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Ein Licht für alle Menschen

Wenn es möglich wäre, eine Statistik über die tiefsten Empfindungen jedes Menschen auf der Erde zusammenzustellen, würde sie nicht unsere brennende Hoffnung auf Frieden, auf gleiche Gelegenheiten für alle und auf eine Welterneuerung widerspiegeln? Sind diese Hoffnungen aber stark genug, um die Anstrengungen zu aktivieren, die die notwendigen Veränderungen bewirken? Obwohl ich ein unerschütterliches Vertrauen in die Unüberwindbarkeit des Menschen hege, glaube ich zum Beispiel nicht, daß wir die Zukunft der Zivilisation gefahrlos lediglich der Zeit und der Gelegenheit überlassen können. Ich glaube, daß jeder von uns eine verantwortliche Einheit ist und deshalb erwartet werden kann, daß schöpferische Energien dort eingesetzt werden, wo sie am nötigsten sind: beim Aufbau des individuellen Charakters als erstem Schritt zur Ausrottung der Übel der Menschheit.

Erst kürzlich habe ich Platos Siebenten Brief wieder einmal gelesen, den er in seinem 75. Lebensjahr geschrieben hatte, nachdem sein langjähriger Freund Dion von Syrakus von Freunden des Dionysios II. von Sizilien ermordet worden war. Wie ernsthaft hatte Plato sich bemüht, den jungen Dionysios vom ausschweifenden Lebenswandel hin zum Studium der Philosophie und zur Liebe zu ihr zu führen. Er hatte gehofft, er würde mit der Zeit etwas von den "alten und heiligen Lehren" aufnehmen, daß die Seele unsterblich ist und deshalb, wenn sie gegen ihre besseren Empfindungen unwürdige Handlungen ausführt, sich selbst schweres Unrecht zufügt und leiden wird, auch noch nach dem Tode, bis sie lernt. Hätte sich der junge Mann einem tugendhaften Leben und edlen Prinzipien zugewandt und in dieser Zeit die Grundlagen der Staatsführung erlernt, wie anders hätte dann das Ergebnis für das syrakusische Reich gewesen sein können.

Die Tragödie war vielfältig, weil, wie Plato rückblickend treffend feststellt, Dionysios durch seine Weigerung, "nach dem zu streben, was für das Selbst des Mannes und sein Land am ehrenvollsten ist", nicht nur sich selbst und seinen Mentor betrog, sondern die "gesamte Menschheit". Wohingegen, wenn während seiner Regierung "Philosophie und Macht wirklich vereint worden wären, dann hätte sie daraus ein Licht für alle Menschen ausgestrahlt."1

Nebenbei fragen wir uns, ob wir wirklich bestimmen können, was Versagen und was Erfolg ist. Wir leben zwei Leben in einem, ein äußeres und ein inneres Leben, und für Menschen wie Plato wird wohl das innere Seelenleben ein größeres Gewicht haben als alle äußeren Erfahrungen. Wenn seine Missionen in Sizilien, vom Standpunkt des Ablaufes der Ereignisse gesehen, ein Fehlschlag waren, dann zeigt das Lesen dieses Briefes2 gewiß, daß vom Standpunkt einer Seele, die den schwersten Prüfungen unterzogen wird, nur Sieg vorhanden war.

Das alles ereignete sich jedoch vor 2300 Jahren, und wenn auch geschichtlich gesehen eine Faszination davon ausgeht, hat es für heute noch Gewicht? Ich meine ja, nicht zuletzt als psychologische Charakterstudie (Gut und Böse) und wegen seiner Auswirkung auf das Schicksal der Völker. Wenn wir unsere persönlichen und weltumfassenden Probleme betrachten, sind wir dann nicht mit den gleichen Zuständen, der gleichen Täuschung in öffentlichen und privaten Beziehungen und dem gleichen Verlangen nach Verbesserung konfrontiert? Angenommen, durch ein Wunder, wenn es solche gäbe, wären die machthabenden Männer und Frauen, die beständig das allgemeine Wohl für das Wichtigste hielten, nicht nur in Staatsführung geschult, sondern vor allem in der Kunst und Fertigkeit, eine rücksichtsvolle Lebensweise zu führen. Wären sie überhaupt in der Lage, die Reinheit ihrer Bemühungen aufrecht zu erholten, wenn sie in ihren Idealen nicht auch durch die gleichen Bemühungen von den Menschen der betreffenden Völker unterstützt würden, denen sie dienen? Eine Nation oder Rasse ist die Gesamtheit der Männer und Frauen, die sie bilden: Unser Denken und Fühlen und Leben schafft die Bedingungen, die wir verdienen. Es liegt an uns, solche Führer hervorzubringen, die in erster Linie Vorbilder für "rechtes Denken und rechtes Handeln" sein werden und erst in zweiter Linie Staatsmänner. Dann würde tatsächlich ein Licht für alle Menschen aufgehen, das die Dunkelheit des Mißtrauens zerstreuen würde; ein Licht, das das Vertrauen in die Würde des Menschen als eine Göttlichkeit, als ein zeit- und dimensionsloses Wesen wiederherstellen würde, dessen Leben mit dem Tod des Körpers nicht endet, sondern fortbesteht, um in vielen zukünftigen Zyklen seine innewohnende Größe aus sich heraus zu entwickeln.

