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Das Schicksal des Menschen in der Mythe

In längst vergangener grauer Vorzeit, bevor unsere Geschichte begann, hat die menschliche Rasse anscheinend eine einzige, ganz bestimmte Richtung verfolgt. Jede Mythologie, die aus den ältesten Überlieferungen stammt, enthält die gleiche Hochachtung vor der Natur als dem Gewand der göttlichen Kräfte und vor dem Menschen als deren Ebenbild, obgleich jede Mythe ihre Kosmogonie (Lehre von der Weltentstehung) und ihre Instruktionen für das Leben in einem besonderen allegorischen Kode einschließt. Vergleichen wir verschiedene Systeme, so können wir ihre Symbologie und auch die Weisungen, die sie für die Lebensführung, für das Streben nach Weisheit und für das Wachstum der Seele vermitteln, erkennen und teilweise entziffern. Ohne diese Entschlüsselung bleibt manches Märchen und manche Oper, die auf diesen Mythen basieren, leer und ohne jede Bedeutung; ein Einband ohne Buch, ein Rahmen, der eine weiße Leinwand umrandet.

Eine der am besten bekannten, aber am wenigsten verstandenen nordischen Allegorien, die das Schicksal der Menschheit verkünden, ist die Legende von Walhalla. In den Wagner-Opern volkstümlich dargestellt, wird diese Allegorie geringschätzig zur unbedeutenden humorvollen Parodie über den Himmel gemacht, wo sich rohe und ungehobelte Wikinger nach dem Tode dem Trinkgelage hingeben. Kurz umrissen: es ist das Reich des Kriegsgottes Odin, dessen Helden täglich in der Schlacht erschlagen und abends durch Odins Kriegsmaiden, die Walküren, vom Schlachtfeld nach Walhalla gebracht werden. Dort werden sie mit Fleisch und Met beköstigt und kehren dann jeden Morgen zum Kampf zurück, um wieder erschlagen zu werden. Walhalla wird durch viele Wälle geschützt: sie wird von einem Graben, Tund, umgeben, wo ein Wehrwolf, Tjodvitner, nach Menschen fischt. Das Gatter ist durch Magie geschützt, und an der Tür zur Halle hängt ein festgenagelter Wolf, überragt von einem bluttriefenden Adler. Dazu wird alles noch von zwei Wolfshunden Odins bewacht.

Um das Ganze verstehen zu können, müssen wir die Begriffe definieren. In der nordischen Edda begegnen wir Odin auf jeder Lebensstufe. Auf dem höchsten Plan kosmischen Vorstellungsvermögens ist er die Essenz des universalen schöpferischen Bewußtseins, der Allvater. Der Name ist eine Form von odr, universale Intelligenz (griechisch nous), wovon die spirituelle menschliche Seele ein wesentlicher Teil ist.1 Während Allvater unbegrenzt mit allen Formen der Offenbarung verflochten ist, hat Odin sein bestimmtes Gebiet: ein "Schelf" oder eine Ebene von einer Substanz, die höher ist als unsere physische Materie, "Gladheim" (Gladsheim) genannt, wo sich Val-hall, die "Halle der Auserwählten" befindet. Val bedeutet "Wahl". Es hat auch die Bedeutung "Tod", wenn es auf Odins Krieger angewendet wird, die "Ein-Sieger", (Einherjar). Wie dieses Wort besagt, hat jeder den Sieg über einen - über sich selbst errungen. Jeder hat die Wahl getroffen, als ein persönliches, begrenztes Wesen zu sterben und erwarb ein transzendentales Bewußtsein, das in die Bereiche der Götter reicht, oder, um es anders auszudrücken, er hat die niederen menschlichen Neigungen überwunden und sich mit dem kosmischen Lebensziel vereinigt. Hier handelt es sich um einen fortlaufenden Wachstumsprozeß, der deshalb dem Wechsel unterworfen ist, wobei jeder tägliche "Tod" eine Umwandlung von einem geringeren zu einem höheren Zustand darstellt. Die Helden werden von den "gekrönten Auserwählten" (Walküren), die mit dem Hamingja des Menschen, seinem "Schutzengel" oder seiner spirituellen Seele eng verwandt sind, in Odins Heilige Halle gebracht. Sie sind daher unsere Beschützer und Führer.

