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Das wahre Gesicht des Okkultismus

Okkultismus und okkulte Künste sind ein umfangreiches Thema, über das man wochenlang sprechen könnte, ohne sich dem Kern auch nur im geringsten zu nähern. Okkultismus bedeutet 'das Verborgene'. Diese Definition des Lexikons reicht zwar aus; für einen Okkultisten ist sie aber nicht wirklich befriedigend, denn sie sagt nichts über die Erhabenheit, die in der Beschreitung dieses Weges liegt. Der Okkultismus hat in Wirklichkeit zwei Gesichter. Das eine sehen wir in den Zeitschriften, - "okkulte Kräfte, Hypnose, astrale Wanderungen, psychische Kräfte, schnelle, leicht gegen Geld zu erlernende Lektionen" - die an die selbstsüchtige Seite des Menschen appellieren, aber wenig bleibenden Wert haben. Das andere, das spirituelle Gesicht ist dem Menschen so nah wie das Leben, es ist von Dauer, denn es bedeutet, Selbstlosigkeit in die Praxis umzusetzen, sie jeden Tag in unserem Dasein zu leben.

Wir haben heute enormes Wissen, einen Berg von Daten angesammelt. Diese Dinge waren einmal okkult, denn es gab eine Zeit, in der sie nicht allgemein bekannt waren. In der Tat, alle Religionen waren einmal okkult. Sogar ihre äußeren Formen können uns, wenn wir sie studieren, noch immer okkulte Dinge offenbaren. Als die Botschaft zum ersten Mal verkündet wurde, war sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Ein Mensch konnte nach innen gehen und sie in seinem Leben, in seiner Lebensweise anwenden und damit die Antwort auf seine Probleme finden. Im Laufe der Zeit zerstörten jedoch die späteren Anhänger diese Religionen, weil sie diese retten wollten. Sie versuchten, sie schriftlich festzuhalten: "So ist es und nicht anders, und so müßt ihr die Wahrheit verstehen."

Damit meine ich aber nicht, daß ein Anhänger des Christlichen Glaubens oder ein Sufi oder ein Brahmane die Wunder, die in seiner Religion enthalten sind, nicht finden könnte, denn jeder Mensch gewinnt aus seiner Religion genau das, was er selbst ist. Er wird darin das finden, was er sucht. Die alten Mysterienschulen waren einst geheim, und sie sind es heute noch. Niemand weiß genau, was dort eigentlich gelehrt wurde. Wir wissen nur allgemein, daß sie zu ihrer Zeit Stätten der Gelehrsamkeit waren. Platon, Solon, Thales besuchten diese Schulen und erwarben dort ihre Kenntnisse in Mathematik, Astronomie, Medizin, Physik und über andere Wissensgebiete. Diese Kenntnisse wurden nicht so weitergegeben, wie wir sie in unseren Schulen lehren. Sie bestanden nicht nur aus isolierten Fakten, die in verschiedene Kategorien eingeteilt waren, wovon jede wiederum spezialisiert war.

Die Mysterienschulen, von denen wir wissen, daß sie in Griechenland und Ägypten, in Indien und an anderen Orten existierten, lehrten im wesentlichen die gleichen Lehren über den Menschen, über das Weltall, über Geburt und Tod und über die Beziehungen des Menschen zu allem Lebenden. Man befaßte sich mit der Wahrheit und suchte danach und wurde selbst zu dieser Wahrheit, denn nur auf diese Weise konnte man sie erfahren. Unsere heutigen Einteilungen in Philosophie, Wissenschaft und Religion sind nur Betrachtungsweisen der Natur und Wege, um ihre Funktionen zum Ausdruck zu bringen. Was wissen unsere modernen Gelehrten vom Universum, wie es entstand, wie es in allen seinen inneren und äußeren Welten lebt? Was wissen wir tatsächlich über die Mysterienschulen, in welchen dem Menschen gezeigt wurde, wie sein Bewußtsein durch diese Welten wandert?

