schüler es nicht länger ertrug und beinahe schrie: „Aber die Tasse ist voll. Siehst du das nicht?“ Der Roshi sagte ruhig: „So wie dein Denkvermögen. Du bist so erfüllt von deinen eigenen Ideen und Meinungen, dass es nicht einmal für einen Tropfen Weisheit Platz gibt. Leere dich selbst, leere dein Denken von all deinen vorgefassten Meinungen, leere dein Herz und deine Seele von allen unpassenden Gedanken und Gefühlen, und du wirst in Überfluss gefüllt.“

Wir alle wissen, was an uns wertlos ist. Das Bemühen, die ungezähmten Neigungen in unserem Charakter zu besänftigen, ist eine Art Reinigung, eine Reinigung, die wir jeden Tag durchführen können. Das ist es, was Paulus meinte, als er zum Volk von Korinth sagte: „Ich sterbe täglich“ – Tag um Tag versuchte er, innerlich „wiedergeboren“ zu werden. Das ist die ‘tägliche Initiation’, von der W. Q. Judge sprach – das Leben selbst mit seinen vielfältigen Freuden und Sorgen. Beide haben ihre Versuchungen und Prüfungen, wobei der Umgang mit Glück oft schwieriger ist als die tagtäglichen Frustrationen und Enttäuschungen. Die ständige Forderung an uns, zwischen dem Größeren und dem Geringeren zu wählen, zwischen dem Selbstlosen und dem Selbstzentrierten, bringt uns von Angesicht zu Angesicht mit uns selbst.

Es geht darum, zu den ersten Prinzipien zurückzukehren: Wir beginnen von innen, von unserem zentralen Selbst. Was ist unser Motiv? Wir neigen dazu, uns Initiation als etwas weit Entferntes von den täglichen Ereignissen vorzustellen, aber jedes Mal, wenn wir eine Schwäche besiegen, jedes Mal, wenn wir den Mut haben, uns selbst so zu sehen, wie wir sind, prüft unser höheres Selbst unser niederes Selbst; wir prüfen die Wesensart unseres Charakters. „Feuer prüft Gold, Widrigkeiten prüfen starke Seelen“, schrieb Seneca, ein römischer Staatsmann und Philosoph des 1. Jahrhunderts nach Christus.2 Jede Art von intensivem Leiden, besonders wenn – durch Willensschwäche, emotionale Instabilität oder ein Gefangensein in einem Strudel von Gedanken unterhalb unseres eigenen inneren Maßstabs – selbst verursacht, kann eine Initiationserfahrung werden. Das Wort Initiation bedeutet „Anfang“, das bewusste Umblättern zu einer neuen Seite in unserem Lebensbuch. Die Finsternis unserer individuellen Hölle durchdrungen zu haben und – mit der Fähigkeit, seinen Forderungen zu begegnen – zum Licht unseres strahlenden Selbst emporgetaucht zu sein, ist eine Art von Initiation.

Wenn wir innerlich gefestigt sind, sind wir gegen alles gewappnet, was geschieht; wenn wir das nicht sind, sind wir – sobald wir tatsächlich ernsthaften Herausforderungen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen – nicht darauf vorbereitet, verantwortlich zu handeln. Wir können das Rad als eine Metapher verwenden: Wenn wir in Gedanken und Aspiration so nahe wir können an der Nabe des Seins leben, wird uns das sich drehende Rad Karmas nicht zermalmen; aber wenn wir am äußeren Rand und Umfang unseres Lebens leben, gehen wir das Risiko ein, unter das karmische Rad zu geraten. Das kann geschehen und geschieht häufiger als nötig; und es ist grausam, Zeuge davon zu sein – und es zu erfahren. Dennoch lernen wir unschätzbare Lektionen an Demut und Mitleid: Wir gewinnen nicht nur unermesslich, sondern wir werden dadurch hoffentlich auch ausreichend empfindsam, um anderen bei der Erkenntnis zu helfen, dass sie – wenn sie den Radius ihres Wesens zu ihrer Nabe emporsteigen – Führung, Stärke und ein Licht auf ihrem Pfad finden werden.

Eine unserer edelsten Gelegenheiten besteht darin, unseren Mitmenschen Vertrauen zu schenken, so dass wir alle – egal wie schwach wir sind oder zu sein glauben – genügend Kraft haben, unser Leben auf eine ehrenhafte, gedankenvolle und selbstdisziplinierte Weise zu leben. Wir müssen zulassen, dass unser höheres Selbst die Verantwortung für das Schicksal unseres Lebens übernimmt. Gibt es irgendein größeres Geschenk, das man anbieten kann, als dem anderen zu versichern, dass er das besitzt, was nötig ist, um mit seinem Karma zurechtzukommen – erhobenen Hauptes, gleichgültig wie oft er vielleicht strauchelt? Wir sind nicht allein in unseren Kämpfen. Jeder hat irgendein Kreuz zu tragen, irgendeine Charakterschwäche zu überwinden; genauso hat jeder Mensch seine oder ihre Stärke, um darauf aufzubauen. Einfach gesagt: Wenn wir die innere Stärke haben, ‘durchzuhalten’, ungeachtet wie oft wir straucheln oder wie tief wir fallen, gibt es kein Versagen, sondern nur Triumph.

Wir sind transzendente Wesen, kosmisch an Vermögen und benutzen menschliche Vehikel zum Wachstum und zur Bewusstseinserweiterung. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind ist hier auf Erden als Ergebnis äonenlanger Erfahrung, jeder von uns betritt das irdische Leben als eine alte Seele für einen göttlichen Zweck. Es gibt nicht eine einzige Straße der Erfahrung oder Pflicht, die nicht mit den Augen unseres kosmischen Selbst betrachtet werden kann. Das verleiht unserer Erfahrung hier auf Erden eine gänzlich neue Perspektive. Von nun an wissen wir, unabhängig von unseren Lebensumständen, dass wir niemals von unserem Karma verschluckt werden können, weil die lange Perspektive vieler Leben eine überzeugende Erinnerung an die unbegrenzten Hilfsquellen ist, auf die wir uns verlassen können.

Die Natur verlangt von ihren Kindern das Äußerste, um ihr vollständiges Potenzial zur Blüte zu bringen. Jeden Augenblick, Tag für Tag, tragen wir Menschen mit unseren wunderbaren Denkfähigkeiten und unserer Intuition entweder zum Wohl oder Weh der menschlichen Rasse bei und prägen damit die noumenalen oder verursachenden Bereiche. Natürlich sollte niemand von sich oder anderen Vollkommenheit erwarten. Unser Ziel liegt nicht darin, Selbstvollkommenheit zu erlangen; es liegt vielmehr darin, dem Leben des Dienens jener nachzueifern, die von Zeit zu Zeit als Lichtbringer, als neuerliche Träger der alten Weisheitslehren erscheinen. Was auch immer unsere Rolle, ob nun Arbeiter, Hausfrau oder Fachmann, ist – wenn wir unser Bestes geben, um unser besonderes Dharma zu erfüllen, um das Ganze anzuheben, sind unsere Schwächen zweitrangig. Wir müssen sie zwar immer noch anpacken, aber es gibt keinen Grund, ihnen übertriebene Aufmerksamkeit zu widmen.

Wir und die gesamte Menschheit müssen unser Bewusstsein aus dem herausnehmen, was für die Ebene des kreativen und konstruktiven Teils unserer Natur zerstörend und zerstreuend ist. Der wirkungsvollste Weg zu Wachstum ist Selbstvergessen, während wir unseren Verantwortungen nachgehen. Das klingt recht gewöhnlich und dennoch funktioniert es, weil wir – wenn wir von der völligen Aufmerksamkeit auf die naheliegende Aufgabe eingenommen sind – für diesen Zeitraum automatisch unsere Sorgen beiseitelegen. Wenn wir zu ihnen zurückkehren, haben wir oft zu unserer Überraschung eine klarere Vorstellung, wie wir sie angehen sollen.

In seinen Yoga Sūtren riet Patañjali aus dem alten Indien zur Kontrolle des Denkvermögens und der Myriaden Gedanken und Bilder, die wohl oder übel durch unser Bewusstsein ziehen: Wenn wir die Flüssigkeit unseres Denkens in ein Gefäß gießen, nimmt es seine Form an, was darauf hindeutet, dass wir achtsam darauf sein müssen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Ein verwandter Gedanke wird einem anderen indischen Weisen, Yāska, zugeschrieben: yadyad rūpaṃ kāmayate devatā, tattad rūpaṃ devatā bhavati, „Nach welchem Körper (oder Form) sich ein göttliches Wesen sehnt, zu genau diesem Körper (oder Form) wird das göttliche Wesen“.3 Unvermeidlich wird unser Bewusstsein in das Gefäß des Denkens oder der Emotionen fließen, zu dem wir die größte Affinität haben. Um unsere momentanen Normen zu ändern und zu erweitern, müssen wir die vorhandenen Gefäße verändern und vergrößern oder aus ihnen ausbrechen. Das erfordert Mut und Willen. Wenn wir uns für das Licht im Innern öffnen, strömt das Licht durch uns. Da jeder Mensch auf seine oder ihre Weise ein Lichtbringer ist, bringt jeder, in dessen Herzen die Flamme der Bruderschaft brennt, Hoffnung und Mut in diese Welt.

