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Bewusstsein ohne Grenzen

Das Vaterunser

Frage – Wenn wir erhalten, was wir verdienen, und für unsere Handlungen belohnt oder bestraft werden, was können wir dann vom Gebet erwarten?

Stellungnahme – Dieses Thema ist wichtig und vielschichtig. Ehe wir uns aber über das Gebet unterhalten, ist es ratsam, unser Denken von der Vorstellung zu befreien, ein anthropomorpher persönlicher Gott throne im Raum und messe nach seinen Grillen und Launen oder entsprechend unseren Wünschen Gutes und Böses zu. Diese Auffassung ist bestimmt falsch: Sie verneint die Gerechtigkeit und unterminiert den Glauben – den Glauben an die absolute Harmonie des universalen Gesetzes.

Die praktische Quintessenz des Gebets, wie sie der Meister Jesus sah, kommt in seiner Bitte Gethsemane zum Ausdruck. „Aber nicht mein, sondern Dein Wille soll geschehen“ (Lukas 22, 42) – nicht mein persönliches Wollen, sondern der Wille des Göttlichen. Mit anderen Worten, lasse das Gesetz der Gerechtigkeit seine harmonisierende und ausgleichende Wirkung ausüben, damit sich die früher geschaffenen Ursachen in unserem Leben auswirken können.

Frage – Wenn wir mit unserem persönlichen Willen jetzt eine besondere Hilfe suchen und durchsetzen würden, obwohl wir wissen, dass wir sie eigentlich gar nicht verdienen, dann würden wir doch sicher dadurch unser Guthaben überziehen und wir müssten dann später einen entsprechenden Betrag zurückzahlen?

Stellungnahme – Wenn auch vom persönlichen Willen geprägte intensive Gebete die Wirkungen bestimmter Ursachen zeitweilig verdrängen können, und nur in diesem Sinn könnte man sagen, dass ‘unser Guthaben überzogen würde’, können wir doch ganz sicher sein, dass die exakte Wirkung jeder Ursache uns im Laufe der Zeit einholt – und oft mit Zinseszins. Wir dürfen uns ja nicht vorstellen, dass Gebete – und seien es noch so viele – die Funktion des großen Gleichgewichtsgesetzes aufheben können. Es gibt keine ‘Vergebung der Sünde’ im gewöhnlich verstandenen Sinn. Weder Gebet noch ‘Vergebung’ können die Unbeugsamkeit des universalen Waltens der Natur beeinflussen, die Wirkung wird der Ursache folgen, ganz gleich, wie lang die dazwischenliegende Zeitspanne ist.

Frage – Wahrscheinlich betet jeder auf die eine oder andere Weise und wir wissen selbstverständlich, dass Jesus betete – schließlich wird ihm ja das Vaterunser zugeschrieben. Nun enthält dieses Gebet Teile, die anscheinend keinen Sinn haben, trotzdem habe ich sagen hören, dass die gesamte Lebensphilosophie darin zu finden sei.

Stellungnahme – Das Vaterunser enthält eine vollständige Philosophie vom rechten Leben. Das heute allgemein gebräuchliche Beten hat sich jedoch weit von den Geboten des Meisters Jesus entfernt, ja von den Geboten aller großen Weltlehrer. Das Gebet wird heute in zahlreichen Formen ausgeübt, die fast alle egoistischer Natur sind: Meistens werden mehr die eigenen Nöte in den Mittelpunkt gestellt als die der anderen; und schlimmstenfalls sind sie eine Ausbeutung des eigenen göttlichen Erbes. Damit meine ich jene Gebetsübungen, die jetzt immer populärer werden, mit denen man – wie gesagt wird – durch Konzentration auf eigene Wünsche ‘Macht, Wohlstand und Verstandeskräfte’ gewinnen würde. Diese Art Gebet ist voll konzentrierter Selbstsucht; sie ist daher äußerst gefährlich für den spirituellen Fortschritt des Ausübenden.

Richtig verstanden enthält das Vaterunser kein Jota Selbstsucht. Doch andererseits, wer von uns versteht wirklich, was der Meister Jesus meinte? Wir lernen das Gebet in der Kindheit und hören als Erwachsene, wie es in verschiedenen Frömmigkeitsvariationen vorgetragen und als Hymnus von Chören in aller Welt gesungen wird. Welchen Einfluss hatte es jedoch auf unser tägliches Verhalten?

Frage – Unsere Ansicht über das Beten hat sicher bei uns allen eine Reihe von Stadien durchlaufen. Wir lernten die üblichen Gebetsformen in Kirche und Sonntagsschule kennen; sie erschienen mir jedoch nie als brauchbar. Auch entsprachen sie dem, was das Gebet bewirken soll, insofern nicht, weil bei den meisten dieser Gebete etwas für die eigene Person herausspringen soll. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich kein Recht habe, um irgendetwas zu bitten, da ich im Vergleich zu anderen soviel besitze. Ich empfand vielmehr, dass ich anstatt um mehr zu bitten, für meine Habe danken müsse, um so wenigstens auf eine Art zu versuchen, gewissermaßen die Unkosten für meinen Aufenthalt hier zu bezahlen. Die Vorstellung, dass man zur Erreichung irgendeines besonderen weltlichen Zwecks direkt zu irgendeinem Wesen oder Gott betet, konnte ich nie billigen, sondern ich habe immer empfunden, dass die Natur, die im physikalischen Bereich alles gesetzmäßig abwickelt, auch im spirituellen Bereich diese Gesetze hat: Man wird immer in dem Maß empfangen, wie man gibt. Was kann uns dann das Gebet nützen?

Frage – Auch ich fühlte mich nie berechtigt, irgendwelche Dinge zu verlangen. Im Gebet sah ich immer eine Forderung, und da es für mich keinen persönlichen Gott gibt, den ich anerkennen kann, noch irgendein anthropomorphes Wesen, das ich um eine Gunst bitten könnte, so kann ich auch niemand finden, dem man danken müsste.

Stellungnahme – Ich verstehe genau, was Sie meinen. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der Vorstellung von einem Gott, der irgendwo außerhalb des Menschen im Raum wohnt und – wie man annimmt – für alles direkt verantwortlich ist, was nach unserer Erschaffung geschehen ist, und zwischen der Vorstellung von einer göttlichen Intelligenz im Herzen aller Dinge im Universum, vom Atom zur Sonne bis zu jedem von uns. Mit diesem letzteren Begriff sehen wir, soweit es das Gebet angeht, im Vaterunser (Matthäus 6, 9-13) nicht mehr ein Mittel zur Erfüllung unserer Bittgesuche, sondern vielmehr einen verbalen Ausdruck des edelsten Strebens, dessen der Mensch fähig ist.

Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name – Hier wendet sich der Meister an seinen inneren Vater, der nicht voll in uns inkarniert ist, weil wir den Punkt noch nicht erreicht haben, wo wir eins mit ihm geworden sind. Wenn wir an Paulus denken, der den Menschen in Körper, Seele und Geist einteilte, dann können wir den Vater in uns als einen Aspekt jener Göttlichen Intelligenz ansehen, der gleich zu werden unsere erhabene Aufgabe ist. Das wird äonenlange Zeitperioden beanspruchen, aber weil sich ein Funke des Göttlichen in jedem lebenden Organismus manifestiert, hat der Mensch die Möglichkeit dazu.

Dein Reich komme – Hier bitten wir, dass das Reich des Vaters, das im Himmel oder in den spirituellen Regionen und auch im Innern herrscht, ins Dasein treten möge. Das heißt, wir bitten oder streben nach der Fähigkeit, jenen Göttlichen Aspekt unserer Natur, ohne den wir nicht existieren würden, gerade hier auf der Erde in aktive Manifestation zu bringen.

Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden – Lasset die Werke der Göttlichen Intelligenz Eingang finden in alle Lebensangelegenheiten auf dieser Erde, wie sie im Himmel Ausdruck gefunden haben – Himmel als relatives Ideal verstanden, wie auch als mögliche innere Qualität, wie wir sie eines Tages entwickeln werden.