Jedes Hindernis zur Halle der Auserwählten ist das Symbol für eine menschliche Schwäche, die überwunden werden muß. Der Krieger, der den Fluß der Zeit (Tund), auch Fluß des Zweifels (Ifing) genannt, überqueren möchte, muß einen unbeugsamen Willen und Zielstrebigkeit besitzen, wenn er nicht von den turbulenten Strudeln des weltlichen Lebens hinweggeschwemmt werden will. Er muß die tierischen Instinkte seiner niederen Natur überwinden (die Verlockungen von Tjodvitner) und "das andere Ufer" gewinnen. Viele heilige Schriften gebrauchen dieselbe Allegorie. Der Buddhismus zum Beispiel spricht von vier verschiedenen Stadien der Weiterentwicklung: Er spricht von denen, die den Strom betreten haben, von denjenigen, die sich im Strom befinden, von jenen, die den Strom beinahe überquert haben, sowie von denen, die das andere Ufer erfolgreich erreicht haben. Man sagt, daß die gesamte Natur frohlockt, wenn ein Aspirant sein Ziel erreicht.

Als nächstes muß der Kandidat, der Walhalla sucht, die Spürhunde "Gier" (Gere) und "Unersättlichkeit" (Freke) überwinden und das Geheimnis des magischen Tors finden, das sich nur dem öffnet, der die notwendige starke Sehnsucht, die Reinheit des Motivs und den unbeugsamen Entschluß besitzt. Danach müssen der Wolf und der Adler überwunden werden. Das sind ichbezogene Neigungen, die in neuen Formen auftreten, um diejenigen herauszufordern, die sich dem Königreich der Götter nähern. Sie müssen über dem Eingang zur Halle festgenagelt werden, damit sie nicht eindringen können. Odins Raben, Hugin und Munin, die täglich fortfliegen, um das Schlachtfeld, die Erde, zu inspizieren, stellen im allgemeinen den "Geist" und das "Gedächtnis" dar, sie bedeuten jedoch weit mehr als diese Worte besagen. Hugin (von hugr) bedeutet "Gemüt", schließt jedoch auch Eigenschaften wie Neigungen, geistige Einstellung, Wünsche, Gefühle, Absicht, Motiv ein; während Munin (von munr) "Gedächtnis", die Anhäufung der gesamten Vergangenheit in einer hieraus resultierenden unvermeidlichen Gegenwart darstellt, was Karma genannt werden kann, das alle möglichen Verhältnisse verursacht, die die Seele überwinden muß. Für die täglichen Erkundungen auf dem Schlachtfeld gibt Odin folgende Erklärung: "Ich bin besorgt um Hugin, daß er nicht zurückkehrt, aber noch besorgter bin ich um Munin." Diese mysteriöse Bemerkung scheint anzudeuten, daß diese Eigenschaften eine kritische Rolle spielen, wenn man Odin das Kollektiv-Karma der Welt mit den Augen eines Vogels erspähen läßt.

Alle Waffen des Angriffs und der Verteidigung müssen abgelegt und in Bau-Material umgewandelt werden, das den Heiligen Tempel zusammensetzt. Die Wände sind aus den Speeren der Krieger erbaut, das Dach besteht aus ihren Schilden. Innerhalb der Halle wird sogar die schützende Rüstung abgelegt: "Die Bänke sind mit Harnischen belegt." Kämen diese Mythen ursprünglich von den kriegerischen Wikingern, von denen eine Vorschrift verlangte, daß sie auf ihren Schilden mit dem Schwert in der Hand schlafen mußten, dann wäre das etwas sehr Ungewöhnliches. Das alles bestätigt vielmehr die Theorie, daß die nordischen Mythen ihren Ursprung in einer weit zurückliegenden Zeit hatten, lange bevor diese Krieger in Erscheinung traten, und daß sie aus denselben archaischen Quellen stammen, wie andere Überlieferungen aus der Frühzeit. Im poetischen Zauber der Edda und in ihren manchmal ziemlich vulgären Anekdoten liegt offensichtlich viel mehr verborgen, als für das Auge ersichtlich ist, denn die Übergabe der Waffen ist ein Merkmal der Mysterientradition. Der auf Universalität bedachte Kandidat kann gerade aufgrund der Art seiner Bemühungen sich nicht als von dem Ganzen getrennt betrachten. Er kann nichts tun, was auch nur irgendwie entzweit, sei es in Gedanken, Worten oder Taten. Als erstes müssen die Angriffswaffen abgelegt werden, denn Harmlosigkeit muß entwickelt werden. Danach werden alle Verteidigungsmittel fallengelassen und schließlich jegliches Schutzmittel. Der Ein-Sieger hat nun die Vorstellung des Getrenntseins überschritten. Seine Arbeit liegt nicht im Unmittelbaren, sondern im Ewigen; seine Existenz wird nicht länger durch ein Ichselbst begrenzt, sondern ist unendlich. Von nun an hat die Seele des Helden alle persönlichen Interessen abgelegt und setzt volles Vertrauen in das universale Ziel, dem er als selbstloser Vertreter des Göttlichen Gesetzes bedingungslos die Treue hält.

Das Fest der Ein-Sieger ist ein Teilhaben an den universalen Elementen und keinesfalls eine Trinkorgie; es sei denn, man versteht sie im Sinne der ursprünglichen Dionysischen Mysterien, in denen Wein geistige Erleuchtung bedeutete. Die universalen Elemente werden wie in den griechischen Mythen durch den Honigmet oder Nektar der Götter2 und durch die drei Eber symbolhaft dargestellt:

Andrimner läßt Saerimner in Eldrimner eintauchen:

Wenige wissen, was die Einherjar essen.

"Der Eber der Luft läßt den Eber des Wassers in den Eber des Feuers eintauchen." Der Eber stellt die gestaltenden Prinzipien der Erde dar, die erforderlich sind, um Erfahrung zu gewinnen. Eine ähnliche bildliche Darstellung finden wir in den Purânas der Hindu, in denen der Eber Brahmâ bedeutet, der Schöpfer, der die Weltkugel auf seinen Hauern trägt. Im "Grimnismål" (Mahl des Grimner) der Edda, werden die Ein-Sieger von einer Dreiheit von Ebern genährt, was ebenfalls die schöpferischen Kräfte, die Triebkräfte der Elemente in der Natur darstellt. Odin (Luft: Geist), Höner (Wasser: Verstand) und Lodur (Feuer: Wille und Verlangen) können in dem nachstehenden Vers in ihren Analogien wie folgt eingesetzt werden:

Der Geist läßt den Verstand in den Willen und das Verlangen eintauchen;

Wenige wissen, was die Ein-Sieger am Leben hält.

Das höhere Selbst oder der Geist des Menschen gestattet dem menschlichen Ego, im Feuer der Seele getestet zu werden, um seine Rechtschaffenheit zu prüfen. Ist der Mensch erfolgreich, dann bringt er seinen inneren Gott hervor; das Sterbliche erwirbt seine Unsterblichkeit, indem es sich mit dem innewohnenden universalen Odin vereinigt.

Zur Erklärung mag hier erwähnt werden, daß, wenn All-Vater seine Helden in Wal-Hall begrüßt, er Ropt genannt wird, der "Unheilvolle": Bringer von Leid und Unglück. Zweifellos ist er das in diesem Zusammenhang, denn er ist der Initiator, der Hierophant, der die Dinge in Bewegung setzt, der das menschliche Ego nicht nur unterrichten und inspirieren, sondern auch den miteinander kämpfenden Feuern dessen eigenen Seele unterwerfen muß und bis zum Ergebnis der Prüfung keinen Einfluß ausüben darf. Nur der erfolgreiche Initierte erkennt Odin als Ropt, den Unheilbringer.

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Wal-hall hat auch noch einen anderen Aspekt, der mit anderen heiligen Schriften aus ferner Vergangenheit in Verbindung gebracht werden kann:

Fünfhundert Tore und vierzig dazu

sind es zu dem himmlischen Wohnsitz;

achthundert Krieger brechen aus jedem hervor,

wenn Odin heraustritt, um mit dem Wolf zu kämpfen.

540 x 800 = 432.000. In babylonischen und indischen Aufzeichnungen kommt diese Zahl in mannigfacher Weise zum Ausdruck. Viele davon bezeichnen große Zyklen astronomischer Ereignisse. Unterteilt man jedoch diese Zahl, so läßt sie sich auf häufigere Vorkommnisse anwenden. Sie ist in menschlichen Jahren gerechnet die Länge, die unserem Eisernen Zeitalter, dem Kali Yuga, zugeteilt wird, in dem die Kräfte der Dunkelheit am stärksten sind. Seltsam, daß diese Zahl auch die Anzahl der Gefährten Odins sein soll (die in ihren Reihen so viele Kämpfer gewinnen müssen als Jahre vergehen)! Bestimmt wird hier auf eine gemeinsame universale Lehre hingewiesen, aus der diese weit voneinander getrennten Überlieferungen abgeleitet sein müssen.

Die "Kampfstätte" (Vigridsslätten), auf der Odins Krieger täglich kämpfen, wird von denen, die die Bhagavad Gîtâ studieren, deutlich als Kurukshetra erkannt werden, wo der Kampf zwischen den Kräften des Lichts und der Dunkelheit jeden Tag oder in allen Lebensabschnitten stattfindet. Vigridsslätten kann auch als die "Ebene der Hingabe" bezeichnet werden. Es ist das Schlachtfeld des Menschen, auf dem die menschlichen Eigenschaften sich gegenüberstehen, die als solche die Eigenschaften widerspiegeln, wie sie in der Natur im Großen vorhanden sind. Das Ergebnis dieser täglichen Auseinandersetzung beeinflußt zutiefst den Lauf der Entwicklung aller Wesen. Von Zeit zu Zeit kommt ein Ein-Sieger aus der Welt der Menschen, um sich zu den Göttern zu gesellen. Diese seltenen Vorläufer, die Zugang zum "himmlischen Wohnsitz" gewinnen, vereinen ihre Kräfte mit den göttlichen Bestrebungen der Natur. Die Walküren, unser eigenes inspirierendes tiefstes Selbst, suchen immer auf dem Feld der Hingabe nach geeigneten Rekruten, die den Göttern bei ihrem endlosen Mühen helfen möchten, das Ziel des Zyklus glorreich zu erreichen, an dem die Menschheit als Ganzes ihr göttliches Erbe und die Verantwortung antreten soll.

Die rätselhaften Erzählungen der Edda können so im Lichte anderer vergleichbarer Legenden gedeutet werden und helfen damit ihrerseits zur Klärung jener beizutragen. Es ist wahrscheinlich, daß die kriegerischen Eigenschaften, wie Tapferkeit und Stärke, von den Nordmännern im Laufe der Überlieferung übermäßig betont wurden, wobei die Ideale der Gemütsruhe und edler Weisheit in den Hintergrund traten, obgleich die letzteren nicht vollständig fehlen. Andererseits ist der heldenhafte Geist in diesen knappen Erzählungen sehr wohl geeignet, gewisse Begriffe durch die Wikinger-Zeit auf unser gegenwärtiges Zeitalter zu übertragen. Unsere Zeit ist vor allem insofern begünstigt, weil beide Möglichkeiten vorhanden sind. Wir haben sowohl die Mittel als auch den Ansporn, wenigstens einen Teil dieser überlieferten Weisheit, die so genial verkleidet worden ist, zu entziffern. Ihre Botschaft der Belehrung und Inspiration, die unter der sinnbildlichen Darstellung in den nordischen Mythen verborgen war, wurde lange Zeit übersehen, vernachlässigt und falsch gedeutet. Und dennoch blieb sie bemerkenswert unversehrt und zeigt uns einen Zugang zur universalen Wahrheit, die in den heiligen Legenden der menschlichen Rassen fest verwurzelt ist.

Fußnoten

1. Odroerir, "Gefäß von odr", das den Met der Weisheit enthielt, aus dem Odin selbst in einem längst vergangenen Zeitalter trank, ist eines der heiligen Gefäße, die das "Blut von Kvasir" enthalten - ein "Unterpfand", das von den ungeoffenbarten hohen Gottheiten (Vanir) den unteren schöpferischen Gottheiten (Aesir) übermittelt wurde. Damit wird die Kontinuität der göttlichen Inspiration angedeutet: Eine Übermittlung oder ein Avatar von undenkbar erhabenen kosmischen Kräften, zu einer Götterwelt herabkommend, die unserer eigenen Welt weit überlegen ist. Es weist auch auf das kontinuierliche evolutionäre Wachstum von Odin hin - der jetzt Allvater unserer Welten und die göttliche Quelle jedes lebenden Wesens in unserer Sphäre ist - aus einem vorhergehenden geringeren Zustand. [back]

2. Honig wird durch die selbstlosen Bemühungen der Bienen zum gemeinsamen Nutzen gesammelt. In den griechischen Mysterien wurden die Mystae, die Initianden, Mellissae (Bienen) genannt. [back]