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Der wichtigste Schlüssel

In den Schriften und Überlieferungen des Altertums findet man zahlreiche und umfassende Berichte, daß einst himmlische Wesen unter den Menschen lebten und uns lehrten, wie wir miteinander und mit der Natur in Harmonie leben können. Als Menschenrasse waren wir damals jung, sehr jung und eben erst den Schalen unserer Unschuld entschlüpft, und eifrig bemüht zu lernen, wie wir unsere neuerwachten Kräfte des Denkens, des freien Willens und der Entscheidung gebrauchen können. Bald zeigte sich jedoch, wie zweischneidig diese Fähigkeiten waren, unsere rein irdischen Eigenschaften wollten über die edleren Seelenregungen dominieren. Das wirkte sich natürlich nachteilig aus und hemmte nicht nur unseren Fortschritt, sondern auch die natürliche Verbindung zwischen den göttlichen Lehrern und uns.

Das war eine unumgängliche Phase unseres Reifeprozesses, ein Teil des Preises, den wir für unsere Fähigkeit, denken und entscheiden zu können, entrichten mußten. Obwohl wir uns durch unser eigensinniges und selbstzerstörerisches Verhalten immer weiter von jenen höheren Wesen entfremdeten, erkannten diese in ihrer göttlichen Fürsorge, daß wir, um einmal selbständige Götter werden zu können, uns durch eigene Anstrengung entwickeln und gegen falsches Handeln selbst widerstandsfähig machen mußten. Sie waren weise und ließen uns deshalb allein; jedoch erst, nachdem sie die heiligen Wahrheiten tief in das Bewußtsein der neuen Menschheit mit solcher Kraft eingeprägt hatten, daß sie nie ganz in Vergessenheit geraten konnten. Ihre Sorge für unser inneres Wohlergehen ging so weit, daß sie einige würdige Träger als Hüter über das gesamte Wissen auswählten. Alle künftigen Heilande, Avatâras, Buddhas und Rishis (Weise) können daraus schöpfen.

Aus diesem Grunde setzen sich auch die Götter, die wir einst so gering schätzten, immer dann, wenn die Sehnsucht in den Herzen der Menschen überwältigend stark ist, für uns ein: Ein weiterer Wohltäter inkarniert unter uns, der die alten Feuer erneut entzündet. Dieses dringende Verlangen hat in vielen verschiedenen Epochen Marksteine im Schicksal der Menschen und Nationen gesetzt. Auch heute noch können wir frischen Mut und verstärkten Glauben erhalten, wenn wir den Spuren folgen, die sie uns hinterlassen haben. Das können edle Vorbilder sein, wie die erleuchteten Weisen; Lehren, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden; oder auch Mythen, Legenden, Geschichten, heilige Überlieferungen, die erzählt und wiedererzählt wurden.

Unter den vielen Themen, die von Dichtern und Sehern in Gesänge gekleidet wurden, spielt der Tod und seine Bedeutung eine überraschend große Rolle. Eigentlich ist es gar nicht so überraschend, denn es gibt wohl keinen Menschen, der nicht vom Gedanken an den Tod, und daß er uns gewiß ist, bewegt wird. Noch mehr beeindruckt uns der große Einfluß, den er nicht nur auf die Lebenden ausübt, sondern auch auf die Dahingeschiedenen, die eine Reise ins Unbekannte antreten müssen, um dem gegenüberzutreten, was sie aus sich gemacht haben. Alle Völker haben ihr Fegefeuer, ihren Himmel und ihre Hölle von unterschiedlicher Dauer und Eigenschaft, die der in der Seele herrschenden Wahrhaftigkeit oder Falschheit entsprechen.

Sonderbarerweise sprach keiner dieser Zeugen davon, daß der Tod das Leben beendet, sondern immer nur davon, daß er es erweitert und eine weitere Phase oder eine neue Seite des sich entfaltenden Dramas der menschlichen Erfahrung ist. Wenn sich der Vorhang eine Zeitlang über das irdische Leben herabsenkt, verändert sich lediglich die Szene. Der Prozeß des Aussäens wird nicht mehr fortgesetzt; statt dessen erfolgt nun eine Abrechnung. Die Seele steht unverhüllt vor ihrem eigenen Tribunal. Sie sieht und erkennt alles, ohne jegliche Vernebelung.

Es wurde gelehrt: Um das Geheimnis des Sterbens zu erfahren, muß man das Geheimnis des Lebens kennen. Die eindrucksvolle Geschichte von Naciketas verdient, in Erinnerung gebracht zu werden. Es handelt sich um eine alte Erzählung, deren ursprüngliche Form schon im Rig-Veda zu finden ist, in der Kathaka-Upanishad jedoch ausführlicher dargestellt wird. Es ist eine kleine Abhandlung, die in zahlreiche Sprachen übertragen wurde und dazu dient, uns viele Wahrheiten ins Gedächtnis zu rufen, nicht zuletzt die, daß der dem Menschen innewohnende Geist, der Âtman, nie geboren wurde und daher nie aufhören kann zu existieren.

