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Die Götter warten

IV – Die Philosophie der Natur

Alles stockt oder geht, so gut es geht, bis ein starker Mensch erscheint;
Ein starker Mensch ist der Beweis der Rasse und der Kräfte des Universums,
Wenn er oder sie erscheint, wird alles tief beeindruckt,
Der Zweifel der Seele hält inne,
Die alten Bräuche und Redeweisen werden geprüft, werden zurückgedrängt oder beiseite gelegt.

– WALT WHITMAN, „Song of the Broad-Axe“

 

Meine erste Begegnung mit H. P. Blavatskys Lehrer

Weil wir unsere Hoffnungen, so wie sie beschaffen sind, nicht auf Wissen sondern auf Glauben bauen – auf blinden Glauben und außerdem auf einen Glauben an eine Persönlichkeit und an Kräfte außerhalb von uns selbst –, sind wir so jämmerlich von der Inspiration und der schönen Philosophie der Natur abgekommen, die uns mit ihren Sternen und all ihren Hierarchien der Schönheit die wunderbare Lehre enthüllen könnte, wenn wir uns nur umschauen und achtgeben würden.

Ich erinnere mich sehr genau an den Morgen, als ich H. P. Blavatskys Lehrer in den Bergen in der Nähe von Darjeeling traf. Er war in einfacher tibetischer Tracht gekleidet, hatte ein englisches Taschenmesser in seiner Hand und schnitzte damit an einem kleinen Stückchen Holz. Auf dem Feld unterhalb, nicht weit davon entfernt, pflügte ein junger Hindu mit zwei Ochsen; und das Holzstückchen, so sagte er mir, sollte ein kleiner Pflock oder Stöpsel werden, der, wenn er in das Joch eingesetzt wird, es den Tieren leichter machen sollte. Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Bauern, der einer seiner eigenen Chelas sei, sagte er.

„Auch wenn eine ganze Batterie feuern würde und die Granaten umherfliegen würden“, sagte der Lehrer, „er würde nicht von seiner Arbeit aufblicken. Er wäre sich tatsächlich kaum des Lärms und der Gefahr bewußt, so konzentriert ist er. Jene beiden Ochsen sind von jemand anderem kaum zu bändigen; bei ihm sind sie immer, so wie jetzt, ganz ruhig. Er führt sie nicht mit seinem Willen; seine Gedanken kümmern sich überhaupt nicht um sie. Aber du kannst selbst zum Beweis sehen, daß diese stummen Geschöpfe die Atmosphäre der Reinheit des Gedankens fühlen können.“

„Und wenn er eine Pilgerfahrt unternimmt, wird er mehr Meilen an einem Tage zurücklegen als jeder andere und wesentlich früher ankommen. Weißt du, wie die Frauen hier in Indien die Füße der Pilger waschen und einölen? Nun, seine Füße waren auch nach dem längsten Tagesmarsch niemals wund oder von der Straße verletzt. Warum? Weil er niemals die Entfernung fürchtet oder auch nur an sie denkt, sondern fröhlich seines Weges zieht; und es kommt ihm niemals in den Sinn, sich Sorgen darüber zu machen, ob er den Weg verloren hat oder nicht oder ob er die falsche Richtung eingeschlagen hat oder ähnliches. Sein Denken ist so erfüllt von der Freude des spirituellen Lebens, daß sein Körper dadurch tatsächlich leichter wird.“

„Du weißt, daß normalerweise die Atome des menschlichen Körpers durch die Lasten der Gedanken niedergedrückt werden – die unnötigen Ideen, die Vorurteile und die Ängste. Sie durchlaufen von einer Sekunde zur anderen eine Reihe von Veränderungen, da sie von den Gedanken des Gehirnverstandes beeinflußt werden. Der Mangel an Vertrauen, der Mangel an Inspiration, worunter die Menschen leiden – die Hoffnungslosigkeit – führen diese Atome fast in den Tod. Sie können jedoch durch das Feuer des göttlichen Lebens zu einer Art Unsterblichkeit wiederbelebt und mit der universalen Harmonie in Einklang gebracht werden. Die Menschen überall könnten all diese unnötigen Lasten los werden und so wie dieser junge Chela weitermachen, wenn sie das mentale Gleichgewicht hätten.“

„Wenn du von hier nach Amerika reisen müßtest,“ fuhr er fort, „würdest du nicht still sitzen und von dem Ort träumen, wo du hingehen möchtest, und dir einbilden, das würde genügen. Die Schwierigkeit mit einigen theosophischen Schülern ist die, daß sie ihre Lebenskraft dafür verschwenden, auf das entfernte Ziel zu schauen, anstatt auf den unmittelbaren Augenblick und die Sekunden, aus denen der Pfad zusammengesetzt ist, und so wird ihr besseres Selbst erschöpft. Sie sollten den strahlenden Gedanken selbst in jedem kommenden Augenblick leuchten lassen und in bezug auf das Morgen gleichmütig sein. Wenn man den Wunsch hat, kann man in jedem Augenblick das Tor zu Welten von goldener Möglichkeit finden, die Pforte zu einem wunderbaren Pfad, der in die grenzenlose Ewigkeit hinausreicht…“.

„Von der materiellen Ebene des Strebens, des Denkens und der Persönlichkeit wegzukommen – das ist es, wozu die Seele uns drängt: fortzuschreiten in die verborgenen, unermeßlichen Realitäten des Lebens und zu verstehen, daß in uns, über und um uns und in der Atmosphäre selbst, in der unsere Gedanken und Gefühle existieren, das universale Leben unentwegt als Antwort auf unsere Sehnsüchte und unsere Fragen pulsiert. Wenn die Menschen sagen, daß sie nach Glück suchen, denken sie, daß sie damit auf diejenige Stufe ihrer Evolution abzielen, auf der ihre gegenwärtigen Probleme gelöst werden. Um das zu erreichen, muß man sich von den Verlockungen des Lebens und all seinen äußeren und entmutigenden Aspekten abwenden und sich in der Einsamkeit seines eigenen Seins finden, in der Stille, die unzerbrechlich im eigenen Herzen und Gemüt ruht.“

„Das äußere Leben ist vergänglich: man muß innere Kraft gewinnen und im Geist leben, der ewig ist. Man kann nicht seelenlos in dieses Licht schreiten, ohne Konzentration gelernt zu haben; dies lehren zu können, behaupten heutzutage viele. Sie halten Vorlesungen darüber, errichten Kultstätten, führen Kurse durch und kassieren Geld dafür. Alles was sie erreichen können ist, ihre Opfer von der Wirklichkeit und weiter und weiter vom wahren Selbst in ihrem Inneren abzubringen. Denn Konzentration ist eine dem Selbst innewohnende Kraft und steht über und jenseits des Verstandes. Sie kann nicht in der objektiven Welt gefunden werden, denn dort ist sie nicht. Das Königreich des Himmels ist auf Erden und seine Pforten müssen im Herzen des Menschen gesucht und gefunden werden.“

„Der Schüler sollte also nicht über die Ausbildung von Kräften nachdenken, sondern im Lichte und in der Stärke seiner eigenen höheren Natur leben. Das göttliche Gesetz ist in jedem Mann und in jeder Frau, und jeder muß es hier für sich selbst finden, und es in seinem Leben manifestieren. Niemand kann reines Wasser in schmutziges gießen und erwarten, daß es seine Reinheit beibehält. Selbstlosigkeit erhöht, Selbstsucht erniedrigt: die Möglichkeiten des Menschen stehen in direktem Verhältnis zu seiner Fähigkeit, über sich hinauszuschauen und für andere zu empfinden… .“

„Den Verstand direkt auf Äußerlichkeiten zu richten, während er vom Schlafzustand in den Wachzustand wechselt, bedeutet, das halbe Leben des Tages zu verlieren. Man sollte am Morgen mit einem schönen Gedanken erwachen, sich daran erinnern, daß der Kampf des Tages vor einem liegt, und daß der Gott im Inneren einen Moment der Zwiesprache mit dem Verstand vor den anstrengenden Pflichten des Morgens halten möchte.“

„Der Schüler sollte in der Stille und im Sonnenlicht der ersten Stunden etwas finden, das sich mit seiner eigenen höheren Natur verbindet und Blüte und Frucht hervorbringt. Er sollte sich am Morgen in der Reinheit des Sonnenlichtes befreien und den Tag so sachte beginnen, als würde er ein kleines Kind aus dem Schlummer wecken und dabei sollte er seine wahrhaftigere und edlere Seite zum Vorschein bringen – ich meine damit nicht, es in Worte und Sprache zu fassen, sondern sich in Gedanken dem Reichtum und der Fülle des Geistes zu nähern und den Gott im Inneren in jedem Augenblick seiner Entstehung sich entfalten zu lassen. Wenn er dann seine schwierigste Pflicht begreift, nämlich zu wissen, was seine Pflicht ist und sie zu meistern, wird er das Geheimnis lernen, auf der Hut zu sein und in einer kurzen Zeit, ohne sich dessen bewußt zu sein, alle Lasten über Bord geworfen haben, die ihn behinderten. Viele haben hart und gewissenhaft daran gearbeitet, um sich von diesen Lasten zu befreien: es ist unnötig, sich auch nur einen Augenblick darum zu kümmern. Man muß nur die Zweifel und Befürchtungen ablegen, um die Kammern der Seele zu betreten und sich im Sonnenlicht und in den Kräften zu baden, die sich dort befinden.“

„Die ersten drei Stunden des Tages,“ fuhr der Lehrer fort, „sind die große Gelegenheit. Wer nicht mit der Sonne aufsteht, verliert eine riesige Menge an Kraft. Wer vor Sonnenaufgang aufsteht und bei Tagesanbruch die Pflichten dieser Ebene und was für die Körperpflege notwendig ist, erledigt hat und bereit ist, bei Sonnenaufgang hinauszugehen und mit der Sonne zu arbeiten, der hat die Mitwirkung einer Kraft, von der er wenig weiß – des vibrierenden blauen Lichts hinter der Sonne.“

„Es ist eine Schwierigkeit bei vielen unserer Schüler, daß sie zu oft beim Buchstaben beginnen und rückwärts gehen, um den Geist zu suchen. Sie sollten sich jedoch in der Stille daran festhalten und eine edle Zukunft in ihrem Herzen vorbereiten, wenn sie morgens alleine in die Ruhe der Natur hinausgehen. Indem sie sich hier von ihren alten, trübseligen Erinnerungen und allen Vorahnungen der Unannehmlichkeiten befreien, sollten sie eins werden mit diesem Licht in der Natur. Und es wird nicht schädlich für sie sein, manchmal mit Verwunderung zu den Sternen zu blicken, oder mit Freude dem Gesang der Vögel zu lauschen, oder ganze Tage in Schweigen zu verbringen und dabei über diese heiligen Dinge nachzudenken, während sie allen Pflichten nachgehen, die auf sie zukommen.“

Ich glaube, er hat ein Kleinod in unsere Hände gelegt und uns das wahre Geheimnis des Lebens gegeben.

Die ewige Verbindung

Wenn der Sieg über das Selbst errungen ist, verändert sich die gesamte Betrachtungsweise des Universums. Wir kommen mit göttlicher Liebe der Allmächtigen Mutter näher und bemerken, daß all die Jahre über die Stille und die Sterne des Himmels für uns da waren, und daß die Bäume ihre Blätter und die Blumen ihre Blüten hervorgebracht haben, und daß jeder Vogel, der sang, für uns gesungen hat, und daß alle Schönheit nur für uns da war.

