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Eine größere Wissenschaft

Wenn wir von der Wissenschaft sprechen, so denken wir hauptsächlich an ihre technische Verwertung, wie Fernsehen, Astronauten auf den Mond schießen, an die moderne Technik in der Chirurgie und an das elektrische Licht. Die Forschung wird gewöhnlich nur als Mittel betrachtet, um neue Naturgesetze zu finden, die praktisch angewandt werden können. Das versteht man aber nicht unter Wissenschaft. Scientia, Wissen, ist eine Fakultät des menschlichen Verstandes, ein abstrakter Ausdruck, den man physikalisch anwenden kann oder auch nicht.

In der Novemberausgabe 1974 des Reader's Digest versucht Isaac Asimov in einem Artikel mit dem Titel "But What Use Is It?" (Doch was nützt sie?) den Wert der reinen Wissenschaft zu verteidigen (!) - jedoch mit der Begründung, daß sie zu technischen Fortschritten führen kann. Darin drückt sich unsere Einstellung gegenüber der wissenschaftlichen Forschung aus, die grundverschieden ist von der Haltung der alten Schulen der Wissenschaft und Philosophie, in denen es als unrichtig betrachtet wurde, das Wissen nur für Annehmlichkeiten oder Vorteile praktisch zu verwenden, denn die Wissenschaft war für sie die Möglichkeit, Tatsachen zu beobachten, daraus zu lernen und sie festzuhalten, aus den Naturgesetzen (logisch) zu folgern, die Wahrheit zu erkennen und Verständnis für das System des universalen Seins und den Platz und die Funktion, die der Mensch in diesem Gefüge einnimmt, zu gewinnen. Das Hauptinteresse galt dem sich erweiternden menschlichen Bewußtsein, einer sich vergrößernden Sympathie und einem Verständnis für die Umgebung. Wenn unser technisches Können auch groß ist, so besitzen wir in Wirklichkeit doch sehr wenig Wissen in diesem Sinne.

Die Natur schließt alle bekannten und unbekannten Ebenen des Daseins in sich ein, mannigfaltige Wachstumsstufen des Bewußtseins, wovon die Menschheit ein Beispiel bietet. Wir Menschen teilen mit den niedrigeren Reichen einige der bekannten Schichten des Lebens auf diesem Globus: Eine physische Struktur, die zum Gebrauch auf Erden tauglich und aus irdischem Material zusammengesetzt ist; die Fähigkeit zu empfinden, was kürzlich auch im Pflanzenreich festgestellt wurde; wir haben Gemütsbewegungen und Verlangen, die auch in den höheren Tieren existieren; nur die Fähigkeit, klar zu denken, und die Fähigkeit, sein Denken zu kontrollieren, hat allein der Mensch entwickelt. Latent in uns haben wir auch ein höheres Bewußtsein, dessen Größe und Schönheit nicht beschrieben werden kann und das sich zuweilen durch intuitives kurzes Aufleuchten bemerkbar macht. Diese erhabenen Einblicke werden uns erst ganz gehören, wenn alle Menschen die notwendigen charakterlichen Eigenschaften entwickelt haben, um ihre Eindrücke zu behalten.

So wie die physikalische Wissenschaft ihre Technologie hat, mit der wir wunderbare Geräte bauen können, so benutzt die Psychologie - das Wissen über die Seele - technische Hilfsmittel, wie z. B. emotionale Krisen und Konfrontationen, um die psychologischen Reaktionen in den verstörten Persönlichkeiten zu studieren und, wie man hofft, ihnen zu helfen. Das ist der heutige Stand; aber es gab auch Zeiten, in denen das spirituelle Wesen des Menschen Gegenstand des Studiums war. In jenen Zeiten war die Philosophie eine Wissenschaft der Pneumatologie, die nach Wissen über das Höhergeistige strebte, wobei die Psychologie - die Lehre über die Psyche - mit eingeschlossen war. Die Wissenschaft wurde damals als so heilig geachtet, daß, wer die ihm anvertrauten Geheimnisse über die Natur bekanntgab, mit dem Tode bestraft wurde; denn wer davon Gebrauch machte, ohne in Selbstdisziplin geschult zu sein, konnte die ganze Menschheit wirklich gefährden. (Nur zu gut können wir erkennen, welche große Gefahr allein die Anwendung der Physik für das physische Leben sein kann; wieviel gefährlicher könnte dann erst das Resultat sein, wenn man unsachgemäß mit der für immer bestehenden inneren Substanz des Menschen umgeht.) Die Naturgesetze des persönlichen Vorteils wegen anzuwenden wurde als undenkbarer Frevel betrachtet. Wissen wurde deshalb nur in den heiligen Mysterienschulen gelehrt und nur jenen enthüllt, die sich des Vertrauens würdig erwiesen hatten.

Für den Uneingeweihten waren die Mysterienschulen tatsächlich mysteriös, denn die Dinge, die dort gelehrt wurden, bargen eine Menge von Ideen oder kausalen Einflüssen sowie phänomenale Erscheinungen. Mathematik, Musik, Astronomie, Geographie wurden in ihren vollständigen Zusammenhängen gelehrt und umfaßten jene subtilen Kräfte, die zu den naturgesetzlichen Wirkungen führen, die wir wahrnehmen. Unser modernes Studienprogramm lehrt diese Dinge nur vom Standpunkt ihrer Wirkungen aus. Geringes Wissen ist in der Tat gefährlich, denn ohne die schwer zu verstehende scientia oder ohne das innere Wissen über das kausale Wesen der Natur können wir unbewußt physische Kräfte mißbrauchen und dadurch weitreichende Folgen schaffen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Die alte Wissenschaft befaßte sich auch mit der innersten Natur des Menschen, mit den inneren Bereichen unseres Globus und des Sonnensystems. Das technische Wissen, das zu der Ära des sich entwickelnden menschlichen Bewußtseins gehörte, wurde innerhalb der Grenzen von geheimen Höhlen und Krypten mitgeteilt. Dort erhielt der Schüler eine systematische Erziehung, eine strenge Schulung, die darauf hinzielte, sein gesamtes Wesen zu vervollkommnen und die spirituellen Fähigkeiten seiner zusammengesetzten Natur zu entfalten. Er wurde gelehrt, daß das innerste Zentrum des Menschen eins ist mit der universalen Essenz allen Lebens, so wie der Wassertropfen mit allen Wassern des Globus eins ist. Wenn ein Neophyt das erkennt, wenn er es innerlich erfaßt, dann kann er nicht anders, er muß diese Erkenntnis in jeder Lebenslage anwenden. Er wird mit der Zeit unfähig, irgendeinen separatistischen Gedanken zu hegen oder eine solche Handlung zu begehen, denn er weiß, daß er eins ist mit dem All.

Diese Weisheits-Wissenschaft kann nicht gekauft oder auf Kosten anderer erlangt werden. Sie wird nach und nach von dem Strebenden durch Ausübung von Altruismus erlangt, und dieser Altruismus basiert auf der immer größer werdenden Erkenntnis der Wahrheit, so daß dieser Mensch schließlich in seiner natürlichen Umgebung und inmitten seiner täglichen Pflichten zu einer unpersönlichen, wohltätigen Kraft wird.

Wir nähern uns heute immer mehr einer Krise in den menschlichen Angelegenheiten. Wir sind auf dem Weg der Technologie eine lange Strecke gewandert und haben unsere Bemühungen darauf konzentriert, die physische Materie zu beherrschen. Dem Fortschritt des Menschen selbst haben wir wenige Gedanken gewidmet. Es kommt nun die Zeit, in der wir klar und bestimmt unsere Ziele wählen müssen. Entweder wir setzen unser Vertrauen auf die Naturwissenschaft, damit sie die Probleme löst, die wir gemeinsam geschaffen haben - Probleme, die nicht nur die physische Umgebung betreffen, sondern auch psychologische Differenzen unter den Menschen und spirituelle Unzulänglichkeiten -, oder wir müssen eine neue Richtung einschlagen - die in Wirklichkeit eine alte Richtung ist - und unser Interesse auf die Förderung der menschlichen Eigenschaften des Menschen konzentrieren: auf den Menschen, den edlen Denker, dessen Lebensniveau durch seine spirituell-intellektuelle Erkenntnis bestimmt wird. Auf der einen Seite können wir unsere Bemühungen verschwenden, indem wir die physische Welt unseren Wünschen entsprechend reorganisieren und die Konsequenzen für unvermeidliche Irrtümer auf uns nehmen. Auf der anderen Seite können wir aber auch lernen, mit dem Plan der Natur zu arbeiten und den menschlichen Tugenden gestatten, sich so zu entfalten, wie sie es sollten. Wieder einmal können wir die Wissenschaft der Seele studieren und aus unseren eigenen Erfahrungen und Irrtümern lernen zu erkennen, wie die inneren Kräfte durch ihre entsprechenden Kanäle in uns fließen. Wir können lernen, die Stimmen unserer eigenen höheren Natur zu beachten, die Eingebungen für Liebe, Güte, Sympathie und Verstehen, die ihren Ursprung in der universalen Einheit von uns allen haben. Diese Wissenschaft lehrt uns, daß Selbstsucht das Resultat von Unwissenheit ist und daß Wachstum des Bewußtseins eine Folge der Ausübung von Altruismus ist. Wir müssen begreifen, daß es notwendig ist, diese Eigenschaften zu entfalten, die den überdauernden Teil der menschlichen Natur bilden.

Diese edle Wissenschaft wurde zu lange nicht beachtet. Trotzdem existiert sie und hat immer als der natürliche Entwicklungsweg des Menschen existiert. Unsere feinsten Aspirationen und unsere Fähigkeit, die Schönheit und die Wahrheit zu lieben, sind ein überzeugender Beweis dafür, daß sie vorhanden ist. In der Stille seines Herzens wird jeder Mensch das Immaterielle gewahr, das den wahren Kern seines Wesens bildet.