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Die Macht der Freundlichkeit

Freundlichkeit* ist ein Wort mit einem behaglichen Gefühl, etymologisch verwandt mit „Kind“ [kin] oder Familie. Es ist der Bedeutung nach mit Mitleid verwandt, aber das ist ein schwierigeres Wort, das mehr verlangt, als ich für gewöhnlich erfüllen kann. Es fordert uns auf, bedingungslos zu lieben. Das erreiche ich nicht einmal ansatzweise, doch habe ich herausgefunden, dass ich einen der Schritte, die dorthin führen, machen kann – ich kann freundlich sein. Dabei geht es nicht darum, der Goldenen Regel zu folgen. Um die Wahrheit zu sagen – ich mochte sie nie „füge anderen zu, was du möchtest, dass sie dir tun“, da das ein recht selbstsüchtiger Weg des Handelns sein kann. Mir ist es lieber „andere so zu behandeln, wie sie es gerne möchten“. Dem genaue Aufmerksamkeit zu schenken, was andere möchten oder brauchen, und ihnen auf diese Weise zu helfen, ist wahre Freundlichkeit. Es gibt keine zu befolgenden Richtlinien: Gegenüber einem Orangenbaum verhalten wir uns auf eine andere Weise freundlich als gegenüber einem weinenden Kind oder einem verärgerten Polizisten. Wir entdecken in diesem Augenblick, was erforderlich ist und versuchen, aus dem höchsten Teil unseres Wesens heraus zu handeln.

Zwei der freundlichsten, beruhigendsten Worte, die ich je gehört habe, sind „ich auch“. Gleichgültig, in welch schrecklicher Lage wir uns befinden, unabhängig vom Grad der Aufregung – wenn ein anderer gesteht, dass auch er genau jene Schwierigkeiten durchgemacht hat, sind wir erleichtert, erfrischt, aufgerichtet. Es erinnert uns daran, dass wir nicht allein sind. Und das ist einer der Zauberschlüssel der Freundlichkeit: Es hilft, uns neu zu orientieren, wenn wir uns wie ein Außenseiter fühlen – missverstanden, verlegen und allein –, uns wieder als einen wertvollen Teil der Gruppe zu empfinden. Es macht uns frei, uns nahe statt abseits zu fühlen.

Wir verlieren so leicht den Blick dafür, wer wir sind. Der Psychotherapeut Piero Ferucci deutet in seinem jüngsten Buch auf eine moderne „Epidemie der Depression und der Panikattacken“ hin und bringt sie in Verbindung zu dem „Mangel an Wärme und einer beruhigenden und schützenden Gemeinschaft  . und mit einem geschwächten Empfinden der Dazugehörigkeit“ (The Power of Kindness, S. 8). Solche Epidemien können direkt auf den materialistischen Glauben zurückgeführt werden, der unsere Kultur durchzieht – dass Dinge inhärent wertvoll sind, wohingegen Menschen ihren Wert ‘verdienen’ müssen. Ich finde es sonderbar, dass die meisten Amerikaner die grundlegende Prämisse des Materialismus ablehnen, nämlich dass ‘Dinge’ wahllos zusammenstießen und zufällig Leben schufen – ‘Dinge’, die der Philosoph Ken Wilber trocken als „verspielten Schmutz“ bezeichnete. Allgemein scheinen die meisten von uns zu glauben, dass die Göttlichkeit oder das Bewusstsein bei der Geburt (oder Wiedergeburt) des Universums eine Rolle gespielt haben muss. Dennoch erscheint es so, als hätten wir die Ergebnisse des materialistischen Denkens übernommen, denn wir leben grundsätzlich so, als hätten die Materialisten recht, als gäbe es keinen inneren Zweck oder Sinn des Lebens. Wir schauen in die materielle Welt um uns, um die Quelle unserer Probleme und deren Lösung zu identifizieren, statt nach innen zu blicken, zur Quelle unseres eigenen Wesens (und dem aller). Wir betonen materielle Quantität stärker als Qualität, die aus einer verfeinerten oder spirituellen Lebensansicht stammt. Wir möchten das Steak ohne die Kuh, uns am Geschmack erfreuen, ohne von dem Essen berührt zu sein.

Einer der Preise, die wir für ein materialistisches Leben bezahlen, indem wir seine philosophische Grundlage ablehnen, ist ein Mangel an Integrität. In dem Maß, in dem wir die Annahme ablehnen, dass das Leben ein glücklicher Zufall wahlloser Ereignisse ist und doch so handeln, als ob das so wäre, indem wir das Äußere höher schätzen als das Innere, legen wir eine Grundlage, uns getrennt, bedrückt, ängstlich und isoliert zu fühlen. Wenn wir glauben, dass sich die Göttlichkeit im Kern des Universums befindet, an der Wurzel des Lebens, dann lasst uns ein Leben führen, das Sein mehr schätzt als Haben, Wesen mehr als Dinge.