Unser tägliches Brot gib uns heute – Beachten Sie unser tägliches Brot heute. Wir werden nicht aufgefordert, die Bedürfnisse für die gesamte Zukunft zu sichern; auch sind mit ‘unserem täglichen Brot’ nicht nur die körperlichen Bedürfnisse gemeint, so wichtig sie auch sein mögen. Gib uns heute, was an Stärke, Weitblick und Weisheit benötigt wird, nicht nur für uns selbst, sondern für unsere Familie, unsere Nächsten, unsere Gemeinde, möglicherweise auch für unsere Nation und die ganze Menschheit. Diese Bedürfnisse mögen sich von den allereinfachsten bis zu den höchsten Charaktereigenschaften erstrecken, die wir zu entwickeln im Begriff sind und so den Vater in uns fügsam machen.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern – Hier haben wir eine der brauchbarsten Regeln esoterischer Schulung vor uns, aber auch eine jener Regeln, die am meisten missverstanden wurden. Diese Bitte fordert vom inneren Vater nicht, uns unsere Fehltritte in dem Sinn zu vergeben, dass wir von der Verpflichtung ihrer Richtigstellung befreit werden. Auch sollen wir nicht um Vergebung bitten oder Charaktereigenschaften uns gegenüber verlangen, die wir unsererseits in unseren Beziehungen zu anderen nicht zum Ausdruck bringen. Genauso wie wir unseren Brüdern ihre Fehler nicht vorhalten, so bitten wir den Vater in uns, dessen Mitgefühl größer ist als unseres, uns die Irrtümer unseres Urteilsvermögens nicht vorzuhalten, die uns bei unserem Entwicklungsstreben unterlaufen. Das alte Gesetz des Ausgleichs, der Harmonie, das Gesetz des Karma wirkt hier. Was der Mensch sät, wird er ernten – Handlung, gefolgt von ihrer entsprechenden Auswirkung, gilt für alle Ewigkeit. Genau wie Karma die eine Seite der Münze ist, ist Mitleid oder Barmherzigkeit die andere Seite des gleichen universalen Gesetzes. Aber wir müssen aus unserem Herzen allen Groll und jedes Rachegefühl wegen Ungerechtigkeiten, die uns angetan wurden, entfernen, ehe wir den Vater in uns um ‘Gnade bitten’ für die Ungerechtigkeiten, die wir täglich an unserem wirklichen Selbst verüben.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen – Wörtlich genommen, handelt es sich hier um eine außergewöhnliche Äußerung, wenn dieses Gebet an Gott gerichtet ist, der angeblich der Vater alles Guten ist, dann wäre die Bitte, uns nicht in Versuchung zu führen, doch wirklich beleidigend, oder gibt es eine sinnvollere Deutung? „O Vater in uns, führe uns nicht von unseren Prüfungen und Schwierigkeiten hinweg, so dass wir, wenn wir sie tapfer annehmen, das Übel als solches erkennen und seine Macht über uns brechen können.“

Frage – Das gefällt mir viel besser. Ich konnte nie verstehen, warum wir den Vater bitten müssen, uns nicht auf schlechte Wege zu führen, und ich habe mich auch immer gefragt, warum das in einem Gebet enthalten ist, das angeblich von einem Erlöser stammt.

Stellungnahme – Sie sind nicht der einzige, der sich darüber wunderte. Wahrscheinlich hat jeder nachdenkliche Mensch nach einer Deutung gesucht, die seinen angeborenen ethischen Instinkt mehr befriedigt. Vor einigen Jahren hat ein Geistlicher der Anglikanischen Kirche auch tatsächlich eine Revision des Vaterunsers gefordert. Unser Satz müsste nach seinem Vorschlag wie folgt lauten: „Und lass uns nicht fallen, wenn wir versucht werden“, weil, wie er erklärte, „kein Christ annehmen kann, er würde von der Versuchung ausgenommen“. Deshalb sollte sich das Gebet auf ‘die Kraft, der Versuchung widerstehen zu können’, richten. Ganz bestimmt fördert diese Geisteshaltung unsere Charakterstärke mehr, als die schwächliche Bitte, jeder Versuchung ferngehalten zu werden. Wer ist letztlich stärker, mitfühlender und weiser: der Mensch, der von allen Verlockungen des Lebens abgeschirmt wird, oder der, der durch Versuchungen herausgefordert, diese als solche erkennt und sich seinen Weg auf sicheren Grund erkämpft? Bestimmt der letztere, denn auf diesen Menschen kann man sich verlassen; er hat die innere Struktur seiner Seele gestärkt.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit – Ich weiß, dass einige Autoritäten diesen Satz für eine spätere Hinzufügung halten. Wie dem auch sei, wir können ihn in folgender Weise verstehen: Die Göttliche Intelligenz ist das wahre Reich und die einzige reale Kraft, und wenn ihre Werke auf dieser Erde in unserem eigenen Leben zur Manifestation gebracht werden, dann wird sie wahrhaftig für alle Ewigkeit als höchste Herrlichkeit gesehen werden.

Was ergibt sich dann aus dem Vaterunser in Verbindung mit Karma? Wir erkennen, dass das unzerstörbare Naturgesetz von Ursache und Wirkung nur ein Ziel hat: die Wiederherstellung von Gleichgewicht und Harmonie. Der Mensch hat daher die Pflicht, bewusst auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Bei diesem Tun entdecken wir: Gebet ist Pflichterfüllung im Licht unserer täglichen Verantwortung gegenüber unserem Schutzengel, der über jeden Aspekt unseres Lebens wacht. In dem Maß, wie wir mit dem göttlichen Inspirator zusammenarbeiten, bringen wir nicht unseren persönlichen Willen zum Ausdruck, sondern den spirituellen Willen des Vaters in uns.