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Vater vergib ihnen

"Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." (Lukas 23.34) Es wird berichtet, daß Jesus so gebetet habe, als das Geschrei der Menge seine Kreuzigung verlangte und diese Worte sind immer etwas Rätselhaftes gewesen. Was hat wohl Jesus von seinem Vater in Wirklichkeit erbeten? Eine Seite von uns, die diesem Adel und dieser Selbstvergessenheit entspricht, weiß, daß es der anrufende spirituelle Impuls ist, aber eine andere Seite fragt sich, ob es möglich ist, daß dieses Ersuchen um Göttliche Vergebung den Charakter der gegen ihn gerichteten Handlung umgestalten oder die Wirkungen, die natürlicherweise von dem Verbrechen ausgehen, verändern kann.

Vielleicht rührt der wahre Grund zu diesem Dilemma von einem angeborenen Glauben an Ursache und Wirkung oder Karma her - ganz gleich, wie wir es nennen wollen - von dem Gedanken, daß im Verlauf der Zeit all unser Tun, Denken oder Fühlen natürliche und angemessene Reaktionen haben wird. Obwohl die Resultate in ihrer Auswirkung verzögert in Erscheinung treten mögen, um die zur Entfaltung passende Umgebung abzuwarten, scheint es logisch zu sein, wenn man glaubt, daß irgendwann und irgendwo jede Tat und jeder Impuls ihre Auswirkungen haben müssen, selbst wenn sich diese Auswirkungen ansammeln und bis in künftige Leben hinüberreichen. Sich vorzustellen, daß das Universum physisch oder spirituell auf einer anderen Grundlage als auf methodischer Konsequenz wirken könnte und der Vorstellung Laune oder Wunder einzufügen, hieße, einem Ding einen Namen geben und anzunehmen, man hätte es damit bereits erklärt. Zufall scheint ein Wort zu sein, das wir anwenden, wenn wir die wahre Natur eines Problems nicht kennen; denn wir sagen nur so lange, daß sich die Dinge durch Zufall ereignen, oder daß es sich um Wunder handelt, bis wir die Gesetze entdecken, die sie regieren.

Sehen wir uns die biblische Erzählung einmal genauer an. Hier ist ein gottgleicher Mann, der von einem aufgeregten Pöbel ungerechterweise verfolgt wurde und der seinen Vater anruft, daß er der Menge vergeben möge. Bestimmt hat er Gott nicht darum gebeten, zwischen Ursache und Wirkung auf wunderbare Weise zu vermitteln und damit die Resultate der ganzen grausamen Episode in Harmonie zu verwandeln. Paulus war es, der gesagt hat: "Was ihr säet, das werdet ihr ernten", und dieses Volk säte Gewalt und Haß - soll es dafür nur Glückseligkeit und Wonne ernten?

Ich glaube, daß diese Sache sehr wichtig ist, weil sich verschiedene Hauptglaubensbekenntnisse der christlichen Bewegung um die Auslegung dieses Vorfalls und ähnlicher Ereignisse in der Bibel drehen. An manchen Orten mögen heute die Gläubigen ihre Sünden bekennen und dahin gebracht werden, zu glauben, daß sie den künftigen Folgen ihrer Handlungen entgehen können. Das gibt der Kirche die Vermessenheit, zu sagen: "Ihr habt gesündigt, ihr habt gewisse Ursachen gesät, aber uns ist vom Allmächtigen die Vollmacht verliehen worden, euch von den Folgen dessen, was ihr getan habt, zu entbinden."

Ein anderer Zweig der christlichen Bewegung behauptet, daß Jesus um unserer Sünden willen gestorben sei und aus diesem Grunde wird uns, falls wir willens sind, Christus als unseren persönlichen Retter anzunehmen, vergeben; wir werden erlöst sein. Wir können ein Leben lang Abscheuliches verübt haben, die Bekehrung wird alles gut machen, soweit unser eigenes Seligwerden in Betracht kommt. Ich hörte eines Abends bei einer Fernsehsendung aus dem Yankee Stadium Billy Graham sagen, daß ein Mensch heilig und selbstlos sein und alle möglichen edlen Taten verrichten kann; wenn er sich aber nicht offen zu Christus bekennt, wird er - zusammen mit dem Rest von guten oder bösen Menschen, die nicht diese Wahl getroffen haben oder auch nicht die Gelegenheit dazu hatten, nie ein Auserwählter Gottes sein.

Wahrscheinlich sind diese Ansichten im Lauf von Jahrhunderten allmählich entwickelt worden. Sicherlich wurde die Bekehrung bald in den Vordergrund gerückt, als das Christentum in die heidnische Welt eindrang. Denn diejenigen, die sich bekehrten, wurden als "erlöst" betrachtet und wer sich nicht bekehren ließ, wurde als "verdammt" angesehen. Daher wurde dem bloßen Bekehrungsakt die wunderbare Macht zuerteilt, das ganze vorherige Leben umzuwandeln und unwirksam zu machen. Ebenso verhält es sich mit der Vergebung, die zu einem der Hauptwerkzeuge der Kirche wurde, mit dem sie die Herrschaft über alle spirituellen und weltlichen Angelegenheiten erwarb und zum alleinigen Vermittler zwischen dem Menschen und seinem Gott wurde. Die Vergebung wurde auf diese Weise zur Begnadigung oder Lossprechung und von der Sanktion der Geistlichen abhängig.

Die psychologischen Rückwirkungen dieser Ideen und Praktiken sind ungeheuer gewesen. Weit davon entfernt, den Menschen zu veranlassen, edler zu leben, scheint ihn die Bequemlichkeit, mit der ihm die Vergebung seiner Missetaten zugesichert wird, zu ermutigen, das Naturgesetz außer Acht zu lassen, weil sich das göttliche Gesetz einmischen und ihn erlösen wird. Außerdem gibt es die besondere Richtung an, die dem Motiv gegeben wird. Hier ist ein Mensch, der Böses getan hat und der auch weiß, daß er Böses tat. Was ihn aber vor allem interessiert ist, daß ihm vergeben wird. Was geschieht dagegen mit jenen Menschen, denen Unrecht getan wurde? Wie viel Besorgnis oder Aufmerksamkeit wurde ihnen durch diesen frommen Gebrauch zuteil? Ich denke, daß das Schönste an Jesus' Bitte um Vergebung für seine Verfolger ist, daß er in keiner Weise an sich selbst dachte.

Daß der Einzelne verpflichtet ist und auch die Macht hat, zu vergeben, ist für mich etwas leichter zu verstehen. Wenn jemand einen anderen schädigt und der verletzte Teil veranlaßt ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie dieser Kreislauf persönlicher Rache von Fall zu Fall immer größer und schließlich verewigt wird, bis er beide - und vielleicht noch weitere Menschen in den Malstrom hinabzieht. Bei der Auswirkung alter Ursachen handeln diese Menschen oft wie Automaten, ohne ihre höheren Fähigkeiten oder ihre Selbstkontrolle zur Anwendung zu bringen. Sie sind nicht besser als Chemikalien, deren Reaktion man vorausbestimmen kann.

Nehmen wir aber an, die beeinträchtigte, aufrichtige und gütige Person, die eher an andere als an sich selbst denkt, würde Vergebung üben. Wie sind dann die Wirkungen, die von den ursprünglichen Ursachen zurückfließen? Hier würde wenigstens einerseits, da den niedrigen Impulsen keine Möglichkeit gegeben ist, sich auszuwirken, nur ein tiefer Wunsch vorhanden sein, die Situation zu verbessern. Der verderbliche Kreislauf ist unterbrochen, weil zu einer Auseinandersetzung zwei erforderlich sind und einer sich weigert, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Kräfte, die früher erzeugt wurden, können jetzt auf natürliche Weise als Resultate verteilt sein, die allen Beteiligten eine größere Gelegenheit bieten. Das Resultat ist zur Belehrung geworden. Vor allem kann der ursprüngliche Überdrehter auf diese Weise, vielleicht das erste Mal, veranlaßt sein, die höheren Möglichkeiten des Menschen zu empfinden. Ist ein Mensch, der keine Vergebung in seinem Herzen birgt, wirklich menschlich zu nennen?

Wenn wir das Mysterium göttlichen Verzeihens betrachten, sind wir gleichwohl augenscheinlichen Widersprüchen gegenübergestellt. Wenn Jesus seinen Vater im Innern, seinen eigenen Gott-Vater, bat, er möge seinen Peinigern vergeben, so paßt diese Tat in das Fachwerk des Universums hinein, das zugleich spirituell und wissenschaftlich ist. Wenn aber mit "Vater" irgendeine äußere Gottheit gemeint ist, - wie es heute allgemein geglaubt wird - die veranlaßt werden kann, eine außerhalb des Gesetzes stehende Tat zu begehen, dann verstehe ich das nicht. Dieselbe logische Lücke tritt in der bekannten Redensart "Vergelt's Gott" auf, oder dann, wenn zwei Armeen auf dem Schlachtfeld ein und denselben Gott um den Sieg bitten. Unvermeidlich wird sich die eine Armee verlassen fühlen, während die andere dem Allmächtigen für seinen Beistand dankt. In einer kürzlich erschienenen Ausgabe des New Yorker ist diese Angelegenheit sogar in einem Artikel auf eine andere Ebene übertragen. Hier wird beschrieben, wie Boxer, Läufer und andere Athleten von Gott als "sich in meiner Ecke befindlich" oder "mir zur Seite laufend" usw. sprechen.

Die Schwierigkeit des Problems mag wohl darin liegen, was wir unter Gottheit verstehen. Diejenigen, welche an einen Gott glauben, der Himmel und Erde und den Menschen etwa so geschaffen hat, wie ein gefeierter Marionettenspieler seine Puppen schafft, die er an unsichtbaren Drähten bewegt, wird wenig Schwierigkeiten haben, sich vorzustellen, wie menschliche Angelegenheiten auf irgendeine Weise gestaltet und verändert werden können, so daß sie der göttlichen Laune entsprechen. Solche Menschen werden jedoch das ewige Problem vor sich haben, ihre Religion nicht nur mit den um uns liegenden natürlichen Tatsachen, sondern auch mit den Begriffen von Logik und Gerechtigkeit, welche das menschliche Gemüt so beharrlich antreiben, die Ursachen zu erforschen, in Übereinstimmung zu bringen. Dennoch wäre es eine Torheit, anzunehmen, daß alle Lebensrätsel in Worten ausgedrückt oder zu logischen Grundsätzen reduziert werden können. Die Logik ist zu oft das schwache Rüstzeug von eingebildetem Halbwissen. Zweifellos muß es eine tiefere Bedeutung von Göttlicher Vergebung gegeben haben, von der die ersten Christen eine ursprünglich anerkannte Vorstellung hatten und mit der viele unserer heutigen Glaubensbekenntnisse nur noch eine äußerst geringe Ähnlichkeit haben. Aber bei dem Versuch, dahinterzukommen, was dieser ursprüngliche Glaube gewesen sein könnte, ist es schwer zu vermeiden, eben noch eine Meinung mehr zu den uns umgebenden Unklarheiten hinzuzufügen.

Wir alle verlangen wirklich nach der Wahrheit über das Leben und nicht nach den Meinungen über die Wahrheit oder nach Allegorien und Symbolen der Wahrheit. Wir befinden uns hier in diesem Universum, sind Leben von seinem Leben, Blut von seinem Blut. Seine Vergangenheit hat uns ins Leben gerufen, seine Zukunft wird, wie es scheint, auch unsere Zukunft sein. Unser Gemüt erstreckt sich bis zu den Tatsachen des Daseins und darüber hinaus bis zu den Gesetzen, die uns regieren. Wir reagieren auf den gestirnten Himmel, auf das Brausen der Wogen, auf den Ruf eines Menschen, auf Heldentum und Opfermut. Zuweilen wird der Geist in uns lebendig und wir sind leicht berührt von mächtigen, aber sanften Schwingen. Dann aber sinken wir zurück ins Alltägliche. Doch in uns wohnt die Erinnerung an eine Erfahrung, die Worte nicht beschreiben können, etwas weit Wirklicheres als das bloße Wort "wirklich" besagt. Eines Tages werden wir vielleicht in dieses universalere Leben eintreten, aber in der Zwischenzeit empfinden wir die Verheißung eines größeren Lebens nur dann, wenn wir durch seine Erhabenheit angeregt werden.

