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Der Wind des Geistes

Initiation und Leiden

Jede Initiation ist wirklich ein Test oder eine Prüfung, aber die Vorbereitung für diesen Test oder diese Prüfung ist das tägliche Leben – vom l. Januar zum 2. Januar zum 3. Januar, alle Tage bis zum 31. Dezember. Was wir Einweihung nennen, bedeutet einfach, daß der Neophyt bei den Tests, die ihm hier und dort auferlegt werden, zeigen muß, ob sein tägliches Lebenstraining stark genug war, ihn zu befähigen, seinen Streitwagen zu den Sternen emporzuziehen.

Darum haben uns die Meister gesagt, daß den Chelas keine besonderen Prüfungen auferlegt werden, außer wenn die Einweihung kommt und sie eine Gelegenheit erhalten, sich der großen Prüfung zu unterziehen. Die Prüfungen erfolgen im täglichen Leben. Erkennen Sie, welche Lehre man hieraus ziehen muß? Machen Sie sich bereit, solange es Tag ist und ehe die Nacht kommt. Wissen Sie, worin einige der Prüfungen bestehen? Es wurden von einigen Leuten viele romantische Geschichten darüber geschrieben. Die meisten bestehen nur aus Vermutungen, doch die zugrundeliegende Idee ist oft richtig. Dies sind die Prüfungen: Können Sie den Bewohnern anderer Ebenen begegnen und mit ihnen in Frieden verweilen? Wissen Sie, was dies bedeutet? Sind Sie sich Ihrer selbst absolut sicher? Wie kann ein Mensch, der nicht einmal sich selbst entgegentreten und sich selbst überwinden kann, wenn es auf dieser vertrauten Ebene nötig ist, auf der er lebt – wie kann er dann erwarten, den Bewohnern anderer Ebenen gefahrlos zu begegnen, nicht nur den Elementalen – sie sind bei weitem nicht die Schlimmsten –, sondern den intelligenten Geschöpfen und Wesen, die auf anderen Ebenen leben?

Nun, jeder, der Herr über sich selbst geworden ist – nicht ganz vielleicht –, der aber weiß, daß er alle Seiten seines Charakters beherrschen kann, wenn er seinen Willen einsetzt, und der dies aus Erprobung weiß, ist bereit, die Initiation zu erleben. Wenn er diese Erkenntnis gewonnen hat, wird ihm die Chance gegeben.

So viele Menschen scheinen zu glauben, Initiationen seien Privilegien, die Leuten gewährt werden, die vorgeben, das heilige Leben zu führen und derlei mehr. Ich will Ihnen noch mehr sagen, was ich selbst weiß, weil ich es bei meinen Mitmenschen gesehen habe: die Chance ist größer für die Menschen, die ehrlich gestrebt haben und strauchelten und wieder aufstanden – mit anderen Worten, für diejenigen, die vom Brot der Bitterkeit aßen und die dadurch sanftmütig und stark wurden –, als für jemand, der nie durchs Feuer ging. So mitfühlend und mitleidvoll ist die universale Natur, daß gerade jene, die auf dem Pfad stolpern, am Ende oft die Stärkeren sind. Heiligkeit kommt aus den Kämpfen, die man mit sich selbst ausgefochten und verloren, und ausgefochten und verloren, und ausgefochten und gewonnen hat. Dann ziehen Mitgefühl und Mitleid und Verständnis ins Herz ein. Wir werden anderen gegenüber sanftmütig sein.

Sie sehen jetzt, warum gerade solche Menschen, die schnell über die Fehler anderer urteilen, zu jenen zählen, die selbst nie auf dem Pfad gestrauchelt und deshalb nicht fähig und bereit sind. Mitgefühl und Mitleid sind Zeichen von Charakter und von Stärke, die aus dem Leiden gewonnen wurden. „Nur wenn die Füße im Herzensblut gewaschen werden“ – das ist es! Seht, wie mitleidvoll Christus und Buddha waren. Laßt uns lernen und ebenso handeln.

Ich bin mündlich und schriftlich oft gefragt worden, wie ich über einen Menschen denke, der auf seinem Lebensweg Unglück hatte, der von dem schmalen, steilen Pfad abgekommen ist. Und ich habe mich gefragt, wie mir ein Theosoph eine solche Frage überhaupt stellen kann. Ist es denn nicht offensichtlich, daß gerade die Menschen, die durch Leid gelernt haben, stärker sind, als diejenigen, die es nicht taten? – Hiermit meine ich jene, die gelitten und sich selbst überwunden haben. „Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet.“ Wer selbst durch das Feuer gegangen ist, wird keinen richten, der durchs Feuer geht. Er weiß, was das heißt. Die Unreifen, die geistig unentwickelten Menschen, die nie durch das Feuer des Schmerzes gegangen sind, sind es, die andere rasch kritisieren und richten. Richtet nicht, damit Ihr nicht eines Tages gerichtet werdet.

Das Herz wird gewogen

Unser Leben, unsere menschlichen Schicksale, sind nicht Strand- und Treibgut eines willkürlichen Schicksals, vielmehr werden alle unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen – wie in der ägyptischen Zeremonie oder dem Ritus des Wiegens des Herzens des Verstorbenen symbolisch dargestellt – auf der Waage des Schicksals gewogen. Diese Waage wiegt, wie der wunderbare ägyptische Ritus so großartig zeigt, zwei Dinge: Auf der einen Waagschale liegt das Lebenszentrum, das menschliche Herz des Menschen, der gelebt hat und jetzt tot ist; und auf der anderen Waagschale liegt die Feder der Wahrheit, der Wirklichkeit, die durch nichts bestochen, durch nichts beeinflußt, durch nichts beschwichtigt oder verleitet werden kann. Wir erkennen daher in diesem symbolischen Ritus eine wunderbare Veranschaulichung der Lehre von Karma, dem unentrinnbaren Schicksal, das bis in alle Unendlichkeit von niemand und nichts geändert werden kann, denn es ist das göttliche Gesetz selbst, das wir Wiedervergeltung nennen, wenn es unsere Missetaten ausgleicht, und Entschädigung, wenn es unsere Güte oder guten Werke ausgleicht. In der majestätischen Atmosphäre, die diesen ganzen Ritus umgibt, erwartet den Menschen jedoch kein Richter oder Gerichtsbeschluß, noch gibt es irgendeine Begnadigung. Er unterliegt voll und ganz nur den Gesetzen des Seins. Die Waage wiegt mit äußerster Genauigkeit, nichts beeinflußt sie, nichts verursacht ihre Hebung, nichts ihre Senkung. Der Mensch wird gewogen – bedenken Sie jetzt –, er wird gegen die Wahrheit selbst aufgewogen; und haben Sie je gehört, daß die Wahrheit bestochen, beeinflußt, bewegt, verändert, umgestimmt oder umgewandelt werden kann?

Dies ist die Lehre vom Ausgleich und von der Vergeltung, die wir Karma nennen: ein Mensch erntet, was er gesät hat, und nichts anderes. Dieser Ernte kann er nicht entfliehen, denn er selbst wird – symbolisiert durch sein Herz auf der Waagschale – gegen die Wahrheit aufgewogen. Und wenn das Herz und die Feder der Wahrheit im Gleichgewicht stehen, ist das Herz so leicht und so spirituell wie die Wahrheit selbst und ihr gleich. Aber wenn das Herz durch böse Taten und durch den Hang zu niederen, irdischen Dingen herabgezogen wird, dann senkt es sich und die nach oben steigende Feder in der anderen Schale ist der Zeuge, das Zeugnis gegen das dem Irdischen verhaftete Herz, das nicht aufsteigen und mit der Feder der Wahrheit ins Gleichgewicht kommen kann.

