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Unser angeborener Besitz

So groß unsere Erkenntnis über den äußeren Organismus auch sein mag, wie wenig wissen wir doch vom inneren Wesen; so sehr wir uns auch nach einer besseren Zukunft sehnen, wie wenig wissen wir doch über uns selbst und über die großen inneren Reichtümer, aus welchen die wunderbaren Impulse entspringen, die den Menschen veredeln.

In unserer Leserspalte veröffentlichen wir einen Brief, den wir kürzlich von einem jungen Universitätsstudenten erhielten, der sich mit dem Wesen der Gedanken und dem sich daraus ergebenden Einfluß auf unser Handeln befaßt. Seine Untersuchungen gehen jedoch über das Übliche hinaus, denn er stellt die Frage, ob es nicht ein Reservoir gibt, irgendeine zentrale Quelle, aus der Menschen, die dafür aufgeschlossen und aufnahmebereit sind, bestimmte Ideen abrufen können.

Dieser junge Mann ist nur einer von vielen Tausenden aller Altersschichten, die ernsthaft nach der Bedeutung und dem Zusammenhang zwischen ihrem täglichen Verhalten und dem Verhalten von Erde und Weltall suchen, deren zyklische Bewegungen in und durch die Tiefen des Raumes für uns Menschen genauso lebenswichtig sind, wie unser eigener Rhythmus von Tod und Geburt. Hinter der Ablehnung des Althergebrachten wächst mehr und mehr ein Gefühl der Verantwortung, eine fundiertere Ethik, die ihre Wurzeln im innersten Wesen des Menschen hat. Weil aber das Wissen über die zusammengesetzte Natur des Menschen und seine enge Verbindung mit der vielfältigen Natur des Kosmos so gering ist, besteht gleicherweise ein wachsendes Bedürfnis nach einer Philosophie, die sowohl der genauen Prüfung durch den Verstand als auch dem Prüfstein des Herzens standhält.

Wer ist der Mensch, daß er so zwiespältig ist? Ein Teil von ihm ist mit der Erhabenheit der Gestirne verwandt und der andere ist so hochmütig und selbstsüchtig. Wie soll er seine Gedanken kontrollieren, wenn er sein Ziel und was ihm bestimmt ist, so wenig kennt? Woher stammen die Ideen, von denen manche Verwunderung und Schönes vermitteln, während andere Schrecken und Verzweiflung bringen? Was ist das Gedächtnis und wo ist die Erfahrung unterzubringen, wenn wir viele Male gelebt haben und auf die Felder der Erde Weizen wie Unkraut gesät haben?

Das alles sind Themen, die der Anregung dienen sollen und Sunrise hat keineswegs die Absicht, sie definitiv zu behandeln. Und dennoch gehört es zu unserem Aufgabenbereich, aus dem reichen Schatz theosophischer Weisheit jene Ideale und Prinzipien herauszudestillieren, die nicht nur auf die religiösen und philosophischen Anschauungen der Vergangenheit und Gegenwart Licht werfen, sondern die hauptsächlich die Frage behandeln, wie man heute schöpferischer zu leben vermag. Keiner von uns kann sich von dem allgemeinen Strom der Menschheit gedanklich oder gefühlsmäßig trennen. Wir können uns auch nicht von der Erde, die selbst ein Lebewesen ist, trennen, denn unser Denken beeinflußt nicht nur unsere unmittelbare Umgebung, sondern, wie der Dichter sagte, ein Stern reagiert sogar auf die Berührung eines Gedankens. Da dieses Thema für uns alle von großer Wichtigkeit ist, drucken wir in dieser Ausgabe auch die wertvollen Überlegungen von James A. Long ab. (Siehe "Die Gedanken und ihr Einfluß".)

Seit Millionen Jahren dachten, träumten, lebten und starben wir auf diesem Planeten, wobei wir immer wieder Gedanken jeder Art aus der Atmosphäre der Erde empfingen und in sie hinaussandten. Wenn es stimmt, daß nicht einmal ein Elektron vernichtet werden kann, wieviel mehr muß das dann für die unsichtbare Welt der Gedanken gelten, für das Reich, aus dem die Energien für die Ideen entspringen, die jede Lebensform der Erde inspirieren.

Es heißt, daß unser Gehirn selbst den geringsten Gedanken, kleinste Gefühle und Impulse registriert, die wir während unseres Lebens äußern; auch dann, wenn wir uns an eine Erfahrung oder an ein Geschehen gar nicht mehr erinnern, rollt die exakte Aufzeichnung wie ein Film wieder vor uns ab, wenn der richtige Kontakt sich schließt. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was unsere Erde auf den inneren Ebenen ihres Seins alles aufgezeichnet haben muß, in den subtileren Formen ihrer Substanz, die unseren physischen Globus umgeben, und die in der Tat die astrale Matrix sind, nach der er sich formierte. Und da allen Dingen, die sich entwickeln, Bewegung und Energie zugrunde liegen, muß zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Erde, unumgänglich ein ständiger Gedankenaustausch hin und her stattfinden. Wenn man dies mit den vielen Tausenden von Inkarnationen multipliziert, die jeder der zwei oder drei Milliarden heute lebender Menschen erlebt hat, seit wir das erste Mal auf diesem Globus erschienen, würde man mehr als einen der üblichen Computer benötigen, um die immense Ansammlung von Gedankenenergien genau zu erfassen, die seit ungezählten Jahrtausenden in Umlauf sind.

Erzeugt die astrale Substanz unserer Erde nur die niederen Qualitäten des menschlichen Verhaltens? Oder gibt es eine höhere Quelle, ein inneres Reservoir der Weisheit, auf das der Mensch zurückgreifen kann, so daß er nicht für immer den herrenlosen Gedankenkindern ausgeliefert ist, die durch sein Gemüt ein- und ausströmen? Wir glauben, daß es so ist und daß der Mensch im Endergebnis ein Wissender, ein Denker, eine schöpferische Intelligenz ist, die sowohl der Architekt des Universums als auch die Quelle des eigenen göttlichen Kerns des Menschen ist.

Äschylos schrieb ein Drama über den Mythos des Prometheus, - den Mythos der göttlichen Voraussicht - der die latente Glut des Geistes in der frühen Menschheit zur Flamme entfachte, damit hinfort die Menschenrasse sich dessen bewußt sei, wem sie gleicht, daß sie nämlich gottähnliche Wesenheiten sind, die zeitweilig in Tempeln aus Materie eingeschlossen wurden, damit sie auf jeder Stufe der Lebenshierarchie Erfahrungen aus erster Hand sammeln können, um das große Ziel zu erreichen. In den indischen Purânen wird diese Tat des Prometheus durch die Mânasaputras, die Söhne des Gemüts, vollbracht; Wesen, die ebenfalls göttlicher Abstammung sind, und die für das gleiche wunderbare Ziel ihre feurige Essenz mit dem frühen Menschen verbanden. In der Genesis bestätigt der Bericht von der Schlange - kein Versucher, sondern in Wahrheit ein Erleuchteter, im Sinne des lateinischen Wortes Luzifer - die ursprüngliche Erweckung des Menschen durch die Aufforderung, durch seinen eigenen Willen und mit intelligenter Anstrengung, den Satan oder 'Widersacher' in sich zu transformieren.

Doch welche Bedeutung hat das alles? Welche Verbindung besteht wohl zwischen der Tat des Prometheus vor vielen Millionen Jahren und unserem Leben heute? Es gibt wirklich einen engen Zusammenhang mit unserem heutigen Verlangen, denn wenn wir wirklich überzeugt sind, daß wir in uns eine Quelle höherer Kraft haben, ein Reservoir der Weisheit, das wir in Anspruch nehmen können, - vorausgesetzt, daß wir es mit selbstlosem Motiv erstreben - dann würden wir wissen, daß wir trotz aller Widerstände in uns die Kraft und die Möglichkeit haben, unseren Weg zu wählen. Wenn es sich mit der Zeit erweist, daß unsere Wahl richtig war, sind wir inzwischen nicht nur selbst vorangeschritten, sondern haben auch den Mut der anderen bestärkt, denn daß alle Menschen eine Einheit bilden ist und bleibt eine Tatsache. War unsere Entscheidung falsch oder unzeitgemäß, dann werden die Ergebnisse bald die Schwächen aufzeigen und wir können unseren Irrtum berichtigen. Kein Entschluß ist unkorrigierbar, wenn das Motiv gut war.

Platon läßt in mehreren seiner Dialoge Sokrates den jungen Freunden seine Lieblingslehre auslegen: Alles "Wissen ist lediglich Rückerinnerung", womit er die Bemühung meint, unserem Tagesbewußtsein das Wissen wieder zu wecken, das in vergangenen Zeiten tief in die Seele eingeprägt wurde, so wie ein Siegel einen Eindruck in Wachs hinterläßt.

Da nun die Seele unsterblich und viele Male geboren worden ist, und die Dinge hienieden und im Hades und überhaupt alles geschaut hat, so gibt es auch nichts, wovon sie nicht eine Kenntnis erlangt hätte; ... denn da die ganze Natur in verwandtschaftlichem Zusammenhang steht und die Seele von allem Kenntnis bekommen hat, so steht nichts im Wege, daß einer, der sich nur erst an eines erinnert hat, was die Leute dann Lernen nennen, alles übrige selbst auffindet, wenn er sich dabei nur mannhaft hält und des Untersuchens nicht müde wird. - Menon

Evolution und Suche nach Erkenntnis bedeuten einfach: der Psyche - für die alten Griechen das Symbol der menschlichen Seele - zu helfen, das zu erkennen, was ihre Mutter, Nous, die spirituelle Seele, der unsterbliche Wissende im Innern, in den langen Zyklen notwendiger Erfahrung bereits gelernt hat. Doch, wieviele Leben müssen noch vorübergehen, bis wir wirklich fähig sind, unser inneres Wissen in die Erinnerung zurückzurufen.

In Der Staat nennt Platon im zehnten Buch einen weiteren Schlüssel, der sehr wohl die Lösung für unseren inneren Konflikt sein kann; ein Konflikt, der beim Kampf der Seele, sich von der Trägheit der Materie zu lösen und die beherrschenden Fesseln des Verlangens abzuschütteln, entstanden ist. Sokrates hatte Glaukon von den wunderbaren Abenteuern des Helden Er erzählt, dessen Seele, als er vermeintlich tot auf dem Schlachtfeld lag, "seinen Körper verließ und zwölf Tage lang auf eine Reise ging" und aus erster Hand lernte, was zwischen Tod und Wiedergeburt vor sich geht. Es ist eine lange, faszinierende Geschichte, die im einzelnen von der Reise der Seelen in die Unterwelt berichtet, wo sie zur Läuterung und Beurteilung verweilen, denn das Gedächtnis der Natur hat jeden Gedanken und jede Tat aufgezeichnet und jeder wird seinem Verdienst entsprechend beurteilt. Für diejenigen, die es verdienen, erfolgt dann der Aufstieg in die höheren Welten und die Erholung auf den Inseln der Seligen.

Uns interessiert dabei die Rückreise, die wir noch geschwind betrachten wollen, wo nun die leuchtenden und geläuterten Seelen, die das Licht gesehen haben, "das die Kreise des Universums" und den Wirbel der Sterne, der Sonne und der Planeten zusammenhält, sich um die strengen Töchter der Notwendigkeit versammeln - um die drei Moiren oder Spinnerinnen des Schicksals, die in ihren Händen die Schicksalsfäden der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft halten und weben.

Alsbald verkündet ein Prophet, der als Interpret fungiert, den zurückkehrenden Seelen, daß "ein neuer Kreislauf des Lebens und des Sterbens" bevorsteht und daß jeder sein eigenes Los erwählen wird, "und das Leben, das er wählt, soll sein Schicksal sein." Er ermahnt sie, gebührende Selbstbeherrschung zu üben:

Die Tugend ist frei, von ihr erhält ein jeder mehr oder weniger, je nachdem er sie in Ehren hält oder vernachlässigt; die Verantwortung liegt bei dem, der wählt...; auch den, der zuletzt kommt, aber mit Vernunft wählt und mit Anstrengung aller Kräfte der Tugend lebt, erwartet ein Leben, mit dem er zufrieden sein kann und das nicht schlecht ist. Darum sei weder der erste bei der Wahl unachtsam noch lasse der letzte seinen Mut sinken.

Die Arten der auszuwählenden Lebensweise, von denen es weit mehr gab als Anwesende, wurden ihnen dann vorgestellt und jeder wählte nach seinen natürlichen Neigungen: die Lebensweise der Tyrannen wurde sofort von denen ergriffen, die die Macht lieben; die der Eitelkeit von törichten Frauen, und jene Lebensweise, die Opfermut und Seelenstärke verlangt von solchen, deren Charakter durch früheres Erleben von Not und Widrigkeiten ein gewisses Maß an Weisheit gewonnen hatte.

Danach schritten die Seelen vor die drei Spinnerinnen des Schicksals, die die Wahl besiegelten und jedem seinen besonderen Genius mitgaben, der "der Beschützer ihres Lebens" sein würde. Sie kamen dann durch furchtbare Hitze auf das Feld der Vergessenheit, - Lethe - wo sie nach schon angebrochenem Abend ihr Lager am Fluß Sorgenlos errichteten, aus dem "alle ein bestimmtes Quantum trinken mußten; die aber durch Vernunft sich nicht wahren ließen, tranken über jenes Maß; und sobald einer daraus trinke, vergesse er alles." Schließlich, nach einer kurzen Ruhe, erhob sich um Mitternacht ein Ungewitter und ein Erdbeben, und blitzschnell seien dann alle Seelen "wie Sternschnuppen, die eine hierhin, die andere dorthin getrieben worden, um ins Leben zu treten." Da Er selbst nicht von den Wassern Lethes trank, kehrte er in seinen Körper zurück und konnte nach dem Erwachen für die Nachwelt die Kenntnis des Geheimnisses, das er miterlebt hatte, wiedergeben.

Eine Allegorie vom Menschen, dem Pilger. Und der Schlüssel? - der einfache und kurze Satz, daß "jene, die sich durch die Vernunft nicht wahren ließen, mehr als nötig tranken." Das sagt alles. Natürlich müssen wir einen Teil von den Wassern des Vergessens zu uns nehmen, damit wir das Leben mit einer neuen Tafel beginnen können, um die Erfahrungen unseres gegenwärtigen Lebens darauf einzutragen. Wenn wir nicht davon trinken würden, könnte das eine unglaubliche Behinderung sein, nicht nur wegen der Erinnerung an frühere Fehlschläge, sondern gleichermaßen durch die Kenntnis früherer Erfolge, was für das innere Wachstum sogar noch gefährlicher sein könnte. Es gibt jedoch nichts, weshalb wir danach lechzen müßten. Solange unsere Psyche nach den Bezauberungen des rein Irdischen verlangt, anstatt nach der Gesellschaft unseres Nous, solange werden wir mehr als notwendig von Lethes Trank trinken.

Wenn wir das wahre Ziel der Seele vergessen, so bedeutet das letzten Endes nur Selbsttäuschung, denn tief eingraviert in das Gedächtnis unseres Nous - ob wir es als den Wissenden in uns, Prometheus, Luzifer oder als unseren eigenen Mânasaputra bezeichnen - sind jene ursprünglichen Ideen, jene großen Prinzipien der Grundwahrheit, die unser "angeborener Besitz" sind und deren göttlicher Eindruck immer ein Ansporn sein wird, "aus einer einzigen Wiedererinnerung" jene Klarheit der Vision zu beanspruchen, die wahrlich unser ist.