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Das Dilemma des Menschen – Die Persönlichkeit

Im Jahre 1887 übersetzte der Häuptling der Sioux Indianer Gelbe Lerche ein Gebet der Indianer ins Englische. Die Übersetzung lautet folgendermaßen:

... Mache mich stark.

Nicht um meinen Brüdern überlegen zu sein,

Sondern um meinen größten Feind zu bekämpfen -

Mich selbst ...

Ich dachte, welch herrliches Gebet - für unsere heutige Zivilisation. Wie erfrischend wäre es, einen solchen Anruf nach Stärke zu vernehmen, Stärke, um diesen größten Feind zu überwinden.

Oder stimmen Sie vielleicht nicht so ganz damit überein; vielleicht haben Sie einigen Zweifel in bezug auf den Wert solcher Bestrebungen in der heutigen Zeit? Gewiß, es ist ein Gebet, wie wir es heute selten oder überhaupt nicht hören. Die Menschen beten zwar immer noch um Stärke, um mit ihrem Leid und mit ihren Problemen verschiedenster Art fertig zu werden. Aber Stärke, um sich selbst zu bekämpfen?

Nun gut, sagen Sie, unter den Verhältnissen jener Zeiten bedurfte es großen Mutes, dem Kampf und den Gefahren entgegenzutreten, die heute sich hauptsächlich in Kriegszeiten ergeben, wenn der Soldat in ähnlicher Weise darum betet, seine Pflichten erfüllen zu können, wenn nötig bis zum Tode.

Das mag sein, aber ich habe das Gefühl, der alte Häuptling Gelbe Lerche dachte an eine tiefere und weit bedeutendere Wahrheit als an die Notwendigkeit von Mut in einer gefahrvollen Welt. Das Gebet geht weiter:

... Mache mich immer bereit, mit reinen Händen und aufrichtigem Blick vor dich zu treten,

So daß, wenn das Leben dahinschwindet wie die untergehende Sonne,

Mein Geist ohne Schamgefühl zu dir kommen kann.

Es ist klar ersichtlich, daß der Geist, auf den er sich bezieht, nicht das Selbst ist, das überwunden werden muß, d. h. das "persönliche Selbst", das als der größte Feind angesehen wird. Im Zusammenhang mit dem Gebet ist das "ich selbst" keine im übertragenen Sinne benützte Redensart, um den Begriff der Tapferkeit herauszustellen, sondern es ist ein Selbst, das von dem Betreffenden losgelöst ist, der im Begriff steht, den Kampf anzunehmen, und ist vielmehr der "Geist", der im Gebet letztendlich zum Ausdruck kommt.

Natürlich haben wir alle eine Persönlichkeit, die beim physischen Tod ganz offensichtlich stirbt ..., werden Sie antworten.

In dieser Weise würde man heute mit der Mehrzahl der Menschen über das Gebet diskutieren. Wie traurig, daß wir überhaupt nichts mehr von dem in der Persönlichkeit begrabenen Gefangenen hören und von dem tatsächlichen Kampf zur Überwindung der Persönlichkeit - nun ja, wir sind ja so fortschrittlich! Gewiß sind unsere Persönlichkeiten so moderne, vernünftige und - wahrhaft - attraktive Wesenheiten im Vergleich zu jenen in weit zurückliegenden Zeiten, daß keine derart strengen Maßnahmen notwendig sind.

Um diese Dinge gründlich zu betrachten, muß man tatsächlich in der Geschichte zurückgehen. Man könnte sogar die Frage stellen: Was wurde überhaupt aus dem Kampf, das persönliche Selbst zu beherrschen? Man braucht den Film der Zeit nicht sehr weit zurückzudrehen, um zumindest in der westlichen Welt zu sehen, wie sich das moralische Nachlassen in diesem Kampf in weitem Maße auswirkt. Natürlich nicht überall, aber es gab immer eine Menge Menschen, die den Kampf vorübergehend oder möglicherweise für eine oder zwei Lebenszeiten aufgaben. Doch selbst wenn wir unsere Zeitenuhr nur vor hundert Jahren anhalten, können wir einen gewaltigen Unterschied allein schon darin erkennen, daß die damaligen Generationen den religiösen Glauben und die religiösen Begriffe jener Zeit weit mehr anerkannten.

Ich bin sicher, es gibt tatsächlich einige Grundzüge in einer "Gedankenatmosphäre", mit denen der Häuptling Gelbe Lerche bereitwillig übereinstimmen könnte. Da ist zum Beispiel die Frage des "guten" und "schlechten" Benehmens. Als ich jung war, gab es noch tausend Dinge, die jenseits des Erlaubten waren. Gewiß, viele gibt es noch, aber der Unterschied in der Betrachtung von Recht und Unrecht ist enorm. Heute ist es mehr eine Angelegenheit der Persönlichkeit, aufgrund einer intellektuellen Vorstellung von Gleichheit, "gleiches Recht für alle", oder weil Gesetz und Ordnung notwendig sind, einigen Beschränkungen zuzustimmen. Das Bemühen, "mich selbst" zu beherrschen, ist heute nicht mehr eine Sache dessen, was der Häuptling "Geist" nannte. Genau hierin liegt nun der Unterschied zwischen den vorübergehenden, festlegbaren, in den gesellschaftlichen Konventionen verankerten Vorbehalten, denen die Absicht zugrundeliegt, das Leben erträglicher zu gestalten, und einer echten Würdigung der Menschheit als empfindende Wesen, deren innere Göttlichkeit das Geist-Selbst - für die ihm zukommenden hohen Ziele - dazu bringt, die äußere Persönlichkeit unter Kontrolle zu bringen.

Was geschah damals überhaupt in diesem Kampf? Es erscheint seltsam, daß die Persönlichkeit vor einem Jahrhundert verhältnismäßig so überwacht, ja zuweilen sogar völlig unterdrückt werden konnte, während das Pendel heute anscheinend direkt in die andere Richtung schwingt. Vielleicht ist die Situation nicht wirklich so schlecht. Vielleicht war eine Reaktion notwendig, damit wir den "Mittelweg" zwischen den Extremen finden.

Könnte es sein, daß sich der persönliche Teil von uns durch so viel Worte über Gut und (noch mehr) über Böse unsicher, hilflos und oft hoffnungslos fühlt? Und zwar so sehr, daß er zu rebellieren begann und dadurch so aufgebläht wurde, wie er zuvor zusammengeschrumpft war? Wenn das der Fall wäre, dann wäre vieles erklärt und eine Anzahl Teile des Puzzles würden ihren rechten Platz finden: die zunehmende Ernüchterung in bezug auf die konfessionellen Religionen; das neue Interesse an Okkultismus (wenn auch unglücklicherweise nicht immer an der bekömmlichsten Art); das Aufblühen von Psychologie und Psychiatrie während der Zeit, in der sich die Persönlichkeit in ihrer irritierten Reaktion selbst von ihrer eigenen erhabenen Quelle abschnitt; und als letztes, aber nicht Geringstes, die gegenwärtige Überbeschäftigung mit dem Ego.

Das ist ohne Zweifel das Dilemma unserer heutigen Zivilisation. Die Lösung wäre natürlich, unsere Dualität mit dem einfachen und mutigen Glauben des alten Häuptlings anzuerkennen. Er war sich dieser Dualität ohne Zweifel so gewiß wie der Phasen des Mondes, aber wer im Westen weiß mit derselben Sicherheit, daß er oder sie zeitweilig eine Persönlichkeit besitzt, in der ein innerer Mensch wohnt, der immer nach höheren Dingen strebt?

An Stelle dieser ewigen Wahrheit entfalten wir eine fieberhafte Tätigkeit und suchen wahrscheinlich einem Konflikt zu entfliehen, den wir nie befriedigend gelöst haben. Es gibt jedoch auch eine Menge hochtrabender Theorien und auch Statistiken, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken und uns überzeugen, daß wir wirklich eine sehr fortschrittliche Rasse sind und die größte Liebe für die Menschheit hegen. Wie sorgen wir uns zum Beispiel um die Probleme der Ökologie, um die Alten und um die Bevölkerungsexplosion - und das sind gewiß sehr wichtige Dinge. Doch was nützt das alles, wenn wir uns nicht mehr für alle Stufen unserer eigenen geheimnisvollen Natur interessieren? Daß wir seit Jahrhunderten leichtfertig angenommen haben, das Universum sei dazu da, um von uns ausgebeutet zu werden, zeigt, wie weit die bloße Persönlichkeit aufgebläht wurde, und es kann kaum überraschen, daß eine solche Perspektive schließlich zur gegenwärtigen Umwälzung in der Welt geführt hat. Die Betten in den Krankenhäusern sind voll mit geistig kranken Menschen, es herrscht schreiende Unzufriedenheit angesichts des früher nie gekannten Reichtums.

Es ist - unglaublich -, als wäre der Mensch größtenteils bemüht, die Regeln des Daseins zu "mißachten", als wäre er der Meinung, in Raum und Zeit einen Zustand der Stagnation schaffen zu können, in welchem er seine eigene Gesellschaft formen und seine eigenen Regeln aufstellen kann!

Ich möchte wirklich wissen, was der alte Häuptling dazu gesagt haben würde ...