In diesem symbolischen Ritus liegt etwas wahrhaftig Majestätisches. Es ist voll wunderbarer Bedeutung, und die edelste ist meiner Ansicht nach seine Wirkung für uns Menschen im täglichen Leben. Was Ihr sät, das werdet Ihr ernten. Da ist kein Wort von Begnadigung, und wenn es irgendeine Vergebung im Universum gäbe, dann würde das Universum selbst aus dem Geleise unendlicher Gerechtigkeit gebracht werden. Kein Mensch kann eine unendliche Sünde begehen, denn weder sein Geist noch seine Seele noch wiederum seine Kraft sind in ihrer Reichweite unendlich. Seine Sünden sind menschlich, und daher ist auch das Wiegen auf der Waage menschlich, und die Vergeltung und die Wiedergutmachung sind daher ihrer Größenordnung nach menschlich. Dies ist die grenzenlose Gerechtigkeit der Mutter Natur – der Natur, die Geist ist, die Göttlichkeit ist, und der Natur, die uns umgibt, denn beide bilden eine Einheit.

Wenn ein Mensch von dieser größten Tatsache im menschlichen Leben überzeugt ist, wird er sein ganzes Leben als Mensch demgemäß ändern. Er fängt an, sich für seine Handlungen zu interessieren, er empfindet allmählich Interesse für seine Gedanken. Er beschäftigt sich damit, welchen Gefühlen er Raum gibt, denn vor seinem Hinscheiden, das die Menschen Tod nennen, ist er selbst der Halter der Waage und des Gleichgewichtes; und mit seinen Gedanken und seinen Gefühlen und seinen Handlungen, die alle in sein Herz eingehen, und mit den nachfolgenden Handlungen, die aus seinen Gedanken und Gefühlen hervorgehen, belastet er sein Herz mit entsprechenden Gewichten. Nach seinem Tod wird er auf der Waage gewogen, nicht auf eine theatralische Weise, wie es das symbolische Bild zeigt, sondern auf der Waage des Schicksals, auf genau der gleichen Waage, die mich oder Sie in diesen oder jenen Körper, in dieses oder jenes Land brachte, streng nach dem, was jeder Mensch in früheren Leben an Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen und von allen anderen menschlichen Empfindungen und Emotionen in sich selbst eingebracht hat. Diese Dinge sind weder Glückssache noch Zufall.

Ist es also nicht klar, daß sich das Verhalten eines Menschen notwendigerweise ändert, wenn er sich all diese Dinge vergegenwärtigt und sie in sein Herz einfließen und in ihm wirken? Ist es nicht wie bei einem Kind, das in seiner kindlichen Unwissenheit seinen Finger in die Kerzenflamme hält? Lernt es nicht daraus? Es hat gelernt. Erkennen Sie die gewaltige moralische Bedeutung dieser symbolischen Darstellung eines Menschenherzens, das seine Individualität repräsentiert, die auf der Waage kosmischer Gerechtigkeit gewogen wird, auf der Waage, die durch keine Gebete beeinflußt werden kann, die äußerst wahr ist, denn die Feder der Wahrheit liegt in der anderen Waagschale. Kein Mensch wird je ungerecht verdammt, noch muß er das Gewicht eines Haares erleiden, das er nicht selbst verdient hat; und kein Mensch wird je unangemessen für etwas entschädigt, was er sich nicht selbst verdient hat, denn das wäre unsinnig. Das Universum ist unvergleichlich vernünftig und großartig.

Das Wiegen des Herzens – des Menschen eigenes Selbst – auf der Waage des Schicksals zeigt uns auch, daß wir unser Leben in exakter Übereinstimmung mit unseren eigenen Wünschen, unserem Wollen und Streben großartig oder niedrig gestalten. Unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen. Der Mensch wird nicht mit der Kraft x begabt, die zum Erfolg führt, und der andere mit der Kraft y, die zum Versagen führt. Wir sind alle Funken des göttlichen Herzens, wir haben alle die gleichen Chancen, für ewig die gleichen Chancen. Wenn wir fehlgehen, versagen wir selbst und müssen die Strafe zahlen; aber sobald diese bezahlt ist, beginnen wir wieder mit einer neuen Hoffnung, mit einer weiteren Chance: ich habe meine Schuld beglichen, ich bin jetzt frei, ich fange wieder an. Sehen Sie nun, wie hochherzig diese Lehre ist und wie sie uns ermutigt. Es ist eine Lehre der Hoffnung, denn es gibt kein menschliches Schicksal, das so gering oder so verachtungswürdig ist, daß es nicht von dem Augenblick des Neubeginns an wunderbar zum Besseren verändert werden könnte, wenn man es will, denn mit dem Wunsch nach Besserung beginnt das Herz sofort zu arbeiten und auf uns einzuwirken, und es erfüllt unseren Geist mit edleren Ideen als den bisherigen und mit Gefühlen, die bei weitem höher, lieblicher und reiner sind, als die zuvor gehegten.

Dies ist ein wundervolles symbolisches Bild der Wirklichkeit. Und was ist diese Waage, und wie führt die Natur ihre Arbeit aus? Nun, wir sehen es doch die ganze Zeit um uns. Wie kam ich in diesen Körper und in diese Verkörperung? Durch viele Wohnungen des Vaters, wie der Avatāra Jesus sagen würde. Ich kam aus der Himmelswelt, aus Devachan, durch viele Ebenen des Seins in diese Welt und sank in diese materielle Welt herab, weil ich hierher angezogen wurde. Wer ist der Wegbegleiter und Lenker? Der ägyptischen Tradition folgend ist es Horus, der göttliche Geist, der Hauptlenker meiner Schritte, wenn ich es zulasse. Alles wird gewissermaßen von den gleichen Kräften bewirkt, die in diesen materiellen Sphären vorherrschen, die bewirken, daß die Sonnen leuchten und die Himmelskörper wie unsere Erde rotieren, und die verursachen, daß alles in übereinstimmender Bewegung von einer Sphäre der kosmischen Schicksalsebenen auf eine andere Ebene gelangt. Das alles geschieht, weil alles innerhalb des Naturgesetzes steht, innerhalb der Gesetze der Natur.

Wie finde ich nun meinen Weg durch dieses Leben? Durch Anziehung. Durch das, was ich aus mir selbst gemacht habe. Ich werde hierher gezogen, und diese Anziehung würde mir nicht gestatten, woanders hinzugehen. Ich selbst habe mein eigenes Schicksal geschmiedet, und ich schmiede es jetzt, und ich werde es im nächsten Leben erneut schmieden; hoffentlich symmetrischer als ich im vorigen Leben das jetzige schmiedete.

Was sind diese Hallen oder Wohnungen, durch die Anu, Jedermann, nach ägyptischem Ritus schreiten muß, bevor sein Herz aufgewogen wird gegen die Feder der Wahrheit, die so leicht wie eine Feder ist und dennoch das Universum in Banden hält, die niemals zerreißen? Was sind das für Wohnungen und Hallen, durch die die göttliche Seele geht? Es sind die verschiedenen Ebenen, die verschiedenen Welten, durch die die Menschen ihren Weg nach dem Tode gehen. Woher kennt die abgeschiedene Seele, wenn sie an ein Tor gelangt und durch Anklopfen Einlaß begehrt, das passende Losungswort? Durch genau die gleiche instinktive Erkenntnis und Anziehung, mit der die inkarnierte Seele ihren Weg zu ihrer gegenwärtigen Familie und in ihren gegenwärtigen Körper fand, als sie aus Devachan kam. Sie kann ihren Weg nicht verfehlen. Und was bedeutet das Anklopfen des Verstorbenen – wiederum ein schönes Symbol? Die Seele steht einfach vor einer neuen Ebene, vor einer neuen Welt, vor einem neuen Zustand auf dem Wege ihrer Pilgerreise, und sie weiß instinktiv, wie sie sich nähern und wie sie eintreten kann, und wie sie – dem ägyptischen Ritus folgend – die Losungsworte sagen muß. Sie liegen in der Seele selbst. Es ist Erfahrung, Intuition, Wissen, alles, was wir auch hier anwenden, um uns gegenseitig zu verstehen und miteinander zu sprechen, miteinander zu lesen und zu studieren. Wir verstehen einander; aber wie könnte man einem Menschen Verständnis beibringen, der nicht versteht, was Verständnis ist? Wenn ich Worte gebrauche, die an Ihren Geist anklopfen, wenn ein Redner an Ihre Herzen anklopft, so geschieht dies durch einen Gedanken, es geschieht durch eine Empfindung, es geschieht durch Wissen, und die Tore des Verständnisses springen weit auf, und Ideen und Gedanken treten in Ihren Geist, in Ihre Seele, ein. Das richtige Klopfzeichen wurde gegeben.

Das ist mit den Wohnungen oder Hallen gemeint, durch die die Seele wandert und zu den verschiedenen Toren kommt und machtvoll anklopft und nach Aufforderung die Losungsworte spricht, die ihr den Eintritt gestatten. Wenn Sie diese Worte bereits in sich selbst verankert haben, dann passieren Sie unaufgefordert. Wenn Sie sich noch nicht bis zu diesem Punkte entwickelt haben oder nicht würdig sind, wenn Sie die Worte noch nicht in Ihre Seele eingeprägt haben, werden Sie zurückgewiesen und aufgehalten und müssen zurückgehen.

Es ist eine alte Wahrheit der Gottesweisheit, daß die Großtaten der Welt aus dem Menschenherzen kommen. Sie wohnen nicht im Gehirnverstand, denn der Verstand ist der große Trenner der Menschen, der große Täuscher. Es ist das Herz, das die Menschen vereint. Und der Grund dafür? Weil das Herz eine universale Sprache spricht, die keiner Worte bedarf. Aber der Gehirnverstand spricht eine Sprache in Worten, die von Kopf zu Kopf interpretiert werden müssen. Daher steht das Herz um so vieles höher. Aus dem Herzen kommen die großen Dinge des Lebens, denn im Herzen wohnen Liebe, Intuition, Unterscheidungskraft, Verständnis, Selbstaufopferung, Erbarmen, Mitleid, Lauterkeit, Güte, Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit und Würde; und aus dem Verstand des Menschen kommen Meinungsverschiedenheiten, Zank, Streit, Abneigung, den anderen Menschen verstehen zu wollen, Haß und die ganze garstige Brut der niederen Natur des Menschen, weil sich die Menschen endlos über die aus dem Gehirnverstand kommenden Dinge streiten. Sie streiten nie über Herzensdinge, denn diese sind Angelegenheiten unserer gemeinsamen Menschlichkeit.

Ein Beispiel: Ich liebe die Wahrheit, so wie jeder andere auch. Dies ist eine direkt aus dem Herzen kommende Feststellung. Der Verstand sagt darauf unmittelbar: „Gut, welche Art von Wahrheit, was verstehen Sie unter Wahrheit? Georgs Wahrheit oder Karls Wahrheit?“ Sie sehen, es geht schief und nur noch um Argumente und Auseinandersetzungen über bloße Einzelheiten und um ihre Ausbreitung und Diskussion. Das Herz sagt jedoch einfach: „Ich verehre die Wahrheit“, und jedes andere Herz unter den Zuhörern versteht das. Das Herz spricht: „Ich liebe sie.“ Der Gehirnverstand beginnt sofort darüber zu argumentieren, und jeder Mensch hat andere Vorstellungen darüber, was Liebe ist, und wie weit man gehen oder nicht gehen sollte, wie weit man vertrauen oder nicht vertrauen sollte, welche Art von Menschen ich liebe und welche nicht. Das Herz steht unendlich weit darüber. Es sagt einfach: „Ich liebe.“ Es ist eine universale Sprache, die jeder Mensch versteht. Man muß nicht darüber streiten. Man stimmt zu. Der Gehirnverstand formuliert Argumente. Das Herz sagt: „Treue ist eine der schönsten Handlungen im menschlichen Benehmen, erfüllt zu sein von Treue.“ Wo lieben und bewundern wir diese Eigenschaft? Mit welchem Teil von uns halten wir Treue und hegen wir Ehrfurcht? Mit dem Herzen. Es spricht eine universale Sprache. Deshalb behaupten wir: Aus dem Menschenherzen entspringen alle großen Taten im menschlichen Leben.

Ich will noch etwas weiter gehen. Ich will Ihnen sagen, daß das menschliche Herz der Tempel oder die Wohnung oder die Heilige Stätte einer Gottheit ist; es ist die Wohnung des Horus, um der ägyptischen Tradition zu folgen. Jedesmal, wenn Ihnen ein Mensch sein Wort gibt und es hält, selbst wenn es ihm zu seinem Nachteil gereicht, ist dieser Mensch aufgrund einer solchen Handlung ein beseelter Mensch. Immer, wenn Ihnen ein Mensch sein Wort gibt und es bricht, weil es für ihn bequemer ist, es zu brechen, dann ist dieser Mensch während dieser Zeit unbeseelt. Seine Seele schläft. Immer, wenn ein Mensch aus seinem Mitmenschen Nutzen ziehen will, schläft seine Seele, ist sie untätig. Er ist unbeseelt. Jedesmal, wenn ein Mensch irgendeine Tat vollbringt oder große Gedanken hegt, die anderen helfen, ist er ein Mensch, denn er ist dann beseelt. Und wenn ein Mensch voll beseelt ist, wie es alle Menschen auf dieser Erde eines Tages sein werden, wenn ein Mensch eine befreite Seele ist, dann haben wir nicht länger einen Menschen, sondern einen lebendigen Gott unter uns. Ich glaube, der schönste Anblick, den wir Menschen je wahrnehmen können, ist das Licht der Beseelung, das in den Augen eines Mitmenschen aufleuchtet. Wenn Sie es noch nie gesehen und nie verstanden haben, dann deshalb, weil Ihre eigene Seele schlummert, denn in diesen Dingen spricht Geist zu Geist, erkennt Geist den Geist, erkennt Göttliches die Göttlichkeit. Der Mensch in mir erkennt den Menschen in Ihnen, und das ist Beseelung. Würden doch alle Menschen so leben, daß sie die Gottheit im Inneren zum Ausdruck bringen, und, indem sie das tun, die göttliche Quelle ihres eigenen inneren Lichtes erwidern!

Die Beseelung des Menschen

Bei vielen Gelegenheiten habe ich über jene Großen gesprochen, die voll beseelte Menschen sind, und auch von der Mehrheit der Menschen, die bis jetzt seelenlos sind. Mit letzterem Begriff meine ich nicht ‘verlorene Seelen’. Wenn Sie verstehen, was mit ‘beseelen’ gemeint ist, dann verstehen Sie die Bedeutung und das Wesen des Chelapfades. Der Chela ist ein Mensch, der sich selbst beseelt. Der Meister ist ein voll beseelter Mensch. Der Buddha ist ein Meister, dessen geistiges Licht seine Seele erleuchtet; er ist jemand, in dem der Geist mit seiner strahlenden Herrlichkeit den bereits großen Glanz des beseelten Menschen noch erhöht.

Der Pfad der Chelaschaft ist ein Beseelungsprozeß ‘seelenloser’ Menschen. Solche ‘seelenlosen’ Menschen füllen unsere Großstädte, unsere Städte, unsere Dörfer und unsere Häuser. Jeder von uns ist in den Augenblicken, wenn er keine ‘Seele’ mehr ist, sondern nur in den vier niederen Prinzipien seines Wesens lebt, für diese Zeit seelenlos. Das heißt: Die menschliche Monade ist dann nicht mehr aktiv in ihm. Eine verlorene Seele andererseits ist eine Seele, die überhaupt nicht mehr die Möglichkeit hat, sich mit dem Göttlichen, dem Geist, dem Buddha, dem Christus in ihrem Inneren zu vereinigen. Eine verlorene Seele fällt in den Abgrund.

