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Die Illusion der Zwei Kulturen – II.

Loren Eiseley, Anthropologe, Erzieher und Autor, ist z. Zt. für ein Jahr von der Universität von Pennsylvania beurlaubt. Die folgende im Sommer 1964 in The American Scholar veröffentlichte Ansprache wurde am 29. Oktober 1963 im Rockefeller Institut, dessen Direktor Dr. Eiseley ist, bei der feierlichen Eröffnung des Richard Prentice Ettinger Programms für selbständiges Schaffen (in den Wissenschaften) gehalten. Mit seiner freundlichen Erlaubnis und der des The American Scholar teilen wir seine Ansprache unseren Lesern mit. - Der Herausgeber

 

 

 

Sicherlich kann man beobachten, daß der richtig angewandte Vergleich oder das Symbol dem Wissenschaftler häufig hilft, von der Logik auf dem einen Feld des Denkens zu einer glänzenden Leistung auf einem anderen Gebiet zu gelangen. So wurden zum Beispiel die Grundsätze der Progressive party im spirituellen Sinne später das Vorbild, das zur Entdeckung der organischen Evolution beitrug. Derart echte Vergleiche ähneln den Aussprüchen und Rätseln der bedeutenden Literatur, deren Bedeutung in ähnlicher Weise wegen ihrer unendlichen Macht der Verzweigung in das individuelle Gemüt nie vollkommen erfaßt werden kann.

John Donne gab im siebzehnten Jahrhundert einem mächtigen Gefühl Ausdruck, das auf die Wissenschaft so gut wie auf die Literatur anwendbar ist, indem er gewisse Bibelstellen betreffend demütig sagte: "Der buchstäbliche Sinn muß immer bewahrt bleiben; aber der buchstäbliche Sinn wird nicht immer wahrgenommen; denn der buchstäbliche Sinn ist nicht immer das, was der genaue Buchstabe und der sprachliche Ausdruck sagen." - Ein bildlicher Sinn, folgert er zwingend, kann manchmal die "exakteste Auslegung des Heiligen Geistes" sein.

Hier begegnen sich Wissenschaftler und Künstler zuweilen in einer gewissen Opposition oder zumindest in einer gespannten Atmosphäre. Ich befürchte, die Haltung des Wissenschaftlers ist manchmal so wie es Samuel Johnsons Bemerkung zum Ausdruck brachte, wo immer ein Geheimnis besteht, ist Spitzbüberei nicht weit entfernt.

Doch sicherlich war es nichts Unredliches, als Sir Charles Lyell blitzartig in einigen versteinerten Abdrücken von Regentropfen, nach diesen unglaublichen, geheimnisvollen Äonen geologischer Zeit, die Beharrlichkeit der Naturkräfte in der Welt erkannte. Die Abdrücke waren ein Symbol für eine weitaus bisher nicht wahrgenommene Ordnung. Sie sind in Donnes Sinn beides, buchstäblich und symbolisch. Als versteinerte Abdrücke bilden sie nur einen Beweis, daß es in einem früheren Zeitalter regnete. Symbolisch sind sie mehr. Sie deuten der aufnahmebereiten Einsicht eine weit zurückreichende Ordnung in der Natur an, so wie uns die Augen der alten Trilobiten von den unveränderlichen Gesetzen des Lichtes erzählen. In gleicher Weise kann das geschulte Gemüt an einem abgescheuerten Kiesel den zurückweichenden Schatten ungeheurer Zeitalter des Eises und der Düsterheit wahrnehmen. In Donnes altertümlicher Ausdrucksweise verraten diese Dinge das Hauptziel des Göttlichen Wesens, das heißt der für uns unfaßbaren Ordnung.

Solche der wissenschaftlichen Welt entnommene Bilder sind durchaus so bedeutend und hervorragend wie sinnbildliche Darstellungen in der Literatur, und beanspruchen die individuelle Imagination des Wissenschaftlers, der die enthaltene Bedeutung in ihrer ganzen Ausdehnung vollkommen erfassen möchte ebenso. Tatsächlich ist es auf beiden Gebieten eine und dieselbe schöpferische Handlung.

Die Evolution ist tatsächlich so ein bildliches Symbol geworden, wie die Hypothese von dem sich ausdehnenden Universum. Der Arbeiter im Laboratorium kann diese vollkommen empirisch betrachten, wie ein Gegenstand, der durch Experiment zu beweisen oder zu widerlegen ist. Wie Freuds Lehre über das Unterbewußte entschlüpfen solche Ideen jedoch dem Fachwissenschaftler und gelangen in die Öffentlichkeit. Dort können sie weitere individuelle Umwandlungen und Ausschmückung erfahren. Ob das der Gelehrte billigt oder nicht, solche Hypothesