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Die Geburt des Menschen

Im Leben eines jeden Menschen kommt ein Punkt, an dem er "die Kinderschuhe ablegt" und erkennt, daß es notwendig ist, die volle Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Nach den oft schrecklichen Entwicklungsschmerzen und Kämpfen, um die eigene Identität festzustellen, folgt im allgemeinen eine Periode der Selbstsicherheit, eine ruhige Zeit, in der wir uns mit unserer Person und unserem Charakter auseinandersetzen können - mit unseren starken Seiten, die wir vorher übersehen hatten oder denen wir zu geringen Wert beimaßen, und auch mit unseren Unzulänglichkeiten, an die wir uns nur zu oft mit falsch eingesetzter Energie festhalten möchten. Wenn auch die heftige Konkurrenz der westlichen Gesellschaft dazu beiträgt, daß diese Schwierigkeiten besonders betont werden, so sind sie zweifellos notwendige Wachstumsstufen für den weitaus größten Teil der heutigen Menschheit. Wie könnten wir auch als einzelne selbstbewußte Persönlichkeiten tätig sein, wenn wir nicht zuerst in uns erfahren würden, was es bedeutet, auf unseren eigenen Füßen zu stehen, unseren eigenen Verstand einzusetzen und unsere Fähigkeiten auszuüben; nicht die eines anderen oder irgendeines idealisierten Vorbildes.

Doch es kommt eine Zeit - für einige vielleicht in der Jugend, für einige wenige vielleicht nur in ihren letzten Augenblicken des Lebens - wo diese Kämpfe mehr und mehr nachlassen. Aus dieser psychologischen Ruhe heraus kann ein ausgeglichenerer Mensch hervorgehen, der erkennt, daß er nicht nur ein Einzelwesen ist, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil vieler Gruppen von Einzelwesen: seiner Familie, seines Volkes, der Menschheit, seines Planeten und seines spirituellen Universums. Dieses auf dem Intellekt basierende Gefühl des Getrenntseins, dieses "wir-gegen-sie"-Verhalten, womit wir versuchen, die wirklichen Wahrheiten des Lebens zu meiden, das Gefühl der Einsamkeit, in das uns solche Gedanken führen - das alles löst sich auf vor der Tatsache, daß wir einen gemeinsamen Ursprung innerhalb eines grenzenlosen Universums haben, das in Essenz göttlich ist und in großartiger Weise wohltätig wirkt. Die großen Harmonien des Lebens, die sämtliche äußeren Formen erhalten, unterstützen und in der Tat ermöglichen, überdecken mit ihrem Glanz die oberflächlichen und vorübergehenden Unausgeglichenheiten, die durch egozentrische Menschen verursacht worden sind. Man fühlt sich durch das gewaltige Panorama der Universalen Bruderschaft beruhigt und erhoben. Wenn dieses Durchgangsstadium echt und tief empfunden wird, ob selbstbewußt oder nur in unaussprechbaren Regungen des Herzens, ist man schon geistig erwachsen geworden.

Der Schlüssel für diese Umwandlung liegt jedoch nicht so sehr darin, wie ein Mensch sich und seine Welt sieht, sondern wie er sich anderen mitteilt, in der Art seiner Liebe. Hierin, glaube ich, liegt ein Teil der inneren Bedeutung des alten Sprichworts, daß das Kind der Vater des Menschen ist, denn es ist die spontan zum Ausdruck gebrachte selbstlose Liebe des kleinen Kindes, die den Übergang zum ganz Erwachsensein ermöglicht. Natürlich besteht oft die Möglichkeit, daß diese Liebe durch das fast zu schnelle Wachstum des auf Wettbewerb geschulten Intellekts des heranreifenden jungen Menschen überschattet wird, und diese Unausgeglichenheit von Herz und Verstand ist sicherlich die Ursache für sehr viele Schmerzen, die sich beim Erwachsenwerden einstellen. Jedoch in dem Maße, in dem wir unsere Handlungen durch unsere frühere, völlig selbstlose, der Außenwelt entgegengebrachte Liebe leiten lassen - die jetzt durch unser Wissen und unsere Erfahrung gewaltig verstärkt wurde und auf breiter Ebene zum Ausdruck kommt -, entsteht in uns das, was den wahren Erwachsenen ausmacht. Auf diese Weise werden wir in der Tat alle neu geboren durch eine Liebe und in einer Liebe, die sich allen offen mitteilt, die sich an nichts Schmerzliches mehr erinnert, die zwischen den anderen und sich selbst grundsätzlich keine Grenzen kennt. Damit können wir uns wirklich bereit machen, unsere menschlichen Verantwortungen mit besonderem Mut und besonderer Würde auf uns zu nehmen.