Utopisch, unrealistisch - vielleicht, aber - ehe wir anfangen zu träumen - werden wir den Mut haben, den Traum willentlich zu verwirklichen? Haben nicht alle großen Schritte für die Menschheit mit einer einzigen Idee begonnen, die genährt und die immer wieder verfolgt wurde - auch wenn andere nicht daran glaubten -, bis schließlich das Zusammenfließen von Zeit und Idee die Menschen bereit und fähig machte, sie zu verwirklichen? Eine Veränderung zum Guten in der Welt zu bewirken ist eine Aufforderung an uns alle. Wo fangen wir an? Bei uns selbst, offensichtlich, denn wie sonst soll der Aufbau des Charakters - die Grundvoraussetzung für die Welterneuerung - vor sich gehen, wenn nicht in der Stille unseres eigenen Wesens? Wir beginnen da, wo wir stehen, denn wir sind die Herrscher über unsere individuelle Domäne, mit uneingeschränkter Macht über unsere Gedanken und Entscheidungen. Natürlich innerhalb von Grenzen; denn da wir mit allen anderen verbunden sind, unterliegen wir auch den Behinderungen und den Gegengewichten, die von dem freien Willen unserer Mitmenschen und von den x-Millionen lebenden Wesen ausgehen, die unser Universum bilden: jene, die weiterentwickelt sind als wir, und jene, die noch nicht den menschlichen Stand erreicht haben, obwohl sie danach streben.

Unsere Verantwortung ist gewaltig, denn der Einfluß, den jeder von uns auf die Zukunft dieser Lebewesen ausübt, und zwar in erster Linie auf unsere menschlichen Brüder, währt für immer. Wenn daher mitfühlende Herzen fragen, wie sie die Bürde des Leides und der Verwirrung der Menschheit erleichtern können, wie sie in ihrem stillen, unauffälligen Leben die Waagschalen zum Guten beeinflussen können, ist der Weg sicherlich klar. Jeder von uns ist in Wirklichkeit ein Licht, und da sich keiner vom anderen isolieren kann, hat sein Licht, und sei es auch nur winzig in seiner Kraft oder Wirksamkeit, die Macht, in bestimmtem Maße die Dunkelheit seiner Umgebung zu erhellen. Jedesmal, wenn wir das Edle dem Niederen vorziehen und unseren Einfluß ausüben, indem wir eine Hand reichen oder einen Gedanken an andere weitergeben, anstatt in Selbstzufriedenheit zu verharren, erlauben wir unserem Licht auszustrahlen - die einfachste, natürlichste Wahrheit, die jedoch am schwersten zu praktizieren ist. Weltverbesserung, Weltfriede, Verständigung unter den Völkern entstehen nicht nur aus den Bemühungen jener, die sich in hohen Ämtern befinden, sondern durch die Ergebenheit von Milliarden Du's und Ich's, einfachen Leuten, die dem nachleben, was sie lieben, und dadurch Lichtbringer werden.

Fußnoten

1. § 335 d, Übersetzung von J. Harward, Great Books of the Western World. [back]

2. Während die Mehrzahl der Gelehrten jetzt übereinstimmt, daß dieser siebente Brief Plato zuzuschreiben ist, gibt es einige, die immer noch glauben, er sei das Werk eines späteren Schreibers. [back]