Ich erinnere daran, wie Carlyle nach Jahren des Zweifels an einen Punkt in seinem Leben gelangte, an dem ihm die ganze Welt tot zu sein schien, und er keine Antwort auf seine Fragen in Büchern oder in seiner Kalvinistischen Religion finden konnte. Dann, eines Morgens, als er nach Wahrheit hungernd über die Gipfel der Hügel schaute, wurde es ihm klar: in der Pracht des Morgenlichtes über den Hügeln erkannte er die Macht und die Größe der Natur, deren verborgene Schönheit sich in seiner Seele widerspiegelte. Er fand das Göttliche in seinem Inneren, und die Wahrheit und die Botschaft, über die er später so wunderbar für die Welt schrieb, eine Botschaft des völligen Vertrauens in die Göttlichkeit des Universums und des Menschen.

Und diese Offenbarung wartet auf uns alle, denn das Unendliche ist in allem, und alle Dinge sind ein Ausdruck des Geistes. Die unsichtbaren Kräfte, die hinter der äußeren Natur stehen, sind identisch mit den unsichtbaren Kräften, die durch uns arbeiten; und in beiden sind viele verborgene Dinge, die wir nicht entdeckt haben und nicht verstehen. Der Geist, der durch die Schönheit der Morgendämmerung und des Sonnenuntergangs schimmert, sucht seine Größe und Würde in gleicher Weise auch durch unser menschliches Leben zum Ausdruck zu bringen. Der spirituelle Wille, der uns zu edlem und rechtem Leben drängt, ist ein Teil der gleichen großen Essenz, die durch die gesamte Natur atmet, sich durch die Farbe und den Duft der Blumen ausdrückt, im Flüstern und Rauschen des Windes, in der Musik der wilden Wasser und in den rollenden Wogen des Meeres.

Bei der Suche nach Freiheit, bei der Frage nach erhabener Vollkommenheit, gibt es eine ewige Verbindung zwischen Mensch und Natur. Für uns können die Wellen und die Winde den Kriegsruf hinausschreien, oder den Gesang unseres Friedens singen, oder sie können uns ihre Träume über kommende, sonnenüberflutete Zeitalter zuflüstern. Unter dem Blau des Himmels, in der freien Luft, können wir immer das finden, was uns ähnlich und was uns innig vertraut ist, eine Freundlichkeit in jedem jungen und wachsenden Wesen, und das neue Leben, das die göttliche Essenz ist, kann man überall finden. Es liegt im Plan der Evolution, daß wir uns dieser edlen, stillen Begleitung erfreuen sollen, und daß die gesamte Natur stets das anspricht und hervorruft, was in uns unpersönlich und deshalb göttlich ist.

Geh in die verborgenen Kammern deines Herzens, ziehe hinaus unter der Pracht der Sternbilder, erhebe dich zum Standpunkt der Göttlichkeit, die du in beidem finden wirst, und die Sterne selbst werden für dich neue Wunder wahr werden lassen. Du wirst sicher wissen, daß an der Stelle, an der Leben ist, auch das Göttliche ist, und daß die Schönheit des Himmels und die süße Stille der Luft, das Wunder der Musik, der Reichtum und die Vitalität der Farbe – daß all diese Dinge lediglich Manifestationen und Variationen der unpersönlichen Gottheit sind.

Du kannst dich nicht mit den Zeilen eines schönen Gedichtes beschäftigen, ohne in einem gewissen Grade diesen göttlichen inneren Glanz in dir zu erwecken. Du kannst solche Zeilen wieder und wieder lesen, bis du nach einer Weile deine Umgebung nicht mehr wahrnimmst und draußen bist in einer von Schönheit und Erhabenheit erfüllten idealen Welt – der Jammer dabei ist, daß wir dort nie lange genug verweilen, um herauszufinden, wer wir sind. Wir fangen die Untertöne der Stille dort nicht ein; wir sind in zu großer Eile, um zurückzukehren.

Suche nach dem aufwärtssteigenden und veredelnden Pfad, und du bist nicht länger allein: deine eigene Göttlichkeit ist Seite an Seite mit dir, und was du von dem umfassen kannst, was die universale Natur gewährt, ist bei dir, um dich bis zum endgültigen Sieg hin zu unterstützen. Als Musik wirst du die Symphonie des Lebens hören, und die Sterne auf ihren Umlaufbahnen werden für dich singen, die Bäume werden für dich die Hymne ihres wunderbaren Wesens im Chor singen, und die gesamte Natur wird dich mit dem Gruß des Respekts vor deinem edlen Streben grüßen. Du wirst die Herrlichkeit des Todes verstehen lernen, und du wirst den Pfad erkennen, auf dem du gehen sollst, auch wenn du das Ziel nicht ahnst, denn die Seele soll in deinem Gemüt das Wissen über ihre hohen Möglichkeiten einpflanzen. Derjenige jedoch, der den abwärtsführenden Pfad wählt und seine Energien für das Böse in sich verwendet, dem steht auch in gleicher Weise das Böse der Welt zur Seite.

Ich erinnere mich, wie mir das Wunderbare und die Kraft der Theosophie bei meinem ersten Besuch in Ägypten bewußt wurden. Dort sind die Fußspuren vergangener Zeiten sichtbar, und die Wahrheit, nach der die Menschen lebten und über die sie ehedem nachdachten, besteht noch immer und kann nicht vergehen. In der klaren, unbewegten Luft, in den Bergen und in den alten Tempeln ist eine Stille und das charakteristische Gepräge vergangener Zeiten, die die Imagination anregen. Man spürt die Gegenwart und die Wirksamkeit der Wahrheiten, die seit altersher durch die Mysterien leuchten, und daß die großen Hierophanten und Lehrer den Eindruck ihres inneren Lebens in der Atmosphäre hinterlassen haben. Jene stillen Hügel, verfallen durch das Alter – wie haben sie mich angesprochen! Sie waren erfüllt von der Macht alter Zeiten und den spirituellen Aktivitäten der großen Ägypter. Der alte Nil sprach zu mir, und der Mond über dem Nil, solange bis ich wußte, daß die größte und ausdruckstärkste Kraft in der Natur und im menschlichen Leben die Stille ist.

Das wurde mir in den Gräbern der Pharaonen bewußt. Ich erinnere mich an den Tag, als wir von Luxor aus am Flußufer entlang ritten, hinauf und hinunter über Hügel und durch Schluchten, und wie wir dann durch ein Tor an der Seite des Hügels gingen, unterirdisch vorbei an Galerien und Galerien, und über lange Treppen, die in die Felsen eingehauen waren, in einen Raum gelangten, erleuchtet von elektrischem Licht – das Grab von Seti I. Die Mumie lag dort: Der Deckel des Sarkophags war entfernt worden, und die Leuchter waren so eingestellt, daß man die Gesichtszüge des großen Königs sehen konnte. Vorher hatte ich nie verstanden, warum sie ihre Toten mumifiziert hatten, aber als wir dort hineingingen und auf das Gesicht dieses mächtigen Monarchen blickten – er war einer der allergrößten der Pharaonen – schien sich eine Ruhe über alle Teilnehmer zu senken: eine innere und majestätische Ruhe, die in sich selbst eine Symphonie der Symphonien war, als wären wir in die Gegenwart von etwas geführt worden, das immer noch da war und in seiner Essenz nicht zu vernichten war, etwas von dieser längst dahingegangenen Größe jenes Herrschers.

In alten Zeiten gab es viele Perioden, in denen die Seele besser verstanden wurde als jetzt – als die Menschen ihr Leben einfach und schön in Einklang mit dem wunderbaren Streben der Natur gestalteten; in der sie, was wir nur sehr selten tun, der Melodie des Lebens, die die Stimme der inneren Göttlichkeit ist, lauschten und auf sie hörten; in der sie mit den Sternen sprachen und in ihren Gesichtern keine Furcht geschrieben stand; in der sie keinerlei Dogmen kannten, keine Todesangst, weder spirituellen noch moralischen Terror. All das Beste aus der Geschichte dieser frühen Rassen ist in der Atmosphäre enthalten, in der wir leben. Es ist nicht verloren; es ist in der Natur. Es wurde zu einem Teil der Harmonie des universalen Lebens.

In solchen Perioden begründeten die weisen Lehrer das Osterfest zu Ehren der Großen Mutter. Sie wußten, daß die Tiefen und die Macht, die in der Natur und im Menschen verborgen sind, unendlich sind und indem sie die Schönheit und Heerlichkeit des Universums anerkannten, erweckten sie gleichzeitig die unendliche Schönheit in ihnen und in den Herzen der Menschen. Denn da ist dieser Unterton im Leben: er ist in uns allen, und wir sind unvermeidlich durch ihn miteinander verbunden, jeder ist seines Bruders Hüter, obwohl nur derjenige diesen Ton hört, dessen Größe dazu ausreicht, weil er sein wahres Selbst gefunden hat.

Im Wissen um diese Dinge und darum, daß die göttliche Essenz überall vorhanden ist, wußten diese alten Weisen auch, daß wir durch unser eigenes Streben den Schleier lüften und die Mysterien des Seins und den gesamten Sinn des Konflikts in uns verstehen können, und so unsere eigene Erlösung erarbeiten können; daß derjenige, der seine weltlichen Leidenschaften opfert, die Kraft dazu finden wird, den Stein von der Pforte seines inneren Wesens wegzurollen, in dem die Göttlichkeit begraben liegt, so wie Christus von den Toten auferstanden ist – und daß das die Wiederauferstehung und das Leben ist. Und sie gründeten Ostern in Erinnerung daran.

Wie freudvoll, wie erhaben wird unsere Existenz in dieser Welt, wenn wir sie von diesem Standpunkt aus und mit dem Schlüssel zu allen ihren Mysterien betrachten – das ist das Wissen um die essentielle Göttlichkeit des Menschen – in seinem Besitz! Im Sonnenlicht dieser Weisheit werden alle Gedanken zum Erblühen gebracht, an denen wir festhalten, und die wir wegen ihrer Reinheit lieben. Und die kleinlichen Absichten, die Vorurteile unseres Verstandes und die vorgefertigten Meinungen, die wir annehmen ohne zu überlegen, ob sie überhaupt in irgendeinem Verhältnis zur Wahrheit stehen oder nicht – wie unendlich trivial werden sie erscheinen. Wir haben die Göttlichkeit entsprechend dem Maß unseres eigenen Verstandes begrenzt und stellen uns das Unendliche als etwas Persönliches vor, weil wir alles außer dem Persönlichen in uns vergessen haben. Dennoch kann diese Selbsterkenntnis erlangt werden, die wir noch nicht haben, weswegen wir leiden; es ist ein Sich-Bewußtsein der königlichen Kräfte der Seele.

Unpersönlichkeit von Gott und Mensch

Niemand kann seine eigenen göttlichen Möglichkeiten verwirklichen, bevor er nicht die Universalität des Göttlichen erkannt und dessen Gegenwart in sich zur Geltung gebracht hat in dem Bewußtsein, daß er durch Willen und Überzeugung jede Qualität und jeden Aspekt des Göttlichen in seinem menschlichen Leben offenbar werden lassen kann. Man muß nicht vor seinen gegenwärtigen Pflichten davonlaufen, um dieses Wissen zu finden. Das pochende Leben des Göttlichen befindet sich in den innersten Räumen des Herzens, in dem alle Weisheit entdeckt werden kann, denn genau dort wohnt alle Weisheit.

Laßt einen Menschen mit der Natur arbeiten und ihre fundamentalen Gesetze verstehen und ihnen gemäß leben: indem er weiß, was sie von ihm verlangt, wird er sein Leben auf diesem Wissen aufbauen. Da er mit der Idee des persönlichen Gottes nicht einverstanden ist, laßt ihn wissen, daß Gott das göttliche Leben ist, das sich selbst durch die Kraft seiner eigenen Essenz entfaltet: das eine universale Gesetz, das inspiriert, alles durchdringt und die unendliche Verflechtung der Gesetze leitet, die sich durch das Leben ausdrücken und seine Manifestationen regieren. Und bei der Ausübung jeder kleinsten Pflicht, beim Ertragen aller Sorgen, in der Haltung bei seinen schwierigsten und entmutigendsten Kämpfen, wird ihm diese göttliche Kraft zur Verfügung stehen, dieses Wissen, das sich durch Transformation auszudrücken sucht. Denn das ist eine Kraft, deren Geheimnis im Herzen, im Gemüt und in der Seele liegt, die zusammenarbeiten; sie kann nur aus den verborgenen Bereichen in uns hervorgerufen werden, in welchen aller Glanz im Herzen des Lebens gefunden werden kann.

Wer sie in sich findet und erkennt, daß sie wunderbarerweise sein Selbst ist und die einzige Realität in ihm, der lebt ganz und gar für die Menschheit, denn die menschliche Natur an irgendeinem Punkt zu berühren bedeutet, die ganze Menschheit zu berühren, das göttliche Selbst in uns zu erwecken bedeutet, die allen Dingen zugrunde liegende Kraft anzuwenden. Das ist der Grund, weshalb sich heute niemand richtig wohl fühlt oder gänzlich mit sich zufrieden ist: Der Strahl der göttlichen Natur in jedem von uns drängt nach Selbstausdruck in einem größeren Leben, als wir es je erträumt haben. Wir sind weder zufällig in die Welt gekommen, noch in das Erdenleben geraten wie ein Wrack, das ans Ufer geworfen wird, sondern wir sind hier für unendlich edle Zwecke.

Die gesamte Menschheit sollte ihr Erbe kennen und immerfort danach streben, zu werden und zu überwinden, dabei aber niemals von Kräften außerhalb des Selbst abhängen. Beim Aufstehen am Morgen sollten wir uns unserer inneren Göttlichkeit bewußt sein; beim zu Bettgehen am Abend sollten wir vom Schutz des Gesetzes behütet sein. Denn im Plan des Lebens, an dessen überwältigendem Wohlwollen jeder Anteil hat, wird keiner übersehen, ausgelassen oder vergessen. In allen Situationen, von der trivialsten bis zur wichtigsten, bei allen Versuchungen, von der kleinsten bis zur größten, kann ein Mensch in seiner eigenen Reflexion und seinem eigenen inneren Bewußtsein das finden, was ihn überzeugen wird, daß er mehr ist als er zu sein scheint – ein Wissen, das nicht zu Egoismus oder Selbstüberheblichkeit führt, sondern zu großer Schlichtheit, Unpersönlichkeit und Ausgeglichenheit.

Denn der Mensch ist die Seele, und keine Weisheit ist so göttlich, daß er sie nicht erlangen kann: die Seele gehört zu den schönen Ewigkeiten, und wir sind hier, um alles, was lebt, schön zu machen. Für mich hätte das Leben keinen Sinn, ich könnte nicht einen einzigen Tag durchstehen, gäbe es da nicht das innere Bewußtsein, daß dieses sich rechtfertigende, kleine Selbst von mir der Tempel der Seele ist, der Schrein eines Gottes, der unentwegt nach erhabeneren Ausdrucksformen des Lebens drängt. Die Seele kann auf dieser Seite der Unendlichkeit nirgendwo ausruhen: sie verliert ihre Vitalität, wenn sie das versucht. Die ganze Ewigkeit erwartet sie; wie sollte sie mit dem halben Leben zufrieden sein, das wir leben, und mit den vielen Unvollkommenheiten, die uns beeinträchtigen? Es liegt in der Natur der Seele, immerfort dem Unbegrenzten entgegenzufliegen, zu arbeiten, zu hoffen und zu erobern, immer und immer vorwärtszugehen.

Deshalb ist es keine Frage unserer Vorlieben und Abneigungen: wir müssen vorwärtsstreben, in uns das Geheimnis unseres göttlichen Selbst suchen, das immerwährend zu uns durch die Stille singt. Wenn der Sinn und die Musik des Gesangs verlorengehen, bevor sie unser Gehör erreichen, dann deshalb, weil unsere Gedanken von den Dingen des Todes zu sehr erfüllt sind, und weil wir von unnötigen Lasten niedergedrückt werden und in unserer Jugend durch falsches Denken alt werden, indem wir unser Gemüt mit falschen Wünschen füllen, die der Selbstsucht entspringen und denen wir erlauben, anzuwachsen, bis sie, und nicht wir, die lebendige Kraft hinter unseren Handlungen werden.

Nicht nur das Gemüt, sondern das ganze Wesen muß für die Suche nach Wahrheit vorbereitet werden. Dafür gibt es weder Regeln, die gegeben werden können, noch präzise Anweisungen oder maßangefertigte Rezepte. Aber begreife, wenn auch nur für einen Tag, daß du größer bist als du dir je träumen läßt, daß du in der Essenz deiner Natur göttlich bist und nicht für ewig verdammt werden kannst; und erinnere dich, daß du niemals hättest gehen können, wenn du es nicht versucht hättest, daß du niemals hättest sprechen können, wenn du nicht einen Versuch zu sprechen unternommen hättest, daß du niemals hättest singen können, wenn du nicht in deinem Inneren den Drang des lebendigen Gottes dort verspürt hättest.

Theosophie ist so alt wie die Berge, und alle Weltreligionen basieren auf ihren Lehren, obwohl jetzt nur eine Minderheit mit ihnen vertraut ist. Sie ist weder Aberglaube noch Spekulation, weder Dogmatismus noch blinder Glaube, noch das Produkt des Gehirnverstandes irgendeines Menschen, und auch in keiner Weise übernatürlich. Sie kommt zu den Menschen wie ein alter Wanderer, der alle Wege der Erfahrung durchmessen hat, und der, wenn er nach langen Reisen volles Verständnis für das Leben erlangt hat, an den Platz zurückkehrt, von dem er aufgebrochen war, damit er denjenigen, die dort wohnen, das rettende Wissen bringen kann, das er angesammelt hat. Und das ist das Wissen über den Gott im Menschen und die Kraft des Menschen, vorwärtszuschreiten und zu überwinden; das bedeutet Evolution.

Eine oberflächliche Prüfung der theosophischen Lehren wird nichts nützen. So wie niemand durch das bloße Studium der Musiktheorie ein Musiker werden kann, so kann keiner durch Lesen zu einem Verständnis der Theosophie gelangen. In beiden Fällen ist Übung notwendig: man muß das Leben leben, wenn man das Gesetz kennenlernen möchte. Ein Künstler würde niemals Hervorragendes in seiner Kunst oder ein Musiker in seiner Musik erreichen, wenn er nicht mit den grundlegenden Prinzipien begonnen hätte.

Wo Zufriedenheit mit sich Selbst ist, dort lauert Gefahr, denn dort kann kein Wachstum erfolgen. Ein gewisser Konflikt im Inneren, ein Gedanke, ein Gefühl, muß in Gang kommen, solange bis wir etwas mehr Wissen über uns erlangen – bis wir eine Vorstellung vom Sinn des Lebens und seine Ziele, über unseren Ursprung und unser Schicksal, unsere Pflichten, Schuldigkeiten und Verantwortungen haben.

Kein Mensch kann wirklich wachsen, solange er nicht Selbstvertrauen hat. Der erfolgreiche Erfinder ist derjenige, der erkennt, daß es mehr zu wissen gibt, daß neues Wissen immer erreichbar ist und auf ihn wartet, daß das Morgen dem, was er heute hat, etwas hinzufügen wird. Er war einmal ein Junge, der ungeschickt mit seinem Werkzeug spielte, ohne etwas über die Mechanik zu wissen, aber nach einiger Zeit flüsterte ihm eine innere Stimme zu, daß er etwas vollbringen müsse. Er beschäftigte sich weiter damit, weil dieses Etwas, das ihn zum Weitermachen brachte, über und jenseits seines Verstandes war, bis er bemerkte, daß sein Denken nur eine Hilfe bei der Ausarbeitung seiner Probleme für ihn war, und daß da ein inneres Etwas ist, welches es benützt, dabei Wahrheit entdeckt und Wissen erwirbt, und daß derjenige der wahre Mensch ist, der durch erleuchtende Ideen aus dem Universalverstand inspiriert werden kann oder diese als Erinnerungen aus früheren Leben mit sich gebracht haben kann.

Er hält immer nach Wahrheit jenseits seiner Meinungen Ausschau und zieht aus, um in den weiten Sphären des Denkens zu suchen. Er befreit seinen Verstand, schreitet hoffend und vertrauend voran. Er macht sich ein Bild von seinen Zielen und glaubt, daß es in seiner Natur ganze Regionen gibt, die er noch nicht entdeckt hat, und im Vertrauen auf seine unentwickelte Seite, fordert er von dort das Wissen, das er sucht, und er fordert nicht umsonst.

Genauso wird der wahre Künstler, der Wahrheit und Schönheit liebt, in Augenblicken des Schaffens über alle Begrenzungen des Gehirnverstandes erhoben und auf eine Ebene weitergetragen, die unser normales Gedankenleben übersteigt; dort fühlt er, während sein Wesen erschauert und erbebt, die Poesie und die Inspiration einer großen Stille – dieses göttliche Licht, das in uns und ein Teil von uns ist, und immer darauf wartet, daß wir es erkennen. Ein solcher Mensch, ob Künstler oder Erfinder, der auf der Suche danach ist, was für die Welt gut sein könnte und der die tiefen Quellen seiner Natur zum Erklingen bringt, berührt die Grenze wundervollerer Welten und eigentümlicher mysteriöser Kräfte. Dagegen wird ein anderer Mensch, mit den gleichen latenten Fähigkeiten, der dieselben Probleme mit Zweifeln und zögernd angeht, oder auch mit anmaßender Selbstgefälligkeit, höchstwahrscheinlich keinen Erfolg haben. In dem Maße, in dem ein Mensch dem Äußeren huldigt, verfehlt er die innere Wahrheit.

Reinkarnation: Die Lehre der erhabenen Hoffnung

Viele Menschen, die infolge der durch die Unruhe der Zeit in ihnen verursachte Hoffnungslosigkeit den Glauben an einen persönlichen Gott und selbstgefällige Spitzfindigkeiten sektiererischer Mystiker aufgegeben haben, und die ernsthaft über das Leben und seine vielen Probleme nachdenken, haben in der Lehre über die Reinkarnation das gefunden, was den Sinn von alledem erklärt. Denn in ihr liegt eine Erklärung für die Verschiedenartigkeit menschlicher Schicksale, so daß sie nicht länger ungerecht und unerträglich zu sein scheinen; in ihr offenbart sich der Mensch im Glanze seiner angeborenen Göttlichkeit als ein Wanderer durch die Ewigkeit, der Leben um Leben durchschreitet und durch Einsicht und Erkenntnis das Wissen erwirbt, das ihn schließlich zu einem idealen, vollkommenen Menschen macht.

Wir gehören zur Familie der Götter; wir sind die höchsten uns bekannten Ausdrucksformen der universalen Gottheit. Sollen wir glauben, daß die Erfahrung, auf die wir ein Recht haben, in den wenigen flüchtigen Jahren einer einzigen Lebenszeit gewonnen werden kann, bevor unser Körper aufhört, nützlich zu sein und den Gesetzen des physischen Lebens gemäß verschwindet und in das Lagerhaus der Natur zurückkehrt? Die materiellen Dinge haben ihren Platz, aber die essentiellen und überdauernden Dinge liegen im ewigen Selbst. Sie sind die Attribute und Fähigkeiten der Seele, und diese zu entwickeln sind wir hier; dabei müssen wir mit dem gewaltigen und mitleidsvollen Herzen der Natur in Harmonie zusammenarbeiten.

Könnte sich eine mit der Melodie und dem herrlichen Zustrom der Musik erfüllte Seele selbst in der längsten Periode erfüllen, die zwischen der Geburt und dem Tod des Körpers verstreicht? Ein Mensch, der kein musikalisches Erbe oder keine Neigung hat, von der er etwas weiß, kann sich manchmal dabei ertappen, wie er überrascht zuhört und bewegt wird; und länger zuhört und tiefer bewegt wird; und immer noch verharrt und hört, bis er zuletzt von ihr überwältigt wird, so daß ruhige und wunderbare Strömungen der Vibration und des Gefühls in ihm angeregt werden. Vielleicht ist er Mechaniker in einer Werkstatt oder gefangen in der Tretmühle des Wirtschaftslebens, wo er weder Zeit noch Energie für die Musik übrig hat – das macht nichts: dieses göttliche Etwas hat ihn berührt, und es kann sein, daß in seiner Natur die Möglichkeiten eines großen Musikers verborgen liegen. Müssen sie nicht mit der Zeit hervorkommen und Ausdruck finden? Ein Versprechen von ewiger Weiterentwicklung ist in alle Menschenherzen eingeprägt; alles in der Natur verkündet es. Warum sollten wir nicht das gleiche Vertrauen in unsere essentielle Göttlichkeit haben, das die Blumen in die Wohltätigkeit der Sonne haben?

Aus welchem Grunde sind die Ideale, die wir schätzen, unausgesprochen; die geheimen, edlen und unerfüllten Sehnsüchte; die Fragen, die wir an das Leben stellen und auf die unser gegenwärtiges Leben keine Antwort gibt? Welchen Sinn haben die Agonie und die Verzweiflung, die Unruhe und das intensive Verlangen, so viel mehr zu sein als wir jetzt überhaupt erreichen können, bevor uns der Tod hinwegrafft? Wurden sie eines Tages geboren – diese unsere Gedanken, die uns manchmal fast bis zum Punkt der Enthüllung entflammen? Wurden sie aus den Erfahrungen gestaltet, die wir in den wenigen Jahren, seit unser Körper geboren wurde, angesammelt haben?

Ihre Botschaft sagt uns immer, daß wir größer sind als es scheint, daß es keine Grenzen für die Kraft der Seele gibt, daß wir, obwohl unser Verständnis für dieses herrliche Universum ständig weiterwachsen wird, niemals ein völliges Ende des Verstehens erreichen werden, daß uns die gesamte Ewigkeit zur Verfügung steht, in der wir die Schönheit des Gesetzes erarbeiten können, und daß es keine Unterbrechung in der unentwegten Kontinuität gibt; man kann heute versagen und scheitern, aber das Morgen bringt eine neue Chance, und zwar daß wir viele Leben leben, wieder und wieder essentiell derselbe sind, obgleich unterschiedlich in der Form – wir unsterblichen Wesen, Bewohner der Ewigkeit, die wir hier der Sterblichkeit und der Zeit ausgeliefert sind.

Wenige Menschen, ob sie religiös sind oder nicht, ziehen zufrieden in das große Unbekannte und in diesen Schlaf hinaus, der kein Schlaf im Sinne von Trägheit ist, sondern ein Schlaf in Aktivität und göttliches Tätigsein im Schlaf. Gleichgültig, wie edel das Leben eines Menschen auch gewesen sein mag: Ist es möglich anzunehmen, diese Erhabenheit der Perfektion habe er während eines einzigen Lebens erreicht, das seinen wahren Ausdruck in ewiger Glückseligkeit findet? Um wie viel vernünftiger ist es zu glauben, daß wir wieder und wieder leben, den Pfad der Zeitalter durchwandern, mit immer wiederkehrenden Gelegenheiten, anstatt daß wir uns als die armen Kreaturen eines einzigen Lebens ansehen, die bei unserer Geburt aus dem Nichts erschaffen und beim Tode in einen ewigen Himmel oder in eine endlose Hölle verbannt werden? In beiden ist weder Fortschritt möglich, noch liegt irgendein Ziel vor uns, noch gibt es Hoffnung auf Inspiration und Ansporn.

Könnte eine wirklich edle Seele für sich selbst Frieden akzeptieren und Glück im Himmel finden, während hier auf Erden die Menschheit immer noch leidet, in Ketten liegt und von Sorgen erfüllt ist? Die Seele schließt in sich die Eigenschaften des Göttlichen ein: sie besteht aus Mitleid, Gerechtigkeit und Verzicht. Welche Freude, welchen Selbstausdruck könnte sie in einer solchen selbstsüchtigen Seligkeit finden? Würde der Mensch den Reichtum seiner Seele erkennen – gänzlich dieses Göttliche sein –, dann könnte er diesen Gedanken nicht ertragen. Sein Wille wäre auf die Rückkehr zur Erde gerichtet, um das menschliche Leid zu teilen und den Unglücklichen den Weg zu dieser Selbsterkenntnis zu zeigen, die Frieden bringt. Er würde für immer und ewig für den Ruhm des Göttlichen arbeiten, für den Ruhm des dem Menschen innewohnenden Gottes, in dem Bewußtsein, daß wir auf Grund der Göttlichkeit in uns die Kraft haben, alles menschliche Schicksal bis zur Vollkommenheit zu gestalten. Ich sage euch, der Gott in uns wartet auf uns!

