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Kerzenlicht

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Eines Abends wurden die Augen unseres kleinen Buben immer größer, als er beobachtete, wie sein Vater die grüne Kerze anzündete, die durch häufigen Gebrauch kleiner und kleiner wurde. "Schau auf die Kerze, Vater", sagte er mit leiser Stimme, und ein Ausdruck des Staunens kam in sein Gesicht, als er das flackernde Licht betrachtete.

Einige Tage später war Johnny emsig mit etwas Ton beschäftigt. Er nahm Teile davon und setzte sie bedachtsam zusammen. Das fesselte mich. Als ich ihn fragte, was er da mache, erwiderte er begeistert: "Ich mache eine Kerze!" Daß er von allen Gegenständen, die er aus Ton fertigen konnte, gerade eine Kerze bilden wollte, interessierte mich, und ich fragte ihn, warum er gern eine Kerze machen wolle. Einen Augenblick schwieg er. Dann antwortete er mit dem einen Wort: "Hell." Es war der Glanz der leuchtenden Kerze, der die Imagination Johnny's entflammt hatte und den er nun erneut zu entfachen versuchte.

Vorfälle dieser Art ereignen sich oft bei kleinen Kindern. Ihre ersten Jahre bauen sich auf einer Reihe von Eindrücken auf, und man weiß nie, wann einer bei den Kindern einen Widerhall findet. Es ist eine Erziehungssache, mit Kindern verbunden zu sein, denn bei ihrer direkten Wahrnehmung der sie umgebenden Welt, weisen sie oft auf neue Verbindungen hin und richten ihre Aufmerksamkeit auf die Wunder einfacher Dinge, die wir Erwachsenen mit unserem komplizierten Leben entweder völlig übersehen oder als selbstverständlich angenommen haben. Damit will ich nicht behaupten, daß diese Annahmen mit innerer Empfindung dem Kerzenlicht gegenüber etwas zu tun hat. Ich selbst habe es immer geliebt. Aber ich weiß, die Begeisterung unseres Kindes für die brennende Kerze veranlaßte mich, eine Betrachtung darüber anzustellen.

Obgleich die Kerzen nicht mehr in dem Maße verwendet werden, wie es vor der Einführung der elektrischen Beleuchtung der Fall war, spielen sie doch noch in Kirche und Heim eine Rolle und sind ein durchaus unentbehrlicher Bestandteil christlicher Überlieferung. Rotbraune und wohlriechende Kerzen in allen Größen und Farben füllen vor Weihnachten die Schaufenster, und leuchtende Kerzen sind ein beliebtes Motiv für Weihnachtskarten und Dekorationen.

Die Wirkung des Kerzenlichtes auf das Kind und in gleicher Weise auf die Erwachsenen kann nicht geleugnet werden, sie übertrifft die reine Ästhetik. Die Kerze ist ein altes Symbol der unsterblichen Flamme des Geistes, die in den Herzen aller Menschen wie in allen Dingen des Universums brennt. Es ist ein suggestives Symbol. Das Licht einer einzigen Kerze erhellt die Dunkelheit, und durch eine einzige Flamme können viele Kerzen entzündet werden, ohne daß das Ausgangslicht dadurch weniger wird. Im übertragenen Sinne hat ein erleuchteter Heiland außergewöhnliche Macht, der Welt spirituelle Erleuchtung zu bringen.

Die brennende Kerze hat in Verbindung mit der Weihnachtszeit eine bestimmtere Bedeutung; denn Weihnachten ist im Grunde genommen ein Lichtfest, buchstäblich eine Huldigung an das Christkind und den Christusgeist, der nun in allen Herzen neu entstanden ist. Mit Anbruch des neuen Jahres dringt das Licht der Hoffnung hervor und neue Gelegenheiten dämmern herauf. Die Weihnachtsfreude ist eine gemäßigte Freude, eine Mischung des Bitteren mit dem Süßen; denn sie ist gleichzeitig eine Heimwehfreude, die der Erkenntnis entspringt, daß der Stern im Osten stets die Sorgen und Mühsale des Lebens erleuchtet, obwohl wir ihn oft auf unserem Wege aus dem Auge verlieren. Sie ist eine Freude, die den zeitweiligen Triumph des Lichtes über die Finsternis, des Glaubens über die Furcht und der Bruderschaft über die Selbstsucht im Gefolge hat. Was auch immer zur Weihnachtsfreude beitragen mag, findet seinen äußeren Ausdruck im Singen von Chorälen, im Austeilen von Geschenken, im Flitterglanz, im Lichterglanz strahlender Weihnachtsbäume, in knisternden Weihnachtsscheiten und brennenden Wachskerzen. Überall fühlt man den Glanz und den Frieden, und die ganze Welt scheint die Worte des Neuen Testamentes zu verkünden:

"Ihr seid das Licht der Welt. Eine auf einem Hügel erbaute Stadt kann nicht verborgen bleiben."

"Kein Mensch entzündet eine Kerze, um sie unter einen Scheffel zu stellen, sondern setzt

sie auf einen Leuchter, und sie spendet Licht allen, die im Hause sind."

"Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen."