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Poet im Hohen Norden

bild_sunrise_61968_s209_1Es gibt etwas jenseits der Berge, jenseits der Blüten und des Tones.

Etwas jenseits der Sterne, jenseits meines heißen Herzens.

Höre - etwas flüstert, ruft mich und bittet: Komm zu uns, diese Erde ist nicht dein Reich.

- Dan Andersson (1888-1920)

 

 

 

Zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebte in der Landschaft Dalarne ein junger Mann. Er hieß Dan Andersson. Die Macht des Klerus war damals in Schweden sehr groß, und junge Leute hatten es nicht leicht. Dan Andersson verbrachte viel Zeit bei den Holzfällern und Köhlern, die in den ärmeren Waldgebieten wohnten, und nahm dort eine Menge Eindrücke auf. In seinem Innern waren mächtige Kräfte am Werk. Ständig schrieb er Gedichte und suchte nach der tieferen Melodie des Lebens, die er so mächtig in sich selbst verspürte.

Jetzt, fünfundvierzig Jahre nach seinem Tode, werden Bücher über ihn veröffentlicht, und die Menschen fangen an zu begreifen, daß sein Denken etwas dem des modernen Menschen gleicht. Hier ist ein Brief1, einer seiner letzten, an Professor Hans Larsson adressiert und in den Gesammelten Werken von Dan Andersson veröffentlicht:

Gonäs, den 22. Februar 1920

Lieber Professor Larsson!

Verzeihen Sie, daß ich wieder mit Bleistift schreibe. Es kommt daher, weil ich im Bett bin und es Nacht ist. Ich danke Ihnen für Ihre Antwort auf meinen letzten Brief aus Sigtuna. Der Grund, weshalb ich schreibe, liegt darin, daß ich soeben auf ein kleines Werk von Ihnen gestoßen bin "Über Kultur und Selbst-Verbesserung", das ich bisher noch nicht kannte. Ich möchte keine Kritik üben, aber wie ich so dalag, dachte ich darüber nach, daß Sie die Poeten vergessen haben, wenn Sie den Menschen mit den verschiedenen Einstellungen und Berufen, die nach Kultur suchen, Ratschläge geben, was sie lesen sollen. Sie sagen: "Sie sollten lesen, was Sie froh macht." Da begann ich zu überlegen, was ich lesen sollte, was mich ganz und gar froh macht.

Ich habe gerade die Werke von Rabelais mindestens das vierte Mal durchstöbert. Sein Humor macht mich aber nicht froh, obwohl ich seinen Stil genieße. Die Freude, die wir aus der in Spott verhüllten Verbitterung gewinnen, ist nur vorübergehend und läßt ein Vakuum zurück. Ich überlegte auch, was ich empfand, als ich "Königin Gänsefuß" las, - ein kurzes aufflackerndes Entzücken über den Stil - und dann senkte sich wieder Dunkelheit herab. Weiter - am Ende Ihres kleinen Buches - fragte ich mich, welche Bücher mir die meiste Freude machten und mich am meisten zufriedengestellt haben.

Es waren nicht viele, und unter ihnen war nicht Strindberg, aber Dostojewskij. Als ich das erste Mal Raskolnikow las, fand ich es fürchterlich. Ich war damals einundzwanzig. Neun Jahre später - an einem Tag voller Dunkelheit und Seelenschmerz - entdeckte ich das Buch wieder. Ich saß in meinem Stuhl von dem Augenblick an, als ich es öffnete, bis ich es beendigt hatte, länger als einen ganzen Tag. Tränen der Dankbarkeit rannen von Zeit zu Zeit über meine Wangen, und ich erhob mich mit einem Gefühl der Erlösung. Dies und Karamasow sind nicht die Werke eines Menschen, sondern Gottes.

Ich hege große Achtung und Bewunderung für Guy de Maupassants berühmtesten Roman, der von dem Pferd handelt, das angebunden verhungert, eingegraben wird, wo es gestorben ist, und auf dessen Grab das Gras mannshoch wächst. Es bereitet eine gewisse Freude, die Quintessenz des Lebens auf diese Weise zu empfangen. Aber Maupassant macht einen nicht völlig froh: er ist schwarz ohne heilendes Licht.

Über Zola möchte ich nicht einmal reden. Ausgenommen "Germinal", hat er mich noch nicht einmal unterhalten. J. K. Huysmans ist von eigener Art; aber nach seiner Konversion wurde er äußerst langweilig, und ich bin noch nicht einmal durch seine Konversion völlig froh geworden. Weltfremd zu sein macht mich nicht froh. Die Welt, alles sollen wir lieben! Ich will nichts weiter aufzählen, es klingt wie ein Katalog. Über ein Buch habe ich noch nicht gesprochen: Die Bhagavad-Gîtâ. Gerade als ich Ihre Worte las: "Lest alles, was euch völlig froh macht!", dachte ich: ja, tatsächlich, folgt alle diesem Rat, ihr jungen Menschen, die ihr nicht innerlich zerrissen und müde seid, die ihr noch nicht euren Appetit an irgendeinem Tisch gesättigt habt; aber ich, was bleibt für mich noch zu lesen? Was sagt mir am meisten zu? Dann erinnerte ich mich, wie ich einmal, als ich die Nacht kaum ertragen konnte, nein, viele Male, als ich dem Weinen nahe war, die Bhagavad-Gîtâ aufschlug, und ich konnte fast das weise, ruhig lächelnde Gesicht des Rishis sehen, das mir zugewandt war. Tränen der Freude vergoß ich über die Gîtâ.

Die Gîtâ ist kein Buch. Sie ist ein heilendes Lächeln der ewigen Weisheit, mutig dem Schrecklichen des Lebens gegenüberstehend und doch mit solchem Frieden erfüllt. Sie ist der Lichtstrahl der ewigen Liebe, welche die Furcht, meinen größten Feind, vertreibt.

Keine Philosophie spricht so unmittelbar zu mir, wie die Hinduphilosophie. Vielleicht deshalb, weil ich nicht völlig verstehen kann, was der Westen mir zu sagen versucht; ich verstehe seine Sprache nicht. Der Hindu sagt das gleiche auf einfachere Weise, seine Straße ist vielleicht gerader, weil sein Ziel klarer ist.

Wenn man hier allein in den Wäldern umherwandert, gibt es so vieles, über das man sprechen möchte. Gleich hinter die Upanishaden möchte ich Platos Schriften stellen. Vor einigen Jahren las ich Schopenhauer so gründlich wie möglich. Aber ich habe ihn für eine Weile beiseite gestellt. Ich weiß, daß ich mehr Freude im Leben erfahren habe, als er behauptet, daß es zu bieten habe.

Und so merke ich, daß auch ich etwas zu lesen habe, wenn die Literatur ihren Reiz verliert. Plato, die Gîtâ und die Upanishaden haben den großen Vorteil, daß sie unerschöpflich sind. Sogar Schopenhauer sagt: "In der Welt gibt es nichts so Ernstes, das nicht einem Scherz Platz machen kann." Deshalb sage ich: "Schreiben Sie in Ihrem nächsten Buch, daß jeder lesen sollte, was ihn am zufriedensten macht und daß seelisch zerrissene und ängstliche Dichter Plato und die Bhagavad-Gîtâ lesen sollten."

Ihr ergebener Dan Andersson.

Dan Andersson war erst zweiunddreißig Jahre alt, als er in Stockholm an den Folgen eines Unfalls starb, aber er lebte sein Leben ganz im Geiste dieses Briefes, und einmal arbeitete er mit an einer Zeitschrift, die Freiheit hieß. Das war vor vielen Jahren in einer Phase sozialen Aufstandes und sozialen Erwachens. Der Zyklus der Zeit hat den Druck auf die Menschheit verstärkt und Ideen, die in der kulturellen Ansicht der zwanziger Jahre die Norm waren, existieren noch immer; aber was mich interessiert, ist daß immer - gerade im Augenblick des Umbruchs, wenn der Mensch seine Dogmen und willkürlichen Gedankenschablonen durchbrechen muß - es die Gîtâ, Plato und der Geist der universalen Weisheit sind, die den Weg zeigen. Der Ausspruch, der uns sagt, daß es Ideen sind, die die Welt regieren und die soziale Entwicklung beeinflussen, ist uns wohlbekannt. Wir sollten sie niemals fesseln, sondern ihnen gestatten, uns durch ihre erhabenen inneren Stimmen zu leiten.

Fußnoten

1. Wiedergabe mit Erlaubnis des Herausgebers [back]