Welch ein Gesang wäre das Wissen um Reinkarnation im Herzen des blinden Bettlers am Straßenrand! Damit würde er zum erstenmal verstehen, daß eine helle Zukunft und große Taten auf ihn warten könnten; sein Schicksal würde nicht länger als etwas Mysteriöses und Schreckliches erscheinen, für das er niemals entschädigt werden könnte – nicht länger wird eine Strafe von einer allmächtigen, rachsüchtigen Kraft über ihn verhängt, sondern ein Dienst des Gesetzes, das aus Leiden erhabene Schicksale für die Menschen gestaltet, ihm angemessen, so daß er seinen Charakter für eine königlichere Geburt aufbauen kann. Er würde verstehen, daß es Hoffnung für ihn gibt, daß all seine Finsternis erhellt werden würde, daß der Tag kommen würde, an dem sein inneres Verlangen mehr sein würde als nur unerreichbares Sehnen, daß er dann und dort edles Schicksal für sich vorbereiten würde. Die Götter warten!

Das Leben ist nicht grausam. Es gibt keine Ungerechtigkeit. Im Lichte der Reinkarnation verlieren die Leiden, die wir als ungerecht empfinden, den Stachel ihrer eingebildeten Ungerechtigkeit und werden erträglich. Wir werden lernen, sie als Segnungen zu betrachten, als Mittel zur Befreiung und unseren wichtigsten Ansporn zum Wachstum. Erfahrung und Leid sind unsere Lehrer. Wir werden unentwegt durch die Schwierigkeiten, die wir zu überwinden haben, an das großartige Mitleid des Gesetzes erinnert.

Leben bedeutet zu Dienen: wir leben, damit wir dienen. Denkt daran in eurer Stunde der Mühsal, und ihr werdet eure Schwierigkeiten dankbar akzeptieren, als ein Geschenk, das gütig gegeben wurde. Ihr werdet sie nicht als Schmerzen und Lasten empfinden, die ertragen werden müssen, sondern als warme Feuer, um zu reinigen und frei zu machen. Damit meine ich nicht, daß man demütig im üblichen Sinne sein soll; wir sollten unseren Kopf hochhalten – es gibt sowieso viel zu viel von den anderen Dingen. Wir sind unseren eigenen Schwächen gegenüber eigentlich zu nachgiebig. Wenn du mit deiner ganzen Seele und mit einem unbeugsamen Willen gekämpft hast und dich der Gedanke immer noch nicht losläßt, daß sich weder deine Position verändert hat, noch dein Stolperstein entfernt wurde, wenn du dich gezwungen siehst, zu sagen, „Obwohl ich mich zu meinen Idealen erhoben habe und mich dem Göttlichen in mir täglich genähert habe, bin ich noch nicht frei“, dann fasse erneut Mut; es ist Zeit dafür, das zu tun. Das, wofür du umsonst gekämpft hast, könnte sich als Segen herausstellen. Es kann genau die rettende Kraft in deinem Leben werden, die dich an dem Platz zurückhält, wo allein du die Lektion lernen kannst, die du am nötigsten lernen mußt.

So sollte uns, obgleich unsere Gemüter von gefährlichen Schatten umhüllt waren, das Leid zugleich mit der Lösung unserer Probleme verlassen, und uns das Geheimnis der Berichtigung unseres Lebens lehren, denn es sind die Sehnsüchte unserer eigenen Seelen, die das Feuer nähren, in dem wir erprobt werden, und wir können Frohsinn im Leiden, in der Enttäuschung und im Herzeleid finden und den erhabenen Trost in dem Wechsel verstehen, der Tod genannt wird.

Wenn die Fehler der Vergangenheit nicht ihre Wirkungen hervorbringen, so daß wir daraus die Lektionen nicht lernen, die sie uns lehren sollen – wenn das Leben ohne Kampf, Arbeit und Anstrengung wäre – wären wir auf der Erde Dinge und nicht die Seelen, die wir sind. Nur durch sie können wir uns der Wahrheit nähern und ein Gefühl für die Größe des Lebens, die Unsterblichkeit und die Erhabenheit der Gesetze gewinnen, die uns in ihrer Obhut halten. Nur so können wir den Weg finden, das wahre Leben zu leben, das alles in allem freudvoll, optimistisch und strahlend von großzügiger Liebe ist; das Leben, das weder im Grabe ein Ende noch irgendeine Begrenzung bezüglich seiner Möglichkeiten in Geburt oder Tod finden kann.

Reinkarnation gibt uns also Raum und Zeit zum Wachsen, so wie die Natur für die Blumen Boden und Jahreszeiten zur Verfügung stellt – damit wir wachsen und lernen, was das Leben und die Welt uns lehren können, und um uns den Gebrauch der gottgleichen Eigenschaften unseres inneren Selbst und das in der Seele des Menschen verborgene Licht anzueignen, das allein den Pfad erleuchten kann, auf dem wir gehen müssen, und das es uns ermöglicht, die harten und schrecklichen Probleme, die traurigen Probleme, die das Leben uns unaufhörlich auferlegt, zu lösen, und um die unaussprechlichen Schönheiten gleichermaßen kennenzulernen.

Wir schreiten von Zeitalter zu Zeitalter und von Höhen zu immer größeren Höhen fort. Sobald wir das verstehen, werden die Alten wieder jung im Geiste und die Jungen betrachten die Welt mit neuer Freude. Die Tage sind lang und der Pfad ist weit: gehe also vorwärts, mit weit vorausschauender Hoffnung und mit Vertrauen, dem großen Letzten entgegen. Die Götter warten!