Für diejenigen, die das Interesse und die Disziplin haben, das herauszufinden und zu studieren, bietet die alte Weisheit ein mächtiges Gegengift gegen das leere Versprechen des Materialismus. Aber die Anzahl der Menschen, die bereit sind, die Anstrengung zu unternehmen, ist nicht sehr groß, und so biete ich eine gekürzte Version: Lasst uns freundlich sein. Nicht weil wir meinen, wir sollten, sondern weil es das widerspiegelt, wer wir in unserer tiefsten Natur sind. Lasst uns Freundlichkeit aus dem Bereich der guten Umgangsformen transportieren und ihre okkulte Grundlage überdenken: Theosophische, Sufi- und buddhistische Traditionen lehren, dass die Grundlage des Universums liebevolle Freundlichkeit ist. Die Sufis sagen, dass „alles der Geliebte ist“, und die Christen lehren, dass Gott Liebe ist. Die Theosophen sagen, dass das, was wir unsere innere oder göttliche Natur nennen, der Ausdruck des Mitleids ist. Ich kann persönlich dafür nicht garantieren, aber für mich fühlt sich das richtig an, und die Menschen, deren Meinungen ich schätze, haben immer und immer wieder darüber geschrieben. H. P. Blavatsky drückte es so aus: „Mitleid ist kein Attribut. Es ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie … eine uferlose, universale Essenz , … das Gesetz ewiger Liebe“ (Die Stimme der Stille, S. 93). Mitleid als eine universale Essenz muss also ein Teil von uns sein, ein Teil unserer Essenz.

Wenn wir die Welt durch die Augen der Liebe betrachten, verhalten wir uns freundlich. Der Buddhist D. T. Suzuki erzählt diese Geschichte: Ein Mann hörte ein Geräusch, das aus seinem Hof kam, und als er hinausschaute, sah er Buben aus der Nachbarschaft auf einen seiner Bäume hinaufklettern, um Früchte zu stehlen. So stellte er eine Leiter unter den Baum und kehrte ruhig in sein Haus zurück. Er fürchtete, dass die Kinder – wenn sie vom Baum herunterstiegen – „aus Angst, ertappt zu werden, ausrutschen, hinfallen und sich verletzen könnten. Sein Impuls war, sie vor einer Verletzung zu bewahren, und nicht, seinen Besitz zu retten“. Wenn wir für die Vereinigung und Verbundenheit allen Lebens wach werden, können wir nicht anders als auf freundliche Art zu handeln.

Zahllose Weise haben uns berichtet, dass das Leiden eines jeden Menschen uns alle betrifft, dass – wenn ein Mensch versklavt ist – niemand von uns frei ist. Egal, wie wir das rechtfertigen und vernunftmäßig erklären, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen anderer resultiert aus Unwissenheit und nicht aus Klugheit. Können wir entspannt und glücklich sein, wenn wir quälende Schmerzen haben? Können wir glücklich sein, während andere leiden? Unsere Leben hängen stark voneinander ab: Wir beginnen unsere irdische Reise im Körper unserer Mutter und jede Minute danach hängen wir für unser Wohlbefinden teilweise von anderen ab, obwohl wir es oft vergessen, bis es einen Streik oder einen Mangel an Produkten gibt. Worin besteht unsere Verantwortung für dieses Netz von Verbindungen? Albert Einstein schrieb: „Hundert Mal jeden Tag erinnere ich mich selbst daran, dass mein inneres und äußeres Leben von der Arbeit anderer Menschen – lebendigen oder toten – abhängt und dass ich mich bemühen muss, in dem Maß zurückzugeben wie ich empfangen habe und noch immer empfange.“ Und fast 2000 Jahre davor flehte uns Kaiser Markus Aurelius an:

Betrachtet das Universum stets als ein Lebewesen mit einer Substanz und einer Seele; und beobachtet, wie alle Dinge in Beziehung stehen zu einer Wahrnehmung, der Wahrnehmung dieses einen Lebewesens; und wie alle Dinge mit einer Bewegung handeln; und wie alle Dinge die kooperierenden Uraschen aller Dinge sind, die existieren; beobachtet auch das stete Spinnen des Fadens und den Zusammenhang des Netzes.
Meditations 4:40

Wenn wir das Universum betrachten, als habe es eine Seele, und es als ein Lebewesen ansehen, muss sich unser Verständnis füreinander und für jedes Wesen auf dem Planeten verändern. Ich denke an einen Spruch, der vor vielen Jahren populär war: „Wir leben alle stromabwärts.“ Es ist ernüchternd zu erkennen, wie Gedanken, Worte und Taten aus uns ausströmen und entweder zur Verschmutzung oder zur Reinigung der Welt beitragen.

Oft vergessen wir, wie wichtig wir sind, aber das Bedürfnis von Wärme und Freundlichkeit ist für das Wohlergehen eines jeden einzelnen grundlegend. Shelley E. Taylor erzählt eine Geschichte über das Nachkriegsdeutschland, als Essensrationen knapp waren. Dennoch waren Wissenschaftler, die für die Kontrolle der Nahrung von Kriegswaisen verantwortlich waren, in der Lage, die Rationen einer Wohngemeinschaft zu erhöhen in der Hoffnung, dass die Kinder mit den zusätzlichen Rationen im Laufe von 6 Monaten beginnen würden, mit Gleichaltrigen an Größe und Gewicht gleichzuziehen. Erstaunlicherweise machte die Extra-Nahrung keinen Unterschied. Bei einer anderen Wohngemeinschaft allerdings, wo die Rationen immer noch auf Kriegsniveau waren, begannen die Kinder ordentlich zu wachsen. Zusätzliche Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass der Unterschied im physischen Wachstum von Kindern mit der Freundlichkeit der verantwortlichen Frau des einen Waisenhauses zu tun hatte – im Gegensatz zu der nachgewiesenen Grausamkeit der anderen verantwortlichen Frau. Der Anteil an Liebe und Zuneigung, „die jedes Kind von einer warmherzigen und liebevollen Betreuerin bekam, bewirkte mehr für das Wachstum jeden Kindes als teure Zusatznahrung.“ Das ist die großartige Macht der Freundlichkeit. „Und wenn man sieht, dass Grausamkeit sogar die Wirkungen von zusätzlicher Nahrung auf das Wachstum zunichte macht, beginnt man zu verstehen, wie mächtig auch starke Angst sein kann“ (The Tending Instinct, S. 3). Das ist die Macht der Unfreundlichkeit: Ärger hat Energie, Hass hat Intensität und Angst kann uns auf allen Ebenen lähmen. Aber Freundlichkeit hat das Potenzial, all diesen Bedingungen zu begegnen und sie zu neutralisieren. Es führt zu Grosszügigkeit des Geistes, die hilft zu beflügeln, zu beleben und zu segnen. Freundlichkeit öffnet einen Raum, der uns mehr innere Freiheit gewährt.

Es beginnt mit einer Absicht, einem Engagement zum Freundlichsein. Wenn wir beschließen, Freundlichkeit zu praktizieren, fangen wir an, mehr Gelegenheiten zu bemerken. Wir nehmen auch wahr, wo wir uns zurückziehen: Wo das Leiden zu groß für uns ist und wir dessen Anblick nicht ertragen können, ganz zu schweigen vom Helfen. Je mehr wir Freundlichkeit praktizieren, selbst jenen gegenüber, deren Elend uns abstößt, um so stärker und fähiger werden wir, ohne eine Regung in der Gegenwart großen Leidens auszuharren – um Freundlichkeit an sich zu verkörpern.

Wir können allerdings auch versucht sein, aus falschen Motiven freundlich zu handeln. Wir müssen es den Menschen nicht gestatten, Vorteil aus uns zu ziehen – wahre Freundlichkeit umfasst nicht nur andere, sondern auch uns selbst. Sind wir wirklich freundlich, wenn wir verbergen, was wir meinen, bedeutungslose Komplimente verteilen, handeln als wären wir erfreut, wenn wir es nicht sind? Wenn wir vorgeben etwas zu mögen, um ‘freundlich’ zu sein, sind wir uns gegenüber falsch, während wir den anderen Menschen nicht respektieren – und das ist nicht freundlich. Wenn wir ihre Reife und Fähigkeit anzweifeln, abweichenden Ansichten zuhören, ist das eine Bevormundung. Wir können lernen, wie man freundlich widerspricht, wir können Wege finden, freundlich „nein“ zu sagen. Und wir können lernen, „ja“ zu sagen, selbst wenn es unbequem ist.

Eine jüdische Geschichte erzählt uns, dass einmal ein König war, der seinen Sohn hinaussandte, um die Welt zu bereisen, und als die Zeit näher rückte, in der der Prinz zu Hause gebraucht wurde, sandte ihm der König eine Botschaft, dass er heimkehren sollte. Aber der Prinz konnte sich nicht dazu bewegen heimzukehren und blieb weg. Der König sandte ihm noch eine Botschaft und wieder lautete die Antwort des Prinzen: „Ich kann nicht.“ So sandte der König, der ein weiser und liebevoller Mann war, eine weitere Botschaft: „Dann komme so weit du kannst, Sohn, ich komme dir den Rest des Weges entgegen.“

Das ist liebevolle tätige Freundlichkeit. Außer ja oder nein zu sagen, liegt hinter dem, was all die Wörter und äußerlichen Handlungen unterstützt, unsere innere Haltung, diejenige, die den anderen als Teil von uns selbst erkennt, die sieht, wenn andere ihren eigenen Wert vergessen haben und die mit einem grosszügigen Angebot hilft, mitunter mit nur einer Berührung oder einem Blick. Galway Kinnell hebt das in „Saint Francis and the Sow“ hervor:

Die Knospe
steht für alle Dinge,
sogar für jene Dinge, die nicht blühen, 
denn alles blüht – von innen, durch Selbst-Segnung; 
wenn es auch manchmal nötig ist,
ein Ding seine Lieblichkeit neu zu lehren,
eine Hand auf seine Stirn zu legen …
und ihm mit Worten und Berührung neu zu sagen –
es ist hübsch,
bis es wieder von innen erblüht, durch Selbst-Segnung; …

* Aus einem Vortrag vom 13.04.2007 im Theosophical Library Center, Altadena, CA