Als Jesus, der große syrische Weise, sagte: „Wer sein Leben um meinetwillen aufgibt“ – für den Buddha, den Christus in seinem Innern, in jedem von uns – „wird sein Leben gewinnen“, dann meinte er damit, daß selbst im allereinfachsten Menschen unter uns, zu Beginn nur schwach, der Christus im Innern lebt, der auch weiterhin als innerstes Wesen leben wird. Und daß im Verlauf der Zeit der Mensch, wenn er sich dem innersten Zentrum seines Wesens nähert, langsam beseelt wird. Er wird ein Vorbild, dann ein Buddha, und auf die Buddhas scheint das Licht der Ewigkeit. So einfach ist das.

Seelenlose Menschen sind nicht böse. Sie treiben nur dahin, schlafen, sind unerweckt. Sie leben mehr oder weniger in den vier niederen Prinzipien ihrer Konstitution. Der Chela ist jedoch der Mensch, der durch Wollen und Anstrengung und Denken und Ergebenheit und Liebe für alles Seiende – groß oder klein – sich selbst zu beseelen beginnt. Er steigt auf dem Chelapfad genau in dem Verhältnis empor, in dem er sich mehr und mehr beseelt.

Ich verwende das Wort ‘beseelen’, weil es ein einfaches Wort ist, das leicht zu verstehen ist. Ich habe absichtlich vermieden, ein Wort zu gebrauchen, das einen längeren, erläuternden Kommentar erfordert. Ich möchte mehr eine Anregung geben als eine ausführliche Lehre.

Ich will versuchen, Ihnen eine meiner Ansicht nach anschauliche Beschreibung davon zu geben, was ‘beseelen’ bedeutet. Wir Menschen sind zusammengesetzte Wesenheiten. Wir haben eine göttliche, eine spirituelle, eine menschliche und eine tierische Seite sowie den physischen Körper, der so oft ungerecht leidet wegen der Untaten, die wir ihm mit unserem launenhaften, nichtsnutzigen, flatterhaften, leidenschaftlichen niederen menschlichen Wesensteil antun: mit den niederen emotionalen und mentalen Prinzipien in uns. Diese vier niederen Prinzipien sind das menschliche Tier. Da es sich um ein menschliches Tier handelt, steht es höher als das tierische Tier, weil sich durch ersteres ein menschlicher Instinkt hindurchzieht. Nichtsdestoweniger sollte dieses menschliche Tier, wenn der Mensch als Mensch lebt, von der Menschlichkeit des Menschen beseelt sein. Wenn ein Mensch nur in seinen vier niederen Prinzipien lebt, ist er weniger als ein echter Mensch. Er vegetiert nur. Er existiert. Er hat keine Chance, Unsterblichkeit zu erlangen, nicht die geringste, weil nichts Unsterbliches in unseren vier niederen Prinzipien ist. Aber die menschliche Monade, das Vehikel der spirituellen Monade, oder um es anders zu sagen, die menschliche Seele, das Vehikel der spirituellen Seele, hat eine große Chance, bewußt Unsterblichkeit zu erlangen.

Wenn ein Mensch in seiner menschlichen Monade lebt, dann sind die vier niederen Prinzipien beseelt. Er ist dann ein ganzer Mensch, der bewußt lebt und glücklich lebt, in einer Art und Weise, daß kein bitteres Bedauern daraus entsteht. Darin liegt die Prüfung. Es bedeutet nicht, daß er ein vollkommener Mensch ist oder daß er keine Versuchungen hat. Ganz bestimmt nicht, denn wir sind alle menschlich. Der vierprinzipige Mensch unterliegt gewöhnlich den Versuchungen, weil er nicht von seiner Menschlichkeit beseelt ist. Unser menschlicher Teil, um eine leicht verständliche Sprache zu verwenden, die menschliche Monade hat eher die Aussicht, Versuchungen zu überwinden, als ihnen zu unterliegen. Und wenn ich Versuchungen sage, meine ich nicht nur physische Leidenschaften, ich meine alle Arten von Versuchungen. Arroganter Ehrgeiz, um auf Kosten anderer Befriedigung zu finden, ist heute ein allgemeines Laster; Selbstsucht in allen ihren vielfältigen Formen; Egoismus, eine hydraköpfige Sache; unbeherrschter Zorn – alle diese Dinge sind das Niedere-Menschliche; weniger das Höhere-Menschliche, weniger als das wirklich Menschliche.

Beseelen bedeutet also, die Dinge zu leben, von denen wir intuitiv und instinktiv fühlen, daß sie zu unserem besseren Teil gehören. Es bedeutet ganz einfach: in der menschlichen Seele zu leben statt in der menschlich-tierischen Seele; um es fachlich zu sagen: in Buddhi-Manas zu leben statt in Kāma-Manas.

Unsere Straßen sind in diesem Sinne mit seelenlosen Wesen angefüllt. Ihr Charakter ist veränderlich wie die Winde des Himmels. Sie sind ohne Willensstärke, ja, ohne Überzeugungen – besonders moralischen –, veränderlich wie Wetterhähne und werden von jedem vorüberziehenden Hauch der Versuchung hin- und hergeweht. Sie sind weniger als menschlich. Sie sind seelenlos – was nicht bedeutet, daß sie keine Seele haben, sondern daß die Seele in ihnen nicht wirksam ist. Sie ist nicht aktiv, sie offenbart sich nicht. Blicken Sie in die Augen dieser Menschen. Es fehlt darin das wundervolle Leuchten der Seele, das Sie, wenn Sie es einmal gesehen haben, immer erkennen werden.

Jede freundliche Handlung, die Sie ausführen, kennzeichnet Sie insoweit als beseelt, wenn es eine Handlung ist, die aus dem Herzen kommt und nicht nur aus dem egoistischen Wunsch zu prahlen. Jedesmal, wenn Sie eine Versuchung überwinden, die Sie, wie Sie genau wissen, in Ihren eigenen Augen herabsetzt, wenn Sie ihr nachgeben, selbst wenn Ihre Mitmenschen nichts von Ihrem Fall wissen; jedesmal, wenn Sie sie überwinden, leben Sie in der menschlichen Seele und beseelen sich in diesem Maße. Jedesmal, wenn Sie einen Impuls zu einer egoistischen Handlung überwinden, zu einer Tat mit selbstsüchtigen Gedanken zum eigenen Vorteil, dann beseelen Sie sich entsprechend selbst.

Voll menschlich, ganz beseelt, werden wir in der fünften Runde sein. Gegenwärtig können wir es nur durch Anstrengung und Streben sein. Die große Mehrheit der Menschheit ist in dem so verstandenen technischen Sinne seelenlos. Die Seele ist vorhanden, aber die Menschen möchten nicht darin leben, sie wollen es nicht aus eigenem Antrieb. Sie ziehen es vor, im Tierischen zu leben. Und beachten Sie bitte, das Tierische bedeutet nicht nur Sexualität. Diese ist nur eine Seite davon und eine relativ unwichtige. Das Tierische ist der geizige, gierige, selbstsüchtige, begehrende, nachgiebige Teil von uns, der ohne Charakterfestigkeit diesem und jenem nachjagt, mit anderen Worten, der ohne Seele ist.

Fangen Sie an, sich mit der Seele zu beseelen, die Sie selbst sind. Das ist der Chelapfad. Der Mensch, dem dies gelingt, ist ein Chela. Der Pfad ist für alle Menschen der gleiche, aber für jeden einzelnen verschieden. Finden Sie ihn.