Vor Tausenden von Jahren bemerkte in Indien Naciketas, ein brahmanischer Junge, der von Glaubenseifer erfüllt war, daß sein Vater bei einem bestimmten Opferfest, bei dem aller Besitz geopfert werden sollte, mit seiner Opfergabe geizte, - er gab nur ein paar abgemagerte, dürre Kühe anstatt junger, kräftiger Milchkühe - und der Junge war sehr betrübt. Er forderte seinen Vater auf, etwas zu opfern, was er sicher am meisten liebe, seinen Sohn, um so die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung zu beweisen. Dreimal bat er inständig darum. Schließlich sagte der Vater erregt und erzürnt: "Dem Yama (Todesgott) gebe ich Dich."

Das hatte Naciketas nicht erwartet. Er sah jedoch ein, daß das Wort eines Vaters gehalten werden muß und sprach sich mit der damals schon sehr alten Lehre Mut zu: "Wie das Korn reift der Mensch zur Ernte und fällt, und wie das Korn entsteht er wieder neu!" Danach betrat er die Region des Todes, traf aber Yama nicht an und wartete drei Tage lang ohne Nahrung auf ihn. Als der Herr der Unterwelt zurückkehrte und den Jungen entdeckte, gewährte er ihm drei Wünsche; einen für jede Nacht, die er ohne Gastfreundschaft verbringen mußte. Zwei dieser Wünsche waren leicht erfüllbar. Der erste: Bei seiner Rückkehr wollte er seinen Vater in Frieden und ohne Groll vorfinden. Der zweite: Er wollte das Agni- oder Feueropfer erklärt haben, damit er den Fesseln des Todes entfliehen und, über das irdische Elend hinaus, die Himmelswelten betreten könne. Er war ein so gelehriger Schüler, daß diese spezielle Zeremonie später nach ihm benannt wurde.

Der dritte Wunsch gefiel Yama jedoch gar nicht, denn Naciketas wollte darüber belehrt werden, was eigentlich geschieht, wenn ein Mensch stirbt: "Ist er noch" oder "Ist er nicht mehr?" "Darüber herrscht großer Zweifel", sagte Naciketas, und Yama könne ihm besser als jeder andere sagen, wie es nun wirklich sei. Doch Yama zögerte und erwiderte, daß selbst die Götter Zweifel hätten, denn der tiefere Sinn der Sache sei nicht leicht zu ergründen. Naciketas gab nicht nach; wieder lehnte Yama ab und bot dem Jungen alles mögliche an: Elefanten, Gold, Grundbesitz, Kinder und Enkel, die hundert Jahre lang leben würden, liebliche Mädchen - alles was auf Erden schwer zu erlangen ist, würde er gern geben - aber, frage nicht nach dem Tode.

Naciketas war unnachgiebig. All diese angebotenen Dinge schienen ihm vergänglich, bloße Eintagsfliegen, deren Kraft schnell erlahmt. Er wollte das Geheimnis des Todes erforschen, wollte wissen, "Was bei dem großen Dahinscheiden geschieht?" Das, und nur das allein wollte er von Yama wissen.

Damit endet die Einführung dieser gern gelesenen Schrift. Dichter und Philosophen vieler Länder wurden durch sie angeregt, ihre wichtigste Botschaft für ewig festzuhalten: Die göttliche Essenz des Menschen, der Âtman, unterscheidet sich nicht von der gottgleichen Essenz des Universums, Brahman, das "den Raum im Herzen" bewohnt und "dem Kleinsten des Kleinen und dem Größten des Großen" Leben verleiht.

Das Gespräch selbst beginnt damit, daß Yama auf die zwei Wege hinweist, die immer vor uns liegen, und daß man sich entweder für "das Gute oder für das Angenehme" entscheiden muß. Beide Wege erscheinen zwar manchmal gleich, sie sind aber dennoch ganz verschieden. Der eine führt zu Freude, Selbstachtung und Weisheit; der andere zu Sorge, Niedergeschlagenheit und Verwirrung. Unsere Welt ist das Feld der Entscheidung, das Kampffeld unserer Gedanken, Gefühle und Wünsche, auf dem die höheren Impulse in täglichem Widerstreit mit den niederen stehen. Die erkennende Seele muß deshalb alle Ängstlichkeit ablegen und mit reinem Motiv ihre Gedankenkräfte auf das edle Ziel richten. Der Tod selbst ist nur Täuschung, er betrifft nur das Äußere, das Bedingte, die Form. Er hat nichts mit dem innersten Wesen, mit dem, was uranfänglich und von ewiger Dauer ist, zu tun.

Immer wieder erfährt Naciketas, daß der Weg der Selbstbemeisterung schwer und schmal wie die Schneide eines Rasiermessers ist. Die Parabel vom Wagen wird eindrucksvoll herangezogen, um ihn an die Vielfältigkeit der menschlichen Natur zu erinnern: Sie ist nicht nur dual, sondern enthält auch Abstufungen in ihren Eigenschaften und Möglichkeiten - angefangen mit Âtman, dem Wagenbesitzer, über Buddhi oder die erleuchtete Intelligenz, zum in zwei Richtungen tätigen Denkprinzip, bis hinunter zu den Begierden (Rosse) und den Prânas oder Lebenskräften, die durch die Sinne und Organe des Körpers, der der Wagen ist, wirken und ihn beleben.

Wird Naciketas die Antwort auf seine Frage, ob ein Mensch, nachdem er gestorben ist, "ist" oder "nicht ist" begreifen? Wenn er unter dem Menschen seinen Körper, seine Lebenskraft oder auch sein Denkprinzip versteht, dann wird er erkennen, daß er "nicht ist." Ist für ihn der 'Mensch' aber das unsterbliche Selbst, der Atman, dann weiß er, daß er "ist", ohne Anfang und ohne Ende. Daher ist für Furcht kein Platz, wenn der Körper dahinscheidet, denn der Wissende, der Erfahrungsammelnde im Innern, ist Herr des Vergangenen und Künftigen. Weil wir Sonne, Erde, Stern und Blitz, die Elemente und die Naturreiche - ja auch unsere Mitmenschen - als etwas von uns Getrenntes betrachten, deshalb haben wir Unordnung und Leid. Alles als verschiedene und doch miteinander verbundene Aspekte des Einen anzusehen, bringt der erleuchteten Seele Harmonie und Frieden.

Es bedarf vieler Wiedergeburten, deren Bedingungen streng den Qualitäten unserer früheren Gedanken und Handlungen entsprechen, bis wir unsere geistige Einheit bewußt erkennen. Das strahlende Licht der Göttlichkeit aber ist: transzendent, weil es jenseits unserer physischen und geistigen Beschränkung ist; immanent, weil es der innerste Kern jeder individuellen Wesenheit in den unermeßlichen Tiefen der Unendlichkeit ist. Naciketas wird aber auch gelehrt, daß eine solche Vereinigung oder essentielle Identität weder durch den Verstand noch durch Belehrung (aus den Veden oder anderen formellen Lehren) noch durch Zuhören erlangt wird, "sondern nur durch einen, den das Selbst erwählt." Diese Feststellung ist zunächst unverständlich, aber dann sehr vielsagend, wenn wir uns vorstellen, daß der Âtman, "obwohl er in allen Wesen verborgen ist", sich nicht zeigt, außer bei jenen, deren erweckte visionäre Kraft und verstärkte Intuition imstande sind, ihn zu erkennen. Kurz, die Erleuchtung erfolgt spontan, wenn sich das Licht des inneren Gottes mit dem Strahlenglanz der strebenden Seele vereint.

Während Naciketas von Yama lernt, was bei dem "großen Dahinscheiden" ist und nicht ist, erfaßt er das Geheimnis des echten Yoga, die wirkliche Vereinigung des Selbst mit dem Selbst. Und jeder andere, so wird versichert, wird gleichermaßen Erfolg haben, wenn er sich entschlossen vom Hemmschuh der egoistischen Lebensweise befreit und den Weg zur Weisheit wählt.

So kann man in dieser kurzen Abhandlung einige jener wichtigsten Schlüssel erkennen, die zu einem Verständnis des Menschen und seiner Rolle in dieser unruhigen Welt führen. Es werden hier keine detaillierten Formeln gegeben, die die zermürbenden Zeitprobleme lösen, aber etwas anderes, das schwer zu definieren und dennoch sicher ist: Eine unermeßliche Gewißheit, daß unsere Anwesenheit hier auf der Erde ein Teil des großen kosmischen Planes ist, in dem unser individuelles Wachstum und unser künftiger Fortschritt unauflöslich mit dem Schicksal jener Planeten- und Sonnengötter verbunden ist, die zurückblieben, um uns zu helfen und uns für unseren Weg nach oben zu inspirieren.

Mehr denn je ist Naciketas gewillt, sein Leben freimütig um des Prinzipes willen hinzugeben, das dem Menschen innere Herrlichkeit verleiht. Ein Glanz, der den Lehren jeder heiligen Schrift, ob sie nun aus dem Altertum oder der Neuzeit stammt, bei weitem überlegen ist.