Die Lehrer und Philosophen des Altertums lehrten, daß Universen, kosmische Systeme und Welten periodisch entstehen und verschwinden. Wenn eine solche Wesenheit - und sie alle leben - ins Dasein tritt, so geschieht das fast genauso, wie auch der Mensch sich zur Geburt bringt. Man kann es mit einer Schriftenrolle vergleichen, die sich über alle Ebenen des universalen Seins hinweg aufrollt, auf jeder Ebene die Lebenselemente des früheren Selbst zum Leben erweckt, sie wieder ins Dasein zurückbringt und dem Leben wieder gibt; und durch die Tätigkeit und das Wachstum dieser kleineren 'Lebenseinheiten' werden die inneren und äußeren Welten aufgebaut. Wir Menschen und alle anderen Lebewesen in der Natur bilden diese kosmische Wesenheit, von der wir materiell und geistig ein Teil sind.

Wenn ein Mensch stirbt, legt er seinen Körper ab, und wir sagen, er ist tot und ist nicht mehr. In Wirklichkeit ist es der Beginn eines Einwicklungsprozesses. Die Kräfte, aus denen er zusammengesetzt ist, die ihn bilden, werden in seinen spirituellen Samen eingezogen. Im Herbst sterben manche Pflanzen und ziehen ihre Lebenskräfte in ihr Zentrum oder in ihre Samen zurück, um den Frühling abzuwarten und wieder hervorzukommen und sich wiederum zu manifestieren. Und wenn der Mensch stirbt, so findet ein ganz ähnlicher Prozeß statt. Wie eine Schriftenrolle rollt er sich auch ein- und aufwärts über die verschiedenen Ebenen seiner Natur, wobei er auf jeder Ebene die Hüllen zurückläßt, die zu ihm gehören - Teile von ihm selbst, die nicht in der Lage sind, in die aufsteigenden Welten, in die spirituellen Sphären einzugehen, bis schließlich auch die höheren Kräfte verschwinden und in seinen Samen eingehen. Wenn dann der Impuls zur Geburt erneut verspürt wird, nimmt das zurückkehrende Ego beim Abstieg in jeder der aufeinander folgenden Welten die zu ihm gehörenden Hüllen auf und erscheint schließlich als ein neugeborenes Kind.

Wenn daher in den Mysterienschulen von den Wanderungen des Menschen während der Initiation gesprochen wurde, meinte man damit, daß die Seele sich in diese inneren Welten zurückzog, von denen der Mensch bereits ein Teil war. Es war genau dieselbe Geschichte der Reise des Menschen nach dem Tode - nur daß er jene Erfahrung jetzt selbstbewußt erlebt.

Ich möchte auch etwas über die Evolution sagen. Der Mensch ist eine von den vielen Milliarden Wesenheiten, die ein kosmisches Wesen bilden. Manche stehen auf der evolutionären Leiter viel niedriger als er, und manche sind viel weiter fortgeschritten! Ein Same wächst und entwickelt sich, um das zu werden, was in dem Samen eingeschlossen ist. Er kann nur das werden, was in ihm ist. Alle diese Wesenheiten, diese Lebenssamen, sind Funken des Göttlichen, die bis in alle Ewigkeit das entfalten werden, was in ihnen ist. Sie werden wirklich universale Gottheiten. Doch auch die Essenz des Universums befindet sich in einem ständigen Werdeprozeß. Der Mensch hat den Punkt in seiner Entwicklung erreicht, wo er sich als menschliches Wesen zum Ausdruck bringt. Er hat jene Kräfte in sich entwickelt, die ihm seine Entwicklungsmöglichkeiten vor Augen führen. Die Lebewesen unter ihm werden eines Tages diesen Punkt ebenfalls erreichen. Vor dem Menschen liegt ein weiterer Schritt des Bewußtwerdens, der aus seinem Inneren seine spirituellen Fähigkeiten hervorbringen und ihn schließlich zu einem Gott machen wird.

Natürlich stellt man sich die Frage: Wie kann dieses Erwachen wirkungsvoller vonstatten gehen? Wie sollte der Mensch leben, damit er das auf natürlichstem Weg erreicht? Bisher habe ich noch keine Formel gesehen, an der wir unsere Erfahrung messen könnten und die uns dann bestätigen würde, was richtig und was falsch ist. Jeder Mensch muß diese Entscheidungen selbst treffen. Wenn er aber beim Lernen sich an seine innere Stimme wendet, die alles weiß, wird diese innere Stimme in seinem Leben immer mehr Einfluß gewinnen. Dann ist es ihm möglich, die richtige Wahl zu treffen.

Die Richtung, die der Mensch im Leben einschlägt, ist nur eine Angelegenheit des Augenblicks, sie ist das Ergebnis seiner Wünsche und der daraus folgenden Handlungen aus früheren Tagen und Leben. Sie reflektiert, was der Mensch geworden ist und wozu er sich selbst gemacht hat. Hier spielt sich die Entwicklung und das Wachstum ab, denn im natürlichen Ablauf des täglichen Geschehens finden wir die größte spirituelle Gelegenheit. Hier liegt auch sein Dharma, oder seine Pflicht, die er nicht nur sich selbst gegenüber als spirituell wachsende Wesenheit hat, sondern auch gegenüber seiner Familie, seinen Freunden und schließlich gegenüber allen lebenden Wesen. Es gibt nichts, womit er auslöschen kann, was er selbst ist - denn er lebt Tag für Tag alle diese Ereignisse und Beziehungen, mit denen er fertig werden muß. Er befolgt das Gesetz, indem er die Ketten des eingeengten Bewußtseins und der Anziehungskräfte zerbricht und im Bewußtsein seiner spirituellen Verantwortung sich weiter entwickelt.

Worin besteht nun der Pfad, dem der Mensch folgen muß? Er wurde von jedem wahren Retter der Menschheit beschrieben und in den Mysterien gelehrt; der Pfad war für den Menschen immer vorhanden; er ist es heute noch und wird es immer sein, denn der Mensch ist ein uralter Pilger. Er ist seit Millionen Jahren hier, und während der Millionen von Jahren wurde ihm die Geschichte immer wieder erzählt. Wenn ich ein Anhänger Zarathustras, ein Vedantist oder ein Taoist wäre, würde ich denselben alten Pfad beschrieben finden, nur in verschiedenen Formen. Ich fühle mich aber zu dem Pfad hingezogen, wie er von H. P. Blavatsky in Die Stimme der Stille dargestellt ist. Es ist ein Kodex sittlicher Lebensweise, den die nördlichen Buddhisten befolgen.

Ehe ich darüber spreche, möchte ich sagen, daß wahrer Okkultismus Selbstlosigkeit ist - er appelliert nicht an die selbstsüchtigen Elemente im Menschen. Den Pfad des Mitleids kann man nicht nur für sich allein beschreiten: Der Weg der inneren Entfaltung, das Streben nach Spiritualität geschieht zum Wohle der ganzen Menschheit. Aus diesem Grunde liebe ich die von den Bodhisattvas praktizierten Paramitas so sehr.

Die erste "Tugend" oder Paramita ist "unsterbliche Liebe und Barmherzigkeit". Die Betonung liegt hierbei auf dem Wort Barmherzigkeit oder Mitleid, wodurch die Idee direkt in die Welt der Realität gebracht wird, in die der Mensch einbezogen ist, nicht nur als Mensch der Menschheit gegenüber, sondern zu allen Wesen in jedem Reich. Das Sanskritwort dafür ist dâna, es bedeutet "geben" und ist der Schlüssel dazu. Die zweite Regel lautet "Harmonie in Wort und Tat" - sila, "dienen". Im Lichte der ersten Regel wird diese zweite bedeutungsvoll - ein Leben der inneren Harmonie in Wort und Tat im Dienste für alle Wesen. Die dritte Regel ist Geduld, die aus dem Verstehen der beiden ersten geboren wird. Und die vierte? Als ich diese Paramita zum ersten Mal las, schien sie mir so weit entfernt wie der Mount Everest. Wie kann der Mensch sein eigenes persönliches Schicksal aufgeben, seine Freude, seinen Ehrgeiz; wie kann ihm sein Glück und sein Leid völlig gleichgültig sein? Nach Jahren wurde mir dann klar, daß wir mit anderen Menschen gar nicht zusammenleben, daß wir mit anderen nicht zusammenarbeiten können; daß wir keine Familie aufbauen, daß wir überhaupt nur sehr wenig tun können, wenn wir unser eigenes, persönliches Leben nicht auf die eine oder andere Weise hintanstellen. Wir tun dies fortwährend.

Die drei höheren Paramitas befassen sich mit der Erweiterung des Bewußtseins, dem Suchen nach Wahrheit und wie man mit ihr einswerden kann. Die siebente und letzte ist die innere Geburt - die aus einem Menschen einen Gott macht. Das ist das wahre Gesicht des Okkultismus. Es ist kein Streben nach Macht, es ist die zeitalterlange Reise, auf der sich der spirituelle Samen, der der Mensch ist, entfaltet.