Die Überwindung des Zweifels

Wenn Sie studieren, werden Sie nie irgendwelche Zweifel in bezug auf die Gottesweisheit haben. Dieses Studium ist so überzeugend, es nimmt Sie gefangen. Sobald Sie einmal die Gottesweisheit verstehen, verschwinden Ihre Zweifel. Das Studium umfaßt nicht nur die intellektuelle Verarbeitung und Assimilation und natürlich auch die Wertschätzung dieser göttlichen Lehren, sondern es bestimmt auch die Lebensführung. Solange Sie in Ihrer inneren Natur nicht gottgleich sind, unterliegen Sie dem Zweifel und werden durch jagende Gedanken und Gefühle in Stücke gerissen. Der Mensch wird durch die göttliche Rache verfolgt, wie es die Alten Griechen auf ihre Weise ausdrückten. Die Verfolger sind das niedere Selbst im Menschen, das, was in ihm ist: Es ist die Unfähigkeit, die eigene Seele und den Geist zu einer kompakten göttlichen Einheit zusammenzuweben, zu einem Ganzen, zur Verbindung mit dem Göttlichen. Die Verfolger sind die Unentschlossenheit, die Zweifel, die Schrecken und Ängste.

Die Essenz von H. P. Blavatskys Botschaft

Wir sprechen über Huldigung. Es gibt verschiedene Wege, jemandem zu huldigen. Es gibt die Huldigung mit Worten, und es gibt die Huldigung mit dem Herzen, die zur Nachahmung anregt. Die Huldigung mit Worten ist gut, wenn das Herz dahintersteht, aber die Huldigung, die großherziges Handeln imitiert, ist edler und noch höher.

Ich denke, die beste Huldigung, die wir H. P. B. zollen können – außer den Worten, mit denen wir unsere tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringen –, besteht darin, daß wir in ihre Fußstapfen treten, daß wir ihrem Leben und ihrem Werk für die Menschheit folgen: daß wir ihrem Beispiel, so weit es uns möglich ist, nahekommen. Tatsächlich sagte sie bezüglich ihrer Beziehung zu ihren eigenen Lehrern das gleiche: sie lehren, ich folge. Meine Botschaft ist nicht meine eigene, sondern die Botschaft jener, die mich gesandt haben.

Seitdem H. P. B. heimging, gab es in der theosophischen Welt viel Gerede über ihre Nachfolger. Das Ganze erschien mir völlig trivial; ein Spiel mit Worten und mit den heiligsten Gefühlen und Impulsen des menschlichen Herzens. Denn jeder echte Theosoph ist ein Nachfolger von H. P. B. und sollte froh und stolz darüber sein. Wir sind alle Nachfolger von H. P. B., jeder einzelne von uns, ohne Ausnahme. Und der Geringste ist oft der Größte unter uns. In diesem Fall handelt es sich nicht um Selbstgefälligkeit oder Arroganz, sondern um den Impuls eines liebenden und dankbaren Herzens, vorzutreten und zu dienen und sein Leben der Sache zu widmen, der unsere Lehrer gedient haben und der sie noch immer dienen. Was ist größer als dies? In Wirklichkeit ist es das Aufgeben, die Zurückweisung des Niederen und Persönlichen. Es ist das Vergessen des Persönlichen und das Versenken des Selbst in das unendlich größere Selbst des Universums. Wenn wir uns selbst vergessen, dann wird etwas überaus Großes in uns geboren, denn das Spirituelle, für das wir Menschen so schwache Vertreter sind, hat dann die Gelegenheit, in uns hervorzukommen, zu sprechen und in uns und durch uns zu wirken, denn es beginnt nun, sich einen Weg in und durch das menschliche Herz und den Verstand zu bahnen.

Für mich hat die große Arbeit H. P. B.s von jeher darin bestanden, die Menschen zu beseelen – Worte, die tief und sehr bedeutungsvoll sind; den Männern und Frauen eine Philosophie-Religion-Wissenschaft zu geben, die Herz und Verstand so machtvoll überzeugen kann, daß sie erkennen, daß das Universum lebendig und bewußt ist und daß wir, seine Kinder, basierend auf dieser Tatsache selbst lebendig und bewußt und genauso ewig und ebenso alt wie das Universum sind, von dem wir kommen, in dem wir leben und in dessen spirituelle Teile wir selbst wieder zurückkehren werden.

Wenn Sie diesen einfachen Gedanken verstehen und auch mit dem Herzen begreifen, so daß er zu einer inneren Überzeugung wird, dann sind Sie bereits auf dem Wege der Wiederbeseelung. Die Seele oder vielmehr der Geist in Ihnen beginnt dann Besitz von Ihnen zu ergreifen, und von diesem Augenblick an wird Ihr Leben verändert sein. Neue und größere Perspektiven werden sich für Ihre Vision öffnen, Perspektiven, die uns unser Intellekt und unsere Intuition als Wahrheiten zeigen werden; und wir werden beginnen, unser Leben in Übereinstimmung mit den lebendigen, leuchtenden Gedanken zu führen, die dann unser Herz zu ihrem Heiligtum machen werden. Wir werden dann beginnen, wirklich zu leben. Wir werden nicht länger zu denen gehören, die Pythagoras „die lebendig Toten“ nannte – die zwar in ihren Körpern leben, in ihren Seelen jedoch relativ unbewußt sind. Wir werden dann tatsächlich verkörperte Seelen sein.

Für mich ist das immer einer der erhabensten und schönsten Teile der Arbeit H. P. B.s gewesen, die sie in die Wege leitete: die Menschen zu beseelen, damit sie erneut mit der herrlichen Vision und mit ewiger Hoffnung leben können.

Kein Mensch wird gegen den dominierenden Impuls in seinem Inneren handeln. Der Mensch sollte diesen beherrschenden Impuls von selbstsüchtigen Interessen verwandeln in selbstloses Dienen für alle. Dann wird das Leben eine Größe annehmen, die er bis zu diesem Moment weder gesehen noch verstanden hat. Solch ein Mensch ist auf dem Wege zu wirklicher Beseelung. Er sieht den Grund für sein Leben. Er sieht den Grund für das Universum, das um ihn ist. Er begreift den Grund für seine eigenen Gedanken. Er versteht kausale Beziehungen und daraus bewirkte Folgen. Er sieht weite und äußerst grandiose Visionen, die vor seinem geistigen Auge entstehen. Er weiß, daß alles, was er zu tun hat, um noch größere Visionen zu gewinnen und von noch größerer Hilfe zu sein, darin besteht, die Kraft seines Intellekts in diese Intuitionen und erhabenen Gefühle hineinzulegen und diese zum Mittelpunkt seines Handelns zu machen, um auf diese Weise mit steter Zunahme an innerer Größe und innerem Verständnis zu wachsen. Sein Leben wird dann verändert sein, weil er sich als Mensch verändert hat. Er wird erwacht sein. Und er wird dann sein Leben so lenken und so mit dem Leben des Universums und dem Leben seiner Mitmenschen koordinieren, daß universale Bruderschaft seine dominierende Neigung und der beherrschende Impuls für sein Denken und Handeln sein werden. Das ist für mich die Essenz der Botschaft von H. P. B.

Der Yoga der Theosophie

Theosophen gebrauchen das Wort Yoga als ein passendes Wort, wir verwenden es aber weniger zur Bezeichnung der theosophischen Schulung. Weshalb? Weil wir mit diesem Wort im Westen jetzt die eine oder andere der fünf verschiedenen hinduistischen Yogaschulen bezeichnen; Yoga im theosophischen Sinn umfaßt jedoch alle Yogaschulen und krönt sie mit einer edleren, einer sechsten.

Welches sind nun diese fünf indischen Yogaschulen? Es sind folgende, angefangen mit der einfachsten und niedrigsten: Hatha-Yoga, der Yoga der physiologisch-psychischen Schulung, der sich fast ausschließlich mit dem Körper und dem niederen Bewußtsein befaßt. Als nächstes Karma-Yoga, von dem Wort Karman, „Handlung“. Drittens Bhakti-Yoga, der Yoga der Liebe und Hingabe. Viertens Jñāna-Yoga, der Yoga der Weisheit oder des Wissens, des Studiums. Fünftens Rāja-Yoga, der Yoga der selbst erdachten Bemühung, mit dem Gott im Inneren eins zu werden, der Yoga der Disziplin, dessen Ausübung von den Königen der Kshattriya- oder Kriegerkaste als den Führern ihrer Staaten erwartet wurde; und der sechste, den wir Theosophen hinzufügen, ist der Brahma-Yoga, der Yoga des Geistes, der die anderen fünf praktisch mit einschließt.

Es ist ein völlig absurder Gedanke, zu glauben, daß Indien in bezug auf die menschliche Psychologie und Natur das einzige Land ist, das jemals Kenntnisse über Yoga besessen hat; Yoga bedeutet hier Schulung, Training um eine bewußte „Vereinigung“ mit dem Gott im Inneren zu erreichen, mit dem Inneren Buddha oder dem immanenten Christus – man kann es bezeichnen, wie man will.

Nehmen Sie Karma-Yoga: Eine Abart dieser Form der Schulung ist seit Jahrhunderten in der christlichen Kirche als „Erlösung durch gute Werke“ bekannt. Es ist eine wohlbekannte Übung in der christlichen Schulung, genauso wie Bhakti-Yoga: bekannt als „Erlösung durch Frömmigkeit“ oder „Liebe“ oder „Selbsthingabe“, was genau dem entspricht, was der Hindu mit diesen Worten meint und was der Theosoph damit meint; eine Sache, die sich spontan im Herzen des Christentums entwickelte, wie sie auch im Herzen Hindustans und in jedem anderen Land entstand. Dann gab es auch die Schulung der Stoiker – sie und andere sind alle verschiedene Arten von Yoga. Man bezeichnete diese Schulungsarten nicht mit dem Wort „Yoga“. Das ist ein Sanskritbegriff, der aus Hindustan stammt; aber die Lehren waren bekannt. Die Christen sagten dazu „Erlösung“ durch dieses, „Erlösung“ durch jenes. Die Hindus sagten „Vereinigung“ durch diese Schulung, „Vereinigung“ durch jene Schulung, und so weiter.

Die okkulte theosophische Schulung umfaßt sie alle, weil diese verschiedenen Arten der Schulung oder Vereinigung den fünf Haupttypen des Bewußtseins oder der Psychologie des Menschen entsprechen. Manche Menschen finden Erlösung durch Werke, um die christliche Formulierung zu gebrauchen; andere durch Liebe oder Hingabe; andere durch Theologie oder hohe Gedanken. Ja, das Christentum hat, besonders in den Klöstern, in der Vergangenheit auch eine Art von Hatha-Yoga in seinem psychologischen Trainingssystem gehabt – die Geißelungen, Auspeitschungen, das Tragen von Sackleinen und andere Praktiken der Kasteiung und Selbstverleugnung, um, wie sie sagten, die niederen Leidenschaften und den Körper zu beherrschen und zu unterjochen. Das sind typische Hatha-Yoga-Beispiele niedrigster Stufe. Wenn ein Mensch jedoch eine glückliche Geisteshaltung besitzt, die ihn zu einer Schulung des inneren Lebens führt, dann braucht er sich nicht um Atemübungen, Körperstellungen, Geißelungen und Kasteiungen zu kümmern. Wir wissen, daß wir zur Erfüllung unserer Pflicht hingebungsvoll arbeiten und uns um die kleinsten Dinge in pflichtbewußter Anstrengung bemühen müssen. Das ist Karma-Yoga. Wir müssen den Körper von innen kontrollieren, wie auch unsere psychischen Impulse und unsere Emotionen, wir müssen den Körper rein und gesund erhalten, damit er ein geeignetes Instrument für den menschlichen Geist und für die menschliche Seele ist. Das ist wirklicher Hatha-Yoga. Wir wissen ebenso, daß wir zur Erfüllung der Pflicht gegenüber uns und den Mitmenschen und der Bewegung, der wir uns zur Verfügung gestellt haben, lernen müssen, uns selbst in Ergebenheit, in höchster Liebe dem erhabenen Ziel zu widmen – und dies ist Bhakti-Yoga. Um das Leben um uns herum und unsere Mitmenschen und uns selbst und die glorreichen Wahrheiten der Naturgesetze, auf denen die Natur selbst beruht, zu verstehen, müssen wir die erhabene göttliche Weisheit intellektuell studieren – Jñāna-Yoga. Wir wissen ebenfalls, daß wir zur Ausübung all dieser niedrigeren Yogaformen eine Liebe zur Selbstdisziplin entwickeln müssen und dabei eine unvergleichliche Freude in der Tatsache finden müssen, daß wir uns selbst beherrschen können, daß wir Menschen sind, die danach streben, Meister des eigenen Selbst zu sein und nicht dessen Sklaven. Wir brauchen über diese Sache nicht zweimal nachzudenken. Man betrachte den Menschen, der sich selbst beherrschen kann, und den, der sich nicht beherrschen kann: Meister und Sklave.

Als richtig verstandenen Yoga könnten wir das sittliche, spirituelle, intellektuelle, psychische und okkulte Training bezeichnen, das der Theosoph hat, wenn er sich der Bezeichnung Theosoph würdig erweist. Wenn er allerdings die Philosophie nur annimmt, weil sie ihm zusagt, weil er sie für logisch und gut hält, und weil sie bis jetzt durch nichts übertroffen wurde, dann gehört er einfach zu jenen, die Pythagoras und die großen Vertreter seiner Schule als Akousmatikoi bezeichnet hätten: ‘Hörer’, ‘Zuhörer’. Dieser Standpunkt hat schon etwas für sich, aber er entbehrt in hohem Maße der höheren Grade an Verständnis und Entwicklung.

Der höchste Yoga, der sechste, Brahma-Yoga, ist derjenige, den die meisten Chelas, die Schüler, anstreben. Er bedeutet, daß man aus all den soeben behandelten niederen Yogaformen das Beste entnimmt und es sozusagen zu einer Einheit vereint, sie emporhebt und sie gleichsam an dem Geist im Inneren befestigt. Das Denken, die Gefühle, das Verlangen sind dann wie eine Flagge am Mast befestigt. Sie kann nicht niedergeholt werden: Brahma-Yoga, Vereinigung mit Brahma(n)n dem Geist, dem Atman.

Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen: Wie kommt es, daß diese besonderen Yogaformen immer in Indien existieren? Jeder Yoga in Indien – wie schon erwähnt – besteht aus Schulung, Trainingsmethode; und diese Methoden entstanden hauptsächlich aus der Grundidee, die in dem Vers enthalten ist, den die Hindus als den gewaltigsten, größten und als den umfassendsten aller Verse der Veden bezeichnen, Vers III, 62, 10 des Rig-Veda,Gāyatrī oder oft auch Sāvitrī genannt. Er wird von dem Hindu nach dem Aufstehen am Morgen aufgesagt, nach seinen Waschungen und bevor er abends schlafen geht. Der Rig-Veda ist der bedeutendste der Veden und die Hindus betrachten diese beiden Zeilen als das Herz des Rig-Veda. In Sanskrit lauten sie wie folgt:

Tat savitur vareṇyam bhargo devasya dhīmahi,
Dhiyo yo nah prachodayāt.

Und sie bedeuten Folgendes – ich werde eine nur wenig umschreibende Übersetzung geben, so daß man den Kern des großen Verses des Rig-Veda erfassen kann, aus dem sich die ganze Hindu-Philosophie und jeder Hindu-Yoga entwickelte:

„Jene erhabene innere Seele der Sonne Gottes, möge sie unsere Gedanken und die unserer Nachkommen vereinigen, und uns zu dieser Vereinigung drängen, zu der Vereinigung des Niederen mit dem Höheren, des Individuums mit dem Geist des Menschen, mit der Göttlichkeit.“ Wenn diese Vereinigung, dieser Yoga erreicht, erzielt wird, dann haben wir die großen Beispiele der Gottmenschen oder Menschengötter: Jesus, den Avatāra, Krishna, Buddha-Gautama und all die anderen Buddhas; Apollonius von Tyana – es gab Hunderte. Wenn diese Vereinigung weniger vollständig ist, haben wir die großen Lehrer, weniger groß als die vorgenannten, aber groß.

Aus dieser einen Redewendung, aus diesem einen Yoga des Rig-Veda, entstand die gesamte Philosophie, Religion und okkulte Wissenschaft des archaischen Indien, alle Schulungssysteme, mit welchen die Menschen versucht haben, jenen göttlichen solaren Funken mit sich selbst zu verbinden, um in individuelle Vereinigung mit dem kosmischen Geist zu kommen – zuerst mit Vater Sonne, dann mit dem Universalen Geist; denn die Verehrung dieser alten Weisen ging so weit, daß für sie nichts von der Gottheit getrennt war. Jedes Atom, jeder Stein, jedes Tier, jeder Mensch, jeder Deva oder Gott, was es auch sei, hoch, tief oder in der Mitte stehend, war ein Kind des kosmischen Herzens des Seins, das sich allmählich höher und höher zur selbstbewußten Vereinigung, Yoga, mit Jenem erheben konnte. Wenn dieser glorreiche Vollzug erreicht ist, dann haben wir einen Menschengott, einen Gottmenschen.

Diese Gedanken sind keine einzigartige Besonderheit Hindustans. Im Gegenteil, sie sind Allgemeingut der archaischen und modernen Theosophie. Sie waren Allgemeingut der Stoiker, der Platoniker und anderer Schulen Griechenlands und Roms. Sie waren seit unvorstellbaren Zeiten in Ägypten und Persien bekannt. Lesen Sie die alten Schriften dieser Völker.

Yoga ist daher Schulung, Disziplin, durch die die heiligste aller menschlichen Möglichkeiten erreicht werden kann: Wachstum des Menschlichen, Erweiterung des Menschlichen zum Göttlichen, zur Göttlichkeit, die wir in unserem Höchsten bereits sind. Wir werden einfach unser Höchstes Selbst. Das ist erfüllter Yoga. Ich und mein Vater sind eins. Jeder Christus sagt dasselbe. Jeder Buddha trifft die gleiche Feststellung. Wenn man die darin verborgene tiefe Weisheit begreift, dann liegt nichts Egoistisches darin. Es ist der Geist, der durch den Mund des ergebenen Menschen spricht.

Schönheit und Wissenschaft

Es gibt so viele wunderbare, heilige und erhabene Dinge im menschlichen Leben, und sie sind Balsam für die Herzen der Menschen. Sie sollten kultiviert und begehrt werden; nicht begierig und selbstsüchtig für eigene Zwecke, sondern allein deswegen, damit wir, indem wir im Inneren selbst erhabener werden, das Licht unserer Liebe mit seinem sanften und veredelnden Einfluß weitergeben können. Liebe ist immer wunderbar und deshalb immer groß. In besonderem Maße trifft das für die höhere Liebe zu, denn sie ist universal.

Ich möchte manchmal wissen, ob die großen Wissenschaftler, ich meine jene, die ihr Leben dem unpersönlichen Studium der Natur widmen, verstehen, daß sie in sich selbst einen Aspekt der Schönheit in der Natur kultivieren; wenn sie sich nämlich in ihrem Studium verlieren, werden sie in ihren Gedanken zunehmend universaler, weniger konzentriert auf das Selbst. Selbstsüchtige Liebe kann sogar verdammen, und sie ist ein Beispiel für böse Spiritualität. Eine schöne Liebe kann jedoch erheben.

Das verständnisvolle Herz

Verehrung ist eine gottgleiche Qualität. Ich bin der Ansicht, daß die Götter Verehrung empfinden, wo wir uns lediglich wundern, und ich glaube, daß ein Erwachsener Verehrung empfindet, wo sich das Kind immer nur wundert. Für mich ist Verehrung ein Kennzeichen für den Fortschritt in der Evolution. Der Mensch, der keine Ehrerbietung kennt, hat für mich wenig Verstand. Es ist viel leichter, etwas zu kritisieren und lächerlich zu machen, als es zu verstehen und in diesem Verständnis Verehrung zu fühlen. Verehrung wächst rasch in dem Menschen, der ein verständnisvolles Herz hat.

Wenn wir alle ein verständnisvolles Herz hätten, würden die schwierigsten Punkte der Philosophie für uns leicht werden. Ich habe außerdem festgestellt, daß ich dann, wenn ich verwirrt, verzweifelt und in ein Problem verstrickt war, niemals Hilfe vom Gehirn, sondern immer nur vom Herzen empfing. Der Kopf scheint allzuoft die Last zu erschweren, weil er voller Einbildungen und oft voller nichtssagender Probleme ist. Das Herz jedoch versteht, denn in ihm wohnt ein höherer Intellekt als im Kopf. Denn, wenn ich so sagen darf, im Herzensleben ist mehr intellektuelle Kraft als Herzensleben im Denken.

Es ist kein Wunder, daß die Alten den Sitz der alltäglichen Aufmerksamkeit des Menschen in den Kopf verlegten; seinen wirklichen Intellekt, sein Verständnis, seine Intuition, sein spirituelles Begriffsvermögen, seinen Sinn für ethische Verantwortlichkeiten aber in das Herz.

Deshalb zeigten die Ägypter in ihren von Hieroglyphen umrahmten Darstellungen auch niemals das Wiegen des Gehirns oder des Kopfes. Sie wogen das Herz gegen die leichte Feder der Wahrheit. Das Herz allein wurde gewogen. Es ist bedeutsam, daß im alten Okkultismus angenommen wurde, das Herz enthalte die höheren Teile des menschlichen Wesens. Diese Gedanken sind dem Westen ziemlich neu, weil uns von der alten, idealen Weisheit nur wenig verblieb. Und dennoch haben wir bis heute die Wahrheit bewahrt, daß die Liebe im Herzen und nicht im Kopf wohnt.

Beachten Sie bitte die Gedankenrichtung: Wenn Sie im Zweifel sind, ob Sie jemand liebt, dann beobachten Sie ihn. Wenn Sie finden, daß jene Person nur von Vernunftgründen geleitet wird, wie: ist es weise, werde ich einen Vorteil haben, was wird man von mir denken?, dann können Sie gewiß sein, daß die Zuneigung dieses Menschen zu Ihnen nicht tief ist. Es gibt eine Weisheit des Herzens, die instinktiv, unmittelbar und unbestreitbar ist. Sie ist ein weit größerer Schutz für den Unwissenden und Aufrichtigen, als es das beständig zergliedernde und nur klügelnde Denken des Kopfes ist.

Ich meine, das größte Geschenk, das die Götter uns allen geben können, ist ein verständnisvolles Herz. Es ist immer vergebend, voller Hilfsbereitschaft und mitleidsvoll. Es denkt stets zuerst an andere. Es ist durch die Weisheit der Zeitalter weise geworden, denn es verkörpert den Atem der göttlichen Weisheit in uns.