Die Erzählung von der Vergebung Jesu inmitten seines Schmerzes ruft unsere geistige Größe hervor. Aber zu glauben, daß das Göttliche vorzugsweise diejenigen segnet, die dieser oder jener Sekte angehören oder die von der "allein wahren" Kirche Gottes Absolution empfangen, ist eine Täuschung. Welche Beziehung hat der feurige Geist der Vergebung, der spontan im Menschenherzen aufflammt und der weit hinausreicht, um die Welt zu erwärmen - was hat das mit Sekten oder Glaubensbekenntnissen zu tun? Jesus hatte kein Interesse am Glauben seiner Verfolger. Das Verzeihen scheint etwas Universales und Bewährtes zu sein, das die Verkündung der Bestimmung aller Menschen in sich birgt und ich glaube, daß wir nur in diesem Sinne den Saum dessen erfassen können, was Vergebung ist. Der Impuls, zu verzeihen, ist edel, aber durchaus verschieden von dem Wunsch, Vergebung zu erlangen. Letzteres ist in den eingebildeten Weg verwandelt worden, der von uns selbst und von unseren Verantwortlichkeiten hinwegführt. Es birgt aber auch ein Mysterium in sich, das wohl empfunden, jedoch nicht leicht formuliert werden kann.

Der Impuls, der unsere Augen sich dem Inneren Gott zuwenden läßt, der veranlaßt, daß wir unsere Fehler und Missetaten bereuen und die Tore unserer Naturen von innen her der stützenden Macht erschließt, ist ein natürlicher Impuls. Es ist, als ob einem Lichtstrahl unseres eigenen Schutzengels auf diese Weise erlaubt wäre, uns in die Kraft und Selbstlosigkeit eines erneuerten spirituellen Entschlusses zu kleiden. Nennen wir dies Göttliche Gnade oder Vergebung - Worte tun nichts zur Sache. Es ist kein Entschlüpfen von hierin enthaltenen Problemen, keine Umgehung der Pflicht, sondern die Pflichten und Probleme können nunmehr in einem durchdringenderen und klareren Licht erschaut werden.

Noch erhabener ist der Mensch, der von einem Geist erfüllt ist, welcher versucht, anderen das zu geben, was die Worte "Vater vergib ihnen..." besagen. Wann auch immer ein menschliches Wesen irgendwo inmitten seiner eigenen Prüfungen bestrebt ist, irgendeine höhere Macht anzurufen, nicht für sich selbst, nicht, weil es um seine eigene Seligkeit oder Sicherheit besorgt ist, sondern, um zu helfen und den zu segnen, der beleidigt hat, oder diejenigen zu segnen, die ihn beleidigt haben mögen, so nimmt er teil an einer der wahrsten Zeremonien des Lebens - der Magie des Vergebens. Durch den Versuch, die Gebebereitschaft seiner Natur zum Ausdruck zu bringen, wird ihm als Gegengabe ein erhabener Preis zuteil. Durch völliges Selbstvergessen findet er sein wahres Selbst, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Keine willkürliche Macht mischt sich ein, um die Grundgesetze der Natur beiseitezusetzen - in der Tat, es kommt nur von dem natürlichen Fluß der Wirkungen her, daß wir die wahre Natur unserer Handlungen und Gedanken erfahren können.

Derjenige Mensch, der vergibt, wird ohne danach zu suchen, ein edleres Wesen. Wer im wahren Geist um Vergebung bittet, fühlt auch die Wärme seiner inneren Sonne. Wer aber Vergebung um anderer Willen begehrt, hat Teil am Erhabenen - aber das Herrliche und das Mysterium dabei ist, daß diejenigen, denen vergeben wurde, ebenfalls nie wieder die gleichen sind.