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Im Himmel ist ein Muster aufgestellt

In verkürzter Form mit Erlaubnis aus Manas, Band XXX, Nr. 2, 12. Januar 1977, nachgedruckt.

 

 

 

Der italienische Historiker Franco Venture steht auf dem Standpunkt, daß alte Ideen in ihrer Wirkung nicht unbedingt rückständig oder hemmend sein müssen. Eine Wiederbelebung dieser Ideen ist vielleicht das, was wir zur Zeit brauchen könnten - "ein fruchtbarer Versuch, die wertvollsten Aspekte der Vergangenheit zu bewahren, so daß sie an zukünftige Generationen weitergegeben werden können." Für derartige Bemühungen gibt es heute Dutzende von Beispielen. Praktisch angewandt werden sie in der Reform der Landwirtschaft. Gelehrt werden sie auf kulturellen und philosophischen Gebieten der Anthropologie.

Doch nicht alle Ideen, die gering eingeschätzt werden, sind "alt". Es gibt auch Ideen, an denen die Menschen gerne festhalten, wie an einer heimlichen Liebe, über die sie selten offen sprechen, von der sie aber außerordentlich wertvolle Kraft erhalten. Man könnte sie vielleicht als Ideen betrachten, die "verborgen in unserem Kopf" schlummern. Es ist anscheinend möglich, zumindest für einige Menschen, daß große Bestrebungen und visionäre Kraft aus diesen, in der Regel verborgenen Gedanken unterstützt werden. Das hat zur Folge, daß wir, wenn wir etwas außerordentlich Gutes hören oder lesen, effektiv nicht sagen können, woher es stammt oder was zu dieser Inspiration geführt hat. In einer Zeit, in der nur reine Tatsachen etwas gelten, wird wahrscheinlich niemand, der bei seinen Mitmenschen in gutem Ansehen bleiben will, über die Quellen seines Glaubens, wenn sie nicht anerkannt sind, offen sprechen. Wenn jemand im Halbdunkel ein Einhorn gesehen hat, so wird er das in einer Versammlung von Zoologen genausowenig bekanntgeben, wie ein Physiker, der durch einen Einblick in die Mystik eine Grundwahrheit entdeckt hat, diese Quelle in einer Fußnote oder in seiner Bibliographie erwähnen wird.

Doch hier und da wird diese Zurückhaltung aufgegeben. Ein anerkannter bedeutender Wissenschaftler bringt vielleicht den Mut auf, einige vage Zugeständnisse zu machen, und wenn er wirklich groß ist, wird er sich nicht darum kümmern, was die Leute über ihn sagen. Andererseits gibt es aber auch einen Unterschied zwischen dem, was ein schöpferischer und einfallsreicher Mensch wirklich denkt und dem, was die "Medien" dem Volk in gemeinverständlichen und in systemgerecht festgelegten Begriffen bringen. Wenn jemand gelegentlich seine verborgenen Ideen einmal darlegt, dann werden diese in den verwässerten Lehrbüchern ganz bestimmt weggelassen. (Es gibt wirklich keinen besseren Grund für die Abschaffung der Lehrbücher.)

Man denke zum Beispiel an Newtons Interesse, das er stets an der Alchemie, an den Schriften Böhmes und an der Theologie hatte, was in den frisierten Berichten darüber, wie er die Grundlagen seiner klassischen Physik erkannte, fast nie erwähnt wird. Man denke auch an William James, der sich ein Leben lang mit psychischer Forschung beschäftigt hat. Auch Thomas Huxley kann man mit seinem außerordentlichen Beitrag in seinen Essays on Some Controverted Questions (1892) (Aufsätze über einige strittige Fragen) mit einbeziehen. In diesen Aufsätzen erklärte der hartnäckige Verfechter der Darwinschen Entwicklungslehre - wobei er manchmal nicht davor zurückschreckte, die Natur zu Gunsten der Annahme, daß der Mensch vom Affen abstammt, "zu frisieren" -, daß es "schamlos und unverschämt" sei, zu behaupten, "unter den unzähligen Welten, die sich im endlosen Raum befinden, könne es keine Intelligenz geben, die dem Menschen so weit überlegen ist, wie die Intelligenz des Menschen die der Küchenschabe übersteigt." Er sagte auch, daß es aufgrund der Analogie leicht sei, von dem, was als bekannt vorausgesetzt wird, zu folgern, daß "der Kosmos mit sich immer höher entwickelnden Wesenheiten bewohnt sein muß, bis wir etwas erreichen, das sich praktisch nicht von Allmacht, Allgegenwart und Allwissen unterscheidet." Die abstrakte Logik der Evolution führte ohne Zweifel diese unterbewußte Schau in die polytheistische Richtung, obgleich Huxley gleichzeitig davon überzeugt blieb, daß "psychische Erscheinungen vom Physischen abhängig sind." Auch Darwin hatte seine aus dem Unterbewußtsein kommenden Überzeugungen. Im Jahre 1864 schrieb er an Alfred Wallace, daß er damit übereinstimme, daß der Kampf zwischen den menschlichen Rassen "vollständig von den intellektuellen und moralischen Eigenschaften" abhängt.

Einstein gehörte ebenfalls zu den wenigen, die, wenn man sie fragte, bereit waren, offen über ihre in geheimen Gedanken erworbenen Kenntnisse zu sprechen, wenn auch für Einstein zwischen diesen Erfahrungen und seiner Arbeit im Leben wenig Unterschied bestand. Sein Schwiegersohn, Dmitri Marianoff, berichtet von einer Nacht in Berlin, als er, nachdem die anderen Mitglieder der Familie sich zurückgezogen hatten und die beiden allein geblieben waren, dem Physiker eine Frage stellen konnte. Er schreibt in Einstein - An Intimate Study of a Great Man (Einstein - die persönliche Studie eines großen Menschen) (Doubleday, 1944):

Ich habe ihn oft in abstrakter Meditation beobachtet, körperlich oft müde, und dennoch empfand ich ihn nie von so viel Frieden umgeben, wie in diesem Augenblick. Der Raum war von Stille erfüllt.

"Albert, wie bist Du zu Deiner Theorie gekommen?"

"Es war eine Vision", antwortete er.

Er sagte, eines Abends sei er so tief entmutigt zu Bett gegangen, daß kein Argument etwas dagegen ausrichten konnte. "Wenn die Gedanken voller Verzweiflung sind, ist alles andere sinnlos. Man sieht weder in der bisher geleisteten Arbeit noch in dem bis dahin erzielten Erfolg einen Sinn - nichts. Keine Beruhigung hilft. Es ist zu Ende, sagte ich mir, es hat keinen Zweck. Es gibt keine Ergebnisse. Ich muß es aufgeben."

Dann ereignete sich folgendes. Das gesamte Universum mit der ihm zugrundliegenden Einheit an Größe, Aufbau, Entfernung, Zeit, Raum kam Albert Einstein plötzlich Stück für Stück, wie ein monolythisches Bilderrätsel in den Sinn. Plötzlich lag, wie von einem riesigen Stempel, der einen unauslöschlichen Abdruck hinterlassen hat, eine ungeheure Karte des Universums in ihren Umrissen in einer Vision ganz klar vor ihm.

Und dann überfiel ihn ein Friede und eine feste Überzeugung, wodurch sich allmächtige Ruhe einstellte, die von nun an nichts erschüttern konnte - nichts, was während Albert Einsteins Leben auch passieren mochte. ...

Marianoff berichtet, daß Einstein ihm bei einer anderen Gelegenheit etwas gesagt hatte, wobei "die genaue Ausdrucksweise der Worte verlorengegangen ist, aber der Sinn war folgendermaßen - daß, wenn die Wahrheiten des kosmischen Gesetzes und der Ordnung sein Denken erfüllten und von ihm vollen Besitz ergriffen, dann brachten diese Gedanken eine ungeheure Ruhe und eine göttliche Ausgeglichenheit mit sich, und von da an kannte er keine Ruhelosigkeit und Ungeduld mehr." In diesem Zusammenhang kann auch erwähnt werden, was Dr. Einstein zu Niccolo Tucci sagte, der ihn für die Zeitschrift New Yorker (22. November 1948) interviewte. Als Tucci erfuhr, daß der Physiker jeden Abend eine Stunde damit verbrachte, laut in den Werken von Sophokles, Thukydides und Äschylus zu lesen, bemerkte er: "So sind auch Sie, Herr Professor, zu den Griechen zurückgekehrt?", worauf Einstein antwortete:

"Aber ich habe mich doch nie von ihnen entfernt. Wie kann ein Gebildeter sich nicht mit den Griechen befassen? Ich war an ihnen stets mehr interessiert als an der Wissenschaft."

Die größte Leistung, die Friedrich August Kekulé im Jahre 1865 mit seiner Formulierung der "Ring"-Theorie über die Zusammensetzung von Benzol vollbracht hat, und die als die "brillanteste Hypothese bezeichnet wurde, die man auf dem gesamten Gebiet der organischen Chemie antreffen konnte", entstand ganz einfach aus einer intuitiven Inspiration - einem Traum. Die Arbeit, von der am Ende des 19. Jahrhunderts dreiviertel der gesamten modernen organischen Chemie abhing, entstand aus einer "blitzartigen" Inspiration, die Kekulé während einer Omnibusfahrt hatte, als er London besuchte. Er erzählte:

Ich fiel in einen Tagtraum, und siehe da!, die Atome tanzten vor meinen Augen! Wenn mir bisher diese winzigen Wesenheiten erschienen waren, befanden sie sich immer in Bewegung; aber bis zu dieser Zeit war ich nicht imstande gewesen, die Art dieser Bewegung zu entdecken. Jetzt sah ich jedoch, wie sich oft zwei kleinere Atome vereinten, um ein Paar zu bilden; wie ein größeres Atom kleinere umfaßte und wie nun noch größere Atome drei oder sogar vier der kleineren erfaßten, während das Ganze in einem schwindelerregenden Tanz herumwirbelte. Ich sah, wie die größeren eine Kette bildeten. ...

In jener Nacht skizzierte Kekulé seinen Traum von den Atomen. Als er damit fertig war, hatte er ein System von Formeln entwickelt, das die Struktur der organischen Verbindungen darstellt. Er hatte den Aufbau des Benzol-Moleküls geträumt. Später, in Gent, träumte er von Atomketten in schlangenähnlichen Wirbeln. Er sah, wie eine der "Schlangen" sich in ihren eigenen Schwanz biß. Als er erwacht war, entwickelte er das, was Chemiker jetzt den Benzolring nennen. (Die bewährte Quelle für verläßliche Informationen, die Encyclopaedia Britannica [1953], bringt diese Beiträge, die wir hier zitiert haben, erwähnt jedoch nicht Kekulés Träume!)

In The Psychology of Science (Die Psychologie der Wissenschaft) deutete A. H. Maslow an, daß "eine Untersuchung des inneren Lebens bewährter Wissenschaftler" eine Möglichkeit bieten würde, Wissenschaftler, Künstler, "religiöse" Personen, Humanisten und alle anderen ernsthaften Leute zusammenzubringen. Er meint, damit könnte man zeigen, wie solche Persönlichkeiten durch das, was wir als "unterbewußte" Ideen bezeichnet haben - durch anscheinend transzendentale Quellen der Inspiration -, verbunden sind:

Nichtwissenschaftler kennen das nicht, und Wissenschaftler scheuen sich, öffentlich darüber zu sprechen. Erst im späteren Alter überwinden sie diese Scheu. Auf ihrem höchsten Niveau ist die Wissenschaft im Grunde die Organisation, die systematisch Wunder, Ehrfurcht und Geheimnisse verfolgt und daran Freude hat.

Fragt man die Erfinder, so erzählen sie die gleiche Geschichte. Vor Jahren schrieb C. G. Suits, der damalige Leiter der Forschungsabteilung der Firma General Electric, einen Artikel für das American Magazine (Dezember 1945): Wie Erfinder ihre Ideen erhalten. "Harte Arbeit", sagte er, "geht unweigerlich der blitzartigen Inspiration voraus." Doch versucht man, dafür eine weitere Erklärung zu bekommen, so führt das gewöhnlich zu mystischen Dimensionen. Ein Ingenieur formulierte es folgendermaßen: "Ahnungen", die zu Entdeckungen führen, schwirren im Gehirn umher wie Vögel in einem Käfig. Finden diese Ahnungen den Weg bis zum bewußten Verstand - sozusagen ein Austreten aus dem Unterbewußtsein, unbeeinträchtigt durch vorgefaßte Meinungen - dann fliegen sie hinaus, und der Erfinder hat eine "Inspiration". Ein anderer Ingenieur "ist der festen Meinung, daß Intuition das Erkennen absoluter Wahrheit ist - eine Art höhergeistiges Empfangsgerät, das es dem Besitzer ermöglicht, sich auf Sendungen universalen Wissens einzustellen." Ein anderer sprach von einem "Schutzengel", der Ratschläge einflüstert und Irrtümer verhindert, und ein Chemiker hatte "den Eindruck, daß unsichtbare Hände seine Arbeiten leiten."

Wenn es schon innerhalb von ein oder zwei Stunden möglich ist, diese vielfachen und manchmal eindrucksvollen Beispiele über das Sichtbarwerden von Einflüssen aus dem Unterbewußtsein zusammenzufassen - wobei man natürlich wissen muß, wo sie zu suchen sind -, welche Erfolge könnte man erst erzielen, wenn man sich ein Jahr lang mit derartigen Forschungen befassen würde? Würden diese jedoch durchgeführt werden, so könnte eine große Versuchung darin bestehen, eine "Theorie" darüber aufzustellen, worauf wir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorbereitet sind. Verfrühte Theorien haben oft eine unfruchtbare Wirkung, weil derjenige, der die Theorie aufstellt, oft vermeidet, eine Hypothese über die Gesamtdimension dessen, was er zu erklären beabsichtigt, aufzustellen, damit seine Auffassung anerkannt wird.

Man könnte sagen, daß der Beweis für unterbewußte Gedankengänge - genau genommen - noch im mystischen Stadium liegt. Das ist kein wertminderndes Urteil, sondern einfach eine Bewertung des kulturellen Status quo. Mythen enthalten Tatsachen, von denen wir wissen, daß sie existieren; aber trotz besseren Wissens möchten wir nicht den Versuch machen, sie begrifflich festzulegen. Mythen sind Stationen, die auf halbem Weg zwischen unseren stärksten intuitiven Empfindungen und dem liegen, von dem wir sagen können, daß wir es "wissen" und mit einiger Bestimmtheit darüber sprechen können.

Die Mythen sind auch utopische Ziele. Wir können sie hier und jetzt nie verwirklichen, aber wir möchten sie auch nicht entbehren. Die Mythe ist eine unterbewußte kulturelle Vision oder Inspiration, die Nahrung für einen allumfassenden Traum vom Guten. Wer sind die Schauspieler in diesen Mythen? Nun, es sind Menschen, Helden und Götter - in dieser aufsteigenden Reihenfolge. Eine Zivilisation, die diese Anordnung nicht als real anerkennen will, die die Mythe ausschaltet, verliert ihre Inspiration und versinkt in den Tiefen der Ableugnung und der buchstäblichen Auslegung, die uns so unangenehm vertraut sind. Wie bereits ausgeführt wurde, wird in der Encyclopaedia Britannica Kekulés Vision - aus der diese großartige Entdeckung stammte - gar nicht erwähnt. Derartige primäre Quellen werden nicht ernst genommen. Die menschliche Fähigkeit, in der Welt des Unterbewußten tatsächlich zu leben, wird von den Gelehrten unserer Gesellschaft völlig ignoriert. Diese Welt existiert für sie nicht, und dadurch machen sie unsere Kultur zu einer Wüste.

Als Quelle der unterbewußten Ideen stellen wir uns ein Universum voller Leben und Tätigkeit vor und nicht nur ein Universum, das in literarischen Abhandlungen beschrieben wird. Es ist ein metaphysisches Gebiet, jedoch nicht ohne Terrain, Topographie und auch Orientierungspunkte. Diejenigen, die dort hinkommen, kehren als Bürger zweier Welten zu unserer Erde zurück, wobei diese beiden Welten nach ihren Erfahrungen ineinander übergehen. Die Zusammenhänge der unterbewußten Welt - man kann sie auch die mythische Welt nennen, um sich nicht weiter begrifflich festzulegen - sind nicht dieselben wie diejenigen, auf die wir uns hier verlassen. Man könnte sich sogar vorstellen, daß sie von entgegengesetzter Art sind. In An Essay on Man (Was ist der Mensch?) spricht Ernst Cassirer über diesen Unterschied:

Für das mythische und religiöse Gefühl wird die Natur zu einer allumfassenden, unlösbaren Verbindung, zu einer Gemeinschaft alles Lebendigen. In ihr kommt dem Menschen keine Sonderstellung zu. Er gehört ihr zwar an, doch steht er in keiner Hinsicht höher als irgendein anderes Mitglied dieser Gemeinschaft. In seinen geringsten wie in seinen höchsten Gestaltungen hat das Leben dieselbe religiöse Würde. ... Und wir finden dasselbe Prinzip - das der Solidarität und der ungebrochenen Einheit des Lebens - wenn wir vom Raum zur Zeit übergehen. Eine strenge Unterscheidung der Gleichzeitigkeit von der zeitlichen Aufeinanderfolge ist dem mythischen Zeitbewußtsein fremd. Die menschlichen Generationen bilden eine einzigartige und ununterbrochene Kette. Die früheren Lebensstufen bleiben durch Wiederverkörperung erhalten. ...

Viele Mythen befassen sich mit dem Ursprung des Todes. Die Auffassung, das Wesen des Menschen sei seine Sterblichkeit, scheint dem mythischen und dem primitiven religiösen Denken ganz fremd zu sein. In dieser Hinsicht besteht ein auffallender Unterschied zwischen dem mythischen Glauben an die Unsterblichkeit und allen späteren Formen eines reinen philosophischen Glaubens an die Fortexistenz der Seele nach dem leiblichen Tod. Wenn wir Platons "Phaidon" lesen, empfinden wir die große Anstrengung des philosophischen Denkens, die Unsterblichkeit klar und unwiderleglich zu beweisen. Im mythischen Denken ist es ganz anders. Hier liegt die Beweislast immer auf der dem Leben entgegengesetzten Seite, nämlich beim Tod. Wenn irgend etwas des Beweises bedarf, dann ist es nicht die Tatsache der Unsterblichkeit, sondern die Tatsache des Todes. Mythos und primitive Religion würden philosophische Beweise für die Unsterblichkeit überhaupt nicht verstehen. Der Gedanke einer bloßen Möglichkeit des Todes widerspricht der mythischen Denkart. Kraft der Überzeugung von der ungebrochenen Einheit und Stetigkeit des Lebens muß der Mythos die Erscheinung des Todes aus der Welt schaffen. In der primitiven Religion und in der Mythologie prägt sich die Überzeugung und der unerschütterliche Glaube an das Weiterleben der Toten eindrucksvoller aus, als irgendwo in der Geschichte der Menschheit.

Der Hinweis auf Plato ist von besonderem Interesse. Plato ging Cassirer sozusagen ständig im Kopf herum - hin und her und um und um -, und zwar aus mehreren und verschiedenen Gründen. Plato hat jedoch Räder innerhalb von Rädern. Der Staat ist selbst eine Mythe. Nach den Ausführungen von Northrop Frye befaßt sich "Sokrates im Staat nicht damit, seinen Idealstaat irgendwo zu errichten: was ihn interessiert ist die Analogie zwischen seinem Idealstaat und der Struktur des Verstandes bei einem weisen Menschen mit seiner Vernunft, seinem Willen und seinem Begehren, die in der politischen Mythe dem weisen König, den Soldaten und den Handwerkern zugeordnet werden." Platos wirkliche Utopia "ist ein individuelles Ziel, bei dem die disziplinierte Gesellschaft eine Allegorie ist."

Plato ist einer der wenigen, die wirklich für ein - jedoch individuelles - Leben in der utopischen Welt der Vision eintreten. Am Ende des Buches IX in Der Staat, wenn Glaukon sagt, daß die ideale Stadt ihres Dialoges "nirgends auf Erden" gefunden werden kann, läßt Plato Sokrates im Namen des wahren Philosophen erklären:

Aber, sprach ich, im Himmel ist doch vielleicht ein Muster aufgestellt für den, der sehen und nach dem, was er sieht, sich selbst einrichten will. Es gilt aber gleich, ob ein solcher irgendwo ist oder sein wird.