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Noch einen Tag

Der Jahreswechsel erinnert uns daran, wie schnell die Jahre dieses Jahrhunderts und auch unsere eigenen Lebensjahre vorübergehen. Im allgemeinen betrachtet man die Zeit nicht als Freund, weil wir uns zu deutlich bewußt sind, wie zerstörend sie auf uns einwirkt. Wenn wir jung sind, sprudeln wir über vor Lebenskraft und warten begierig auf den Tag, an dem wir soweit sein werden, unsere Träume zu verwirklichen. Sobald wir erwachsen sind, stürzen wir uns mit Schwung, mit Hoffnungen und Idealen auf das Wagnis der Familiengründung und der Karriere. Doch zu jedem von uns kommt früher oder später Leid, vielleicht in Form von Krankheit, als schmerzlicher Verlust, Krieg oder durch Katastrophen und auch jene Enttäuschungen, die an sich nicht zu schwerwiegend sind, sich aber nach und nach zu einer schweren Last auftürmen. Über Jahrzehnte hinweg fordern sie ihren Zoll, und oft sind Menschen, die noch in der vollen Blüte ihres reifen Lebens sein sollten, bereits verhärmt und mutlos. Erinnerung an frühere Zeiten erzeugen Depressionen, und die Gewißheit des bevorstehenden Alters und des Todes zeichnet sich am Horizont ab.

Würden wir mehr in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen leben, dann würden die Jahre uns weniger belasten, und die Begeisterung, mit der wir begannen, brauchte niemals zu verblassen. Eine der Schwierigkeiten des modernen Menschen besteht darin, daß unsere Gesellschaft in ihm wirklichkeitsfremde Erwartungen gefördert hat, daß die Welt ihm etwas schuldig sei in Form von finanziellem Entgelt, gesellschaftlicher Stellung und persönlichem Glück. Ein gut Teil seiner Energie wird daher dazu verwendet, sowohl die Umstände als auch seine Persönlichkeit unter Druck zu setzen, um diesen künstlichen Lebensstandard zu erreichen. Wenn seine Bemühungen fehlschlagen, und das Schicksal seinen eigenen Weg mit ihm vor hat, kann die fortwährende Anspannung den Menschen weit vor seiner Zeit alt und müde machen.

Für jeden, der nicht unter dem Zwang dieses Wahnes unserer Zeit steht, ist es ganz klar, daß in diesem Fall die eigentliche Ursache der Erschöpfung Habgier und Egoismus sind. Vor allem kann kein Mensch sich jemals mit einem anderen völlig vergleichen, weil jeder das ist, wozu er sich in vielen Leben selbst entwickelt hat. Jeder einzelne von uns hat seine besonderen Eigenschaften, "gute" und "schlechte", und nur mit diesen kann er tätig sein. Wir sollten auch nicht übermäßig darauf bedacht sein, unseren materiellen Anteil zu bekommen, denn das Leben läßt wahrhaftig Schätze auf uns herabregnen. Wären wir etwas weniger blasiert und geneigt, etwas dankbarer zu sein, dann müßten wir zugeben, daß wir von Wundern umgeben sind. Ist es denn nicht wunderbar, daß unser Herz schlägt, daß ein Baby lächelt, oder daß das Getreide wächst für unser tägliches Brot? Wie entstehen spontane Freundschaften, oder was erhellt in uns das Bewußtsein für das Schöne? Auf diese Weise empfangen wir einen endlosen Strom an Gaben von unseren Mitmenschen, von den Elementen und von allen Lebensbereichen auf diesem Globus. Hätten wir nicht dieses unnatürliche Verlangen nach immer Mehr und immer Besserem, dann hätten wir auch nicht das Gefühl, uns würde etwas vorenthalten.

Wir können sogar echtes Unglück, das uns trifft und niederschmettert, mit mehr Verständnis bewältigen, wenn wir wissen, daß wir es mit Wirkungen von Ursachen zu tun haben, die wir selbst gesät haben, entweder in diesem Leben oder in einer längst entflohenen Vergangenheit. Sicherlich fühlen wir die Pein ebenso heftig, doch gleichzeitig kann ein Beobachter in uns sein, der von den Gefühlen nicht unmittelbar betroffen ist, sondern vielmehr versucht, das Wesentliche der Erfahrung zu erfassen; darin liegt der ganze Nutzen, der unauslöschlich in unserem Bewußtsein verbleiben wird. Dann wird die Zeit wirklich auf unserer Seite sein, denn unter ihrem Einfluß ebbt der Schmerz ab, bis schließlich auch die Erinnerung daran verblaßt; und wenn wir klug sind, sollten wir das auch zulassen, denn den Gram über die natürliche Zeitspanne hinaus lebendig zu erhalten, kann ein Ausdruck von Selbstsucht sein.

Ein Volk, das die Kunst beherrscht, alt zu werden und dabei die Lebensfreude zu bewahren, sind die Los Viejos, die in den Bergen von Ecuador leben. Wie ihr Name "Die Alten" besagt, zeichnen sie sich dadurch aus, daß viele von ihnen ein hohes Alter erreichen und dabei an Körper und Geist gesund sind. Obgleich ihre Langlebigkeit zweifellos teilweise auf ihre Ernährung und ihre Umgebung zurückzuführen ist, ist sicher auch ihre Lebensanschauung von Bedeutung. Sie akzeptieren sowohl das Gute als auch das Schlechte, denn sie sagen: "Nur die Götter gehen ohne Wunden ihren Weg." Wenn sie gefragt werden, wie lange sie noch leben möchten, antworten sie ausnahmslos: "Noch einen Tag." Diese Antwort kann uns Rätsel aufgeben oder uns belustigen. Wir können aber auch diese Menschen wegen ihres Vertrauens und ihrer Losgelöstheit bewundern. Auf einer anderen Ebene zeugt es von der Einsicht in die ewigen Wahrheiten. In alten Kulturen - und bei vielen Völkern mit alter Überlieferung auch heute noch - wurde dem Aufgang und dem Untergang der Sonne großer Wert beigemessen, die den Lauf der heiligen Zeit markieren. Die Sonnenbahn war Symbol für die ewige zyklische Wiederkehr, für Tätigkeit und Ruhe, Leben und Tod. Man glaubte, daß zwischen diesen beiden Punkten die Fülle der Möglichkeiten für die Entwicklung allen Lebens liege. Welch größeres Vorrecht könnte es daher für uns Menschen geben, als daß uns gestattet wird, zu sehen, wie die Sonnenscheibe über dem Horizont erscheint, angekündigt durch die funkelnden Farben roten, gelben und weißen Lichtes, den ganzen Tageszyklus zu durchleben und unsere besten Energien einzusetzen, bis die Sonne im Westen Abschied nimmt, dem Augenblick, uns für das "tägliche Brot" zu bedanken. Jeder Tag enthält sämtliche Möglichkeiten, die wir brauchen oder möchten. Er bringt genau das, womit wir uns unmittelbar befassen sollten, denn der vorhergehende Tag ist unwiderruflich vergangen, während der vor uns liegende nur das Ergebnis unserer Taten bis zu diesem Augenblick bringen kann. Obwohl jeder Tag einmalig ist, kommt er doch gleichzeitig immer wieder, solange unsere Erdkugel um die Sonne kreist.

Wir stellen uns die Zeit als eine gerade Linie vor, doch für andere Völker, wie die Los Viejos, verläuft sie in Spiralen. Von diesem Standpunkt aus gibt es weder einen Anfang noch ein Ende, denn alle Dinge befinden sich beständig im Fluß. Das bedeutet, daß der Tod nur der Anfang einer anderen Art Leben ist, und die Geburt das Ende eines vorherigen Zustandes. Auch wenn dies für uns reale Übergangspunkte sind, so sind sie von einer höheren Ebene aus gesehen Teile einer ununterbrochenen Kontinuität. So gesehen beteiligt sich auch der Mensch an dieser ewigen spiralförmigen Bewegung der Zeit. Seine physischen Vehikel mögen zerbrechen und zurückgelassen werden, wie so viele unnötige Überreste nach diesem "Tag", der das eine besondere Leben war. Schmerzen und Freuden sind nicht länger krasse Gegensätze, denn im Lernprozeß sind sie gleichwertig. Da der innere Mensch in Wirklichkeit ohne Alter ist, bewahrt er in sich den Rückstand der Erfahrungen aus zahllosen Leben, und damit ist er gleichzeitig ewig jung.