Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Der neue Stern

Vor genau vierhundert Jahren ging Tycho Brahe, der berühmte dänische Astronom, an einem späten Novemberabend nach Hause. Er wurde von seinen Dienern begleitet, wie es sich für einen Edelmann jener Zeit geziemte. Als er einen flüchtigen Blick zum Himmel hinauf richtete, entdeckte er in der Konstellation der Kassiopeia ein ungewohntes glänzendes Licht. Ungläubig und aufgeregt wandte er sich an seine Diener und fragte sie, ob sie es auch sehen könnten. Es ist leicht, sich die Szene vorzustellen: Die dunkle Landstraße, hoch oben über ihnen die klare, kalte Winternacht, die kleine schweigsame Gruppe, die plötzlich halt machte und, bestürzt und regungslos, ehrfürchtig emporblickte. Sie nickten, ja, dort war ein großer Stern, mit einer Leuchtkraft, wie sie sie nie zuvor gesehen hatten. Was konnte das bedeuten? Was für ein Unheil kündete sich an?

Tycho nahm sich nicht viel Zeit, ihnen zu antworten - er wollte schnell nach Hause, zu seinen Instrumenten. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, ein wenig später bei einem am Wege wohnenden Bauern anzuhalten, um diesen als an solchen Dingen uninteressierten Beobachter zu befragen. Doch auch dieser Mann stimmte überrascht zu: Ja, dort war tatsächlich ein außerordentlich heller Stern.

Zu Hause nahm Tycho Brahe Sternhöhenmesser und Sextant und schrieb die Meßergebnisse auf. Er arbeitete die restliche Nacht hindurch, bis der Morgen graute. Wahrscheinlich hat er den ganzen nächsten Tag ängstlich gewartet: Würde sich die gleiche Erscheinung am Abend wieder zeigen? Und wird sie dieselbe Stellung einnehmen? Sie war wieder da, und zwar an der gleichen Stelle. Der "neue Stern" verblieb am Himmel und war tatsächlich fast zwei Jahre lang sichtbar. Dann veränderte er nach und nach seine Farbe, bis er 1574 dem Blickfeld entschwand.

Natürlich war Tycho überzeugt, daß andere den neuen Stern auch gesehen haben mußten - irgend jemand hatte bestimmt diese ungewöhnliche Erscheinung beobachtet. Doch kein Wort kam in den darauffolgenden Wochen und Monaten von anderen Beobachtern der Sterne. Schließlich konnte er nicht mehr länger an sich halten, und bei der ersten Gelegenheit fragte er einige Bekannte, deren Urteil er vertraute. Einer von ihnen war Johannes Pratensis, Professor in Kopenhagen, und ein anderer der französische Gesandte am dänischen Hofe. Obgleich sich beide für Astronomie interessierten, hatte keiner von ihnen diese Neuerscheinung am Himmel bemerkt. Als Tycho Brahe sie darauf aufmerksam machte, sahen sie sie natürlich auch und konnten es kaum glauben, daß der Stern ihrer Aufmerksamkeit bisher entgangen war.

Heute wissen wir, daß Tycho Brahes neuer Stern in Wirklichkeit eine Supernova, ein explodierender Stern, war. Eine Masse von unvorstellbarer Dichte hatte das Zentrum oder den Kern des Sternes mit den dicht zusammengedrängten Atomkernen verlassen und dadurch eine Störung von kosmischem Ausmaß verursacht. Doch wir wollen uns nicht mit der astronomischen Bedeutung dieser Entdeckung des sechzehnten Jahrhunderts beschäftigen, so fesselnd diese auch sein mag.

Es gibt noch einen anderen Aspekt dieser Geschichte, der zumindest ebenso interessant ist. Dr. J. H. van den Berg, Professor für Psychologie an der Universität Leiden in Holland, betrachtet dieses Ereignis als eine Illustration für den Beginn konsequenter wissenschaftlicher Beobachtungen in der westlichen Welt, und zwar nicht nur in bezug auf Astronomie, sondern auch auf anderen Gebieten, wie der Medizin.1 Vor allem hob er hervor, daß nicht nur die meisten Astronomen jener Zeit eine so auffallende Erscheinung am Himmel nicht bemerkten, sondern daß auch Tycho Brahe selbst seinen eigenen Sinnen nicht traute und immer wieder andere auf die Erscheinung aufmerksam machte und sie befragte. Diese systematisch forschende und wißbegierige Methode, zu beobachten, und die sorgfältigen, umfassenden Aufzeichnungen waren nicht ohne Bedeutung und bildeten später ein wertvolles Vermächtnis für Kepler und andere. Damit hatte ein neues und beherztes Studium der uns umgebenden Welt angefangen. Tychos Folgerungen und Beweisführungen gingen jedoch noch oft in die Irre. Vor allen Dingen, weil er sich von der damals allgemein angenommenen geozentrischen Theorie nicht frei machen konnte.

Um die volle Bedeutung der "Nova" begreifen zu können, müssen wir das ganze Ereignis vom Gesichtspunkt der damaligen Zeit und des damaligen Denkens aus sehen und uns vergegenwärtigen, daß zu jener Zeit die Sterne als feststehend und ewig unveränderlich betrachtet wurden. Es war eine Ära, in der Tycho Brahe sich selbst und anderen beweisen mußte, daß dieser besondere Stern weiter entfernt war als der Mond! Im Lichte unserer heutigen Zeit, mit ihren stolzen wissenschaftlichen Errungenschaften, erscheinen das Wissen und die Begriffe jener Zeit recht primitiv und fremd. Doch wir sind mit den Begrenzungen der Vergangenheit viel mehr verkettet, als wir annehmen, und arbeiten im Prinzip immer noch mit den gleichen Beschränkungen - und werden das bis zu einem gewissen Grade auch immer tun.

Richtiges Beobachten, aufmerksames und sorgfältiges Lesen und Aufzeichnen der Sinneswahrnehmungen und sachliche Interpretation, das sind die Haupterfordernisse, um zuverlässiges Wissen zu erlangen. Das erste Erfordernis, die bloße Aufnahme von Sinneseindrücken, ist am wenigsten der Täuschung unterworfen, obgleich unsere Sinne nur einige wenige Frequenzbereiche auf dem endlosen Band von Schwingungen, die im Kosmos existieren, wahrnehmen können.

Die Schwierigkeiten beginnen jedoch auf der nächsten Stufe, dem ganz und gar mentalen Vorgang. Wenn wir spontan sagen, daß unsere Augen uns getäuscht haben, dann meinen wir in Wirklichkeit, daß die angekommenen Signale irgendwo in unserem Gemüt falsch ausgelegt wurden. Wenn ein Korrekturleser in dem Schriftstück, das er prüft, einen klaren Fehler übersieht, dann sehen seine Augen deutlich das falsch geschriebene Wort und senden ihre Beobachtung an das Gehirn - aber dort wartet die Erinnerung an das übliche Bild des richtig geschriebenen Wortes nur zu begierig darauf, daß ihr erlaubt wird, in einem Augenblick, wo die Aufmerksamkeit nachläßt, den falschen Sinneseindruck zu verdrängen. Es gibt tausende solcher Beispiele. Wir können in einem ruhigen Zimmer sitzen und hören das Summen der Glühbirne oder das dumpfe Nebelhorn draußen auf dem Ozean nicht, bis diese Töne aus dem einen oder anderen Grund bis zu unserem Bewußtsein vordringen und wir sie wahrnehmen. So achten wir in der Regel nur teilweise aufmerksam auf das, was unsere Sinne aufnehmen. Unsere gewohnte alltägliche Umgebung lullt uns leicht in "Schlaf."

Dieser Mangel, alles unbeschränkt zur Kenntnis zu nehmen, ist jedoch gleichzeitig auch sehr vorteilhaft. Würden wir uns jeder Einzelheit um uns vollkommen bewußt, so würden wir buchstäblich in einem Meer von Eindrücken ertrinken. Es ist eine lebensrettende Einrichtung, daß wir in der Lage sind, gegen die überwältigende Menge von Bildern und Tönen unser "Gemüt abzuschließen" und nur jene auszuwählen, die im Augenblick interessant sind. Fast automatisch und ohne Mühe entscheiden wir, wohin unsere Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. So sehen und hören wir in Wirklichkeit nur das, was wir sehen und hören wollen, was wir erwarten und worauf wir geschult sind, und schließen alles andere aus. Dabei setzen wir voraus, daß gewohnheitsmäßige Angelegenheiten stetig und unverändert bleiben, wie es die Zeitgenossen Tycho Brahes in bezug auf die Stellung der Gestirne zueinander auch annahmen. Doch gerade in diesen "exklusiven" und wenig beachteten Regionen erscheinen auf einmal unerwartet neue Sterne.

In den Wissenschaften, die direkt oder indirekt auf die Beobachtungen durch die Sinne angewiesen sind, wobei logisches Schlußfolgern durchaus mit eingeschlossen sein mag, wurde dieser Kampf mit vielversprechendem Erfolg ausgefochten. Durch methodisches Forschen und mit verfeinerten Instrumenten wurde die kaum merklichste Veränderung, das geringste Anzeichen einer Abnormität oder einer Abschweifung von der Regel aufgezeichnet, und oft kam es dabei zu ganz neuen Perspektiven. Manche größere Entdeckung wurde gemacht, weil irgend jemand eine Diskrepanz bemerkte oder ein alltägliches Ereignis mit neuen Augen betrachtete und dadurch sah, anstatt kurzsichtig durch veraltete Linsen zu schauen.

Die wichtigste Phase beginnt, als die Instrumente erfunden und verfeinert worden waren, nachdem die Beobachtungen gemacht, geprüft und die Tatsachen gesammelt waren - obgleich sich diese verschiedenen Phasen natürlich oft überschneiden. Die neuen Entdeckungen müssen nun gedeutet und mit dem bereits existierenden Gesamtwissen in Zusammenhang gebracht werden. Manchmal werden die alten Ideen bekräftigt, während sie ein andermal zu einer vollkommenen Neubildung eines altgewohnten Weltbildes führen und eine Veränderung wissenschaftlicher Begriffe und philosophischer Auffassungen erzwingen. Solch ein drastischer Wandel in den Ansichten fand zum Beispiel bald nach der Zeit Tycho Brahes statt.

Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß wir auch heute wieder einen Punkt erreicht haben, an dem unsere philosophische Weltbetrachtung sich jäh erweitert und wo die Wirksamkeit und der Wert bestimmter Standardhypothesen einen Punkt der Stabilität erreicht haben, die nicht notwendigerweise aufgegeben, sondern nur in die größeren Bereiche der menschlichen Erfahrung eingefügt werden müssen. Die Zeichen dieses sich weitenden Wahrnehmungsvermögens konnten wir in den ernsthaften und wagemutigen Erforschungen des Raumes sehen, in der Erkenntnis des entscheidenden ökologischen Gleichgewichts auf Erden und auch darin, daß man die subtilen Kräfte im Menschen und die Kraftfelder, in denen er sich bewegt, achtsam studiert. Es ist kaum zu bezweifeln, daß wir wieder einmal die Fesseln des Denkens, die wir lange genug getragen haben, abwerfen und nach einem größeren Bewußtseinskreis streben. Diese neue geistige Aufgeschlossenheit erlaubt uns, frische Ideen und Entdeckungen gern anzunehmen. Sie fordert uns aber auch gleichzeitig auf, zurückzublicken und die alten 'Tatsachen' und ihre Erklärungen neu auszuwerten.

Nach und nach kommt man immer mehr zu der Überzeugung, daß sich für den Menschen in der Gesamtheit seines Wesens die höchsten Möglichkeiten über den ganzen Kosmos erstrecken, und daß er in einem inneren und sehr realen Sinne zutiefst in der erhabenen Struktur des Kosmos verwurzelt ist. In engem symbiotischen Verwandtschaftsverhältnis ernährt ihn das Universum, während er seinerseits das Universum speist - physisch, psychologisch und spirituell. Und das gleiche Prinzip gilt ganz offensichtlich für alle Lebenssysteme.

Mit dieser erweiterten Einstellung zu den neuen Begriffen sollten wir uns das Universum nicht länger nur als ein Konglomerat oder eine systematische Anordnung sichtbarer Sterne und Planeten vorstellen, und auch den Menschen sollten wir uns nicht nur als physiologische Ansammlung von Zellen vorstellen, sondern vielmehr als pulsierenden Ausdruck von Leben und Bewußtsein. Elektron und Kristall, Sonnensystem und Milchstraße sollten als verdichtete Energie, als Körper betrachtet werden, die es ermöglichen, daß eine Flamme des Bewußtseins in diesem unermeßlichen und doch begrenzten Schwingungsfeld Erfahrungen sammelt. Für uns ist es selbstverständlich, daß in unserer komplizierten und wunderbaren Welt jeder Lebensfunke, ob groß oder klein, seine Einheit eine Weile zusammenhält und daß, wenn seine Zeit zu Ende ist, - ob im Bruchteil einer Sekunde oder nach millionen Jahren - die Einheit in ihre kleineren Teile zerfällt, aus denen sie zusammengesetzt ist. Aber vielleicht werden wir in den kommenden Jahren erkennen, daß dadurch das spirituelle Feuer, das einen Körper belebte, befreit wird, um, wie ein Komet, in immer größer werdenden Kreisläufen in andere Energiefelder zu reisen - in Ebenen mit anderen Schwingungszahlen, die wir augenblicklich überhaupt nicht wahrnehmen.

Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, daß wir im nächsten Jahrhundert oder in zweihundert Jahren nicht mehr die Anschauung haben, der Mensch sei ein Zufallsprodukt der Natur, ein Fremdling in einem gleichgültigen Kosmos. Wir werden dann im Innersten überzeugt sein, daß wir an Abenteuern des Bewußtseins teilnehmen, die weit über unser Dasein in einem Leben hinausreichen und daß wir, obwohl wir ein Kind der Erde sind, in unserer innersten Essenz im Universum unsere Heimat haben. Im Kreislauf des Wachstums werden wir immer wieder durch magnetische Anziehung hierher in das Schwingungsfeld unserer Erde "eingefangen", bis wir als Teil der Menschheit und als Teil der Erde unsere volle Verantwortlichkeit auf uns nehmen und alles gelernt haben, was das Leben hier bieten kann. Es braucht wohl nicht erwähnt zu werden, daß wir von diesem Punkt noch weit entfernt sind!

Der angeborene Wunsch nach Erkenntnis wird uns immer vorwärts drängen, denn wenn wir heute auch wissen, wie die Dinge wirken, so haben wir dennoch das Verlangen, das Warum der Dinge zu verstehen; trotz aller intellektuellen Erklärungen über die Formen des Lebens möchten wir doch auch im Herzen gern Aufschluß über die innerste Essenz und Ursache des Lebens haben. Das ist die ewige Frage, die der Mensch hat, die ihn beständig vorwärtstreibt, die vielen und verschiedenartigen "Welten" zu erforschen, bis er schließlich erkennt und sich daran erinnert, wo sein wahrer Ursprung liegt. Jedesmal, wenn sich unsere Perspektive etwas erweitert, "wachen" wir ein wenig mehr auf; und immer wird es einige wenige geben, die zu fragen wagen und sich weigern, die jeweils vertrauten Begriffe über den Menschen und den Kosmos - nur weil sie scheinbar so sind, wie wir sie augenblicklich sehen - für alle Ewigkeit als unveränderlich feststehend anzunehmen.

Inzwischen werden wir jedoch alle im Verlauf der Tage, Jahre und Leben, als Individuen in dem Maße, wie sich unser Bereich des Wahrnehmens und Verstehens weitet, einen begrenzenden Kreis nach dem andern überschreiten, der aus vorgefaßten Meinungen des Verstandes und Herzens besteht, und immer, wenn ein solcher Durchbruch in unserem menschlichen Leben erfolgt und wir einen weiteren Schritt vorwärts machen, werden wir bei der Betrachtung des Himmels, inmitten des wohlbekannten Bildes von Lichtern, eine weitere "Nova", einen glänzenden, neuen Stern sehen, der uns den Weg unserer Bestimmung zeigt, zu unserer spirituellen Heimat.

Fußnoten

1. In Het Menselijk Lichaam, een metabletisch onderzoek ("Der menschliche Körper, eine metabletische Untersuchung"), G. F. Callenbach N. V., Nijkerk, Holland, 1962. [back]