Denken Sie daran, daß das Herz nicht das Gefühl ist. Gerade hier straucheln immer wieder so viele Menschen auf dem Pfade. Allzuoft sind die Gefühle, wie Sie finden werden oder schon herausgefunden haben, mit dem Kopf verbunden; das Herz jedoch hofft immer, daß die Wahrheit verstanden wird, daß andere verstehen und helfen werden. Die Gefühle sind voll heißen Feuers, voller Eifersucht, Argwohn und Empfindlichkeit. Sie haben keine Vision. Wenn wir also von einem verständnisvollen Herzen sprechen, meinen wir niemals die Gefühle, in denen manche Leute leben und damit prahlen, daß das ein reiches Leben ist. Es ist ein armes Leben, ein dünnes und hungriges Leben, denn die Gefühle sind niemals zu befriedigen. Sie gleichen den Piśāchas des alten Indien, die von den Visionären als Wesen mit ungeheuer großem (oder auch winzigem) Körper beschrieben werden, erfüllt von riesigem Durst oder Hunger und mit einem Mund von der Größe einer Nadelspitze, so klein, daß nicht einmal eine Nadel hineinginge. Sie hungern und dürsten und können niemals befriedigt werden. Dies ist eine gute bildliche Darstellung der Gefühle. Seltsamerweise sind diese Piśāchas die astralen Verkörperungen der im Kāma-Rūpa enthaltenen Emotionen verstorbener Menschen. Sie wurden während des Erdenlebens von jenen erzeugt, die in der psychischen Natur, dem Gehirnverstand und in den Emotionen gelebt haben.

Das Herz ist das Zentrum der spirituell-intellektuellen Fluide, die den vollständigen Menschen ausmachen in Verbindung mit dem mānasischen Ākāśa, das den Kopf erfüllt und das das Gehirn durchflutet; wenn sie völlig harmonisiert und vereinigt sind, machen sie den vollendeten Menschen aus. Oh, bitten Sie die Götter, Ihnen ein verständnisvolles Herz zu geben. Machen Sie dieses Gebet zu einer Wirklichkeit in Ihrem Leben, indem Sie sich selbst den Weg zu den Göttern, die es Ihnen geben können, öffnen. Dann wird Ihr Leben geleitet sein, voller Verehrung und reich an Frieden. Alle Segnungen werden Ihnen zukommen.

Karma: angenehm und unangenehm

Ich glaube, die Überschrift dieses kurzen Artikels beschreibt sehr gut die Art und Weise, wie die mit der majestätischen Lehre vom Karma vertrauten Menschen diese Lehre betrachten: nämlich daß Karma etwas ist, das in sich selbst angenehm oder unangenehm für uns ist. Vom psychologischen Standpunkt aus ist diese Einstellung natürlich, denn wenn Karma auf uns einwirkt, spüren wir alle, daß seine Schläge hart und unangenehm sind oder freundlich und besänftigend, was wir als angenehm bezeichnen.

Ist es aber nicht eher so, daß Karma in all seinen Tätigkeiten – inneren und äußeren, allgemeinen oder besonderen – von uns nur aufgrund unserer eigenen Reaktionen und Einstellungen zu den Dingen, die es uns auferlegt, als ‘angenehm’ oder ‘unangenehm’ empfunden wird? In Wirklichkeit sind alle Naturgesetze, von denen Karma eines der tiefgründigsten ist – das geheimnisvollste und in der Tat das tröstlichste –, völlig unpersönlich, und in ihnen gibt es weder Variation noch Abweichung noch irgendeinen Schatten von Unbeständigkeit.

Gerade in dieser vollkommenen Zuverlässigkeit der grundlegenden Gerechtigkeit in der universalen Natur finden oder entdecken wir unser Glück und unseren Seelenfrieden, und, was noch weit wichtiger ist, diese Gerechtigkeit führt dazu, daß wir unsere unbeugsamen Vorsätze so mit den spirituellen Harmonien in Übereinstimmung bringen, daß unser Leben ebenfalls damit übereinstimmt, und daß wir auf diese Weise Mitarbeiter der Natur werden, ihre intelligenten Gefährten. Wenn wir in größere menschliche Tätigkeitsebenen hineinwachsen und fähig sind, willige Mitarbeiter an den Plänen der Natur zu werden, werden wir unseren Platz an der Seite der Meister und der Götter der Hierarchie des Lichts einnehmen, die in ihren verschiedenen evolutionären Stufen zu bewußten und willigen Instrumenten der Lipikas oder „Aufzeichner“ geworden sind.

Diese Lipikas sind äußerst geheimnisvolle und okkulte Wesenheiten in den strukturellen Harmonien der Universalen Natur und tatsächlich im Aufbau des Kosmos. Nur wenig ist öffentlich über die Lipikas gesagt worden, und dennoch ist der Platz, den sie im Universum einnehmen, deutlich genug. Sie sind in der Tat Dhyāni-Chohans allerhöchsten Ranges in den sogenannten Arūpa-Welten. Weil sie tatsächlich die ersten Kanäle oder Vehikel sind, durch die die kosmische Ideenbildung zur Offenbarung kommt oder hindurchfließt, werden sie dadurch zu den höchsten und mächtigsten Instrumenten von Karma, das aus Samen hervorgeht, die in der Struktur der kosmischen Ideenbildung bewahrt werden. Daher werden die Lipikas als die Agenten Karmas bezeichnet. Und ferner, weil sie nicht nur kosmische Ideen nach unten an tiefer stehende Hierarchien verteilen, sondern karmische Ergebnisse hinauftragen, um sie sozusagen in der Sammlung der kosmischen Ideenbildung zu deponieren, werden sie, vor allem aus letzterem Grund, als Schreiber Karmas oder als Aufzeichner Karmas usw. bezeichnet.

Essentiell ist Karma nur eine Bezeichnung, die wir dem Wirken oder den Prozessen der universalen kosmischen Harmonie geben; dieses Wirken strebt nach Ausgleich, in moralischer und anderer Hinsicht, und das bedeutet kosmisches Gleichgewicht überall in der universalen Struktur.

Aus dem Vorhergehenden können wir leicht die höchst wichtige und bezeichnende Tatsache ableiten, daß das, was wir unser Karma nennen, ob wir es als angenehm oder unangenehm einstufen, in Wirklichkeit die vielgestaltigen und vielfältigen Wirkungen sind, die aus der Vergangenheit auf uns zukommen, hervorgegangen aus dem, was wir und andere um uns herum, hierarchisch gesprochen, gedacht, gefühlt und in jener Vergangenheit getan haben. Und daß in einer genau gleichen Weise unser zukünftiges Karma und das derjenigen um uns, hierarchisch gesprochen, aus dem bestehen wird, was wir jetzt durch unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen als unser zukünftiges Schicksal aufbauen.

Wie H. P. B. so großartig unterstreicht, ist es nicht Karma, das willkürlich ausgleicht oder uns straft, was wir den Lohn oder die Strafe des Schicksals nennen, sondern wir selbst sind es und unsere Mitmenschen, die sich in der Vergangenheit zu dem gemacht haben, was sie jetzt sind, und die sich jetzt zu dem machen, was sie in der Zukunft sein werden. Lediglich unsere gegenwärtigen Reaktionen auf das karmische Schicksal oder auf die karmischen Umstände sind es, die uns Karma als angenehm oder unangenehm bezeichnen lassen.

Als abschließenden Gedanken möchte ich über Karma ganz einfach sagen, daß die karmischen Schicksalsschläge, die wir als unangenehm oder vielleicht als hart bezeichnen, sich meistens als die größten Segnungen der Götter herausstellen, die uns sozusagen in Verkleidung und im Alltagsgewand aufsuchen, und die wir einstweilen mit unguten Gefühlen betrachten und vielleicht oftmals auch mit Furcht. Dennoch ist es nur eine Binsenweisheit zu sagen, daß zuviel Wohlstand, zuviel Glück, die besten Anlagen in uns schwächen können. Wenn wir aber, oft gegen unseren Willen, zum Kampf gezwungen oder zu einer Handlung gedrängt werden, entwickeln wir dadurch nicht nur Willenskraft, sondern auch intellektuelle und moralische Charakterstärke, weil innere Fähigkeiten und latente Kräfte hervorgerufen und geübt werden.

Karma, in welcher Verkleidung es auch kommen mag, ist stets ein Segen, das sollten wir niemals vergessen.