Wenn wir über den Gehirnverstand hinausgehen zum Herzen jener, mit denen wir Differenzen haben, kommt es zu einem Geben und Nehmen des Empfindens und der Einstellung von beiden Seiten, und in kurzer Zeit wird es möglich, selbst die schwierigsten Situationen zu lösen. Das trifft auch auf den ganz gewöhnlichen Umgang mit unserer Familie oder in der Arbeit zu: Wenn wir spontan die Größe des anderen Menschen von der Größe in uns selbst aus ansprechen, sind wir natürlich hellsichtig und erkennen das innere Bedürfnis des anderen. Darin liegt Schönheit und Magie, denn die Natur selbst hilft uns. Katherine Tingley erinnert uns daran:

Unsere Stärke liegt darin, positiv zu bleiben; eine beständige Freude in unserem Herzen zu bewahren; jeden Augenblick über all die umhertreibenden großen Ideen zu meditieren, bis wir sie erfasst und zu den unsrigen gemacht haben; zu meditieren mit der Imagination über das Leben der Menschheit in der Zukunft und dessen Erhabenheit; bei der Vorstellung der Bruderschaft zu verweilen.

Theosophy: The Path of the Mystic, S. 21

Diese umhertreibenden großen Ideen, die ständig in und durch das Gedankenbewusstsein der Menschheit zirkulieren, sind die Quelle unserer angeborenen Weisheit. Wir müssen sie nur neu entdecken, uns an unser innewohnendes Wissen über sie erinnern, und sie werden zu unserer Inspiration.

Jeder Mensch hat das uneingeschränkte Recht auf seine individuelle Art des Fühlens und Empfindens, auf seine Eigenartigkeiten. Wir müssen die innere Qualität des anderen so respektieren, wie wir unsere eigene respektiert wünschen. Sicherlich ist der dauerhafteste Beitrag, den wir zur Anerkennung der Würde jedes Menschen leisten können, der stille Anfang in unserer eigenen Seele. Jeder Mensch, der jeden anderen nicht nur als seinen Bruder ansieht, sondern als sein eigenes Selbst, trägt seinen Anteil an spiritueller Kraft zu der moralischen Stärke des Bruderschaftsideals bei. Wir sind nicht getrennt – wir sind eine Lebenswoge, eine Menschenfamilie.

Wie und wo beginnen wir? Jeder von uns hat seine Verantwortlichkeiten zu Hause und im Beruf. Sie kommen zuerst: Wir schulden unserer Familie unsere ganze Liebe, Hingabe, Intelligenz und Unterstützung. Wir nehmen jeden Tag an und vertrauen, dass wir dessen Karma mit ausreichender Klarheit lesen werden, so dass es uns möglich ist, voranzuschreiten, wie wir sollen. Alles beginnt als ein Same. Und doch besteht das Wunder darin, dass der Baum schon im Samen als Muster existiert. Jede Wachstumsphase ist in der Samenessenz, in dem unsichtbaren Raum (Ākāsā) im Herzen als Matrix enthalten, die ebenso im Herzen eines Sterns wie im Kern eines Atoms lebendig ist.4 Wir müssen jeden Augenblick vollständig leben und jedem Menschen und jeder kleinsten Begebenheit die Gesamtheit unseres Herzens und Denkens widmen, so dass sich nur die reinste und wahrhaftigste Qualität von Karma verwirklicht. Nur dann können wir auf den inneren Ruf jedes Individuums oder Ereignisses antworten. Damit haben wir nicht nur Reue vermieden oder das Gefühl, jemand anderen durch Unachtsamkeit oder Gedankenlosigkeit enttäuscht zu haben, sondern es gibt nur den konstruktiven, vitalisierenden Fluss von Energie zwischen uns und jenen, mit denen wir Umgang haben. Wenn wir die Wirklichkeit von Gedanken und ihren Kreisläufen im Astrallicht berücksichtigen, würde das spirituelle und mentale Bewusstsein der Menschheit von Licht berührt, wenn sich jeder von uns in jedem Augenblick eines jeden Tages pflichtbewusst vollkommen hingäbe und am Ideal des Dienens festhielte.

Wir sind Teil eines spirituellen Unternehmens, das weit größer ist, als es unser begrenztes Denkvermögen erfassen kann – Verbündete in den äußersten Bereichen, aber dennoch Verbündete in einer Bruderschaft, aus deren zentraler Heimat die spiritualisierenden Magnetismen hervorströmen, die unseren Planeten und seine Menschheiten auf Kurs halten – insofern es das Weltkarma gestattet. Der Gedanke ist unendlich inspirierend, dass jeder Aspirant an einem unaufhörlichen Staffellauf von Strebenden teilnimmt. Jeder ermöglicht es dem ihm Folgenden, die Hoffnung und Energie zu haben, jene Errungenschaften des Geistes zu vollenden, die auf eine günstige Zeit und die richtigen Bedingungen für die Reife warten. Die Fackel von Mut, Durchhaltevermögen und Hingabe weiterreichen: jede für sich von geringem Wert, aber gemeinsam jede ein goldenes Glied in der buddhischen Kette des Mitleids und der Liebe, deren innerste Bereiche jenseits von Sonne und Sternen liegen.

Fußnoten

1. Briefe, die mir geholfen haben, S. 35-36. [back]

2. Moral Essays, „On Providence“, 5,9 [Vom glückseligen Leben, „Über die Vorsehung“]. [back]

3. G. de Purucker, The Esoteric Tradition 2:701. [back]

4. Siehe Chāndogya Upanishad, viii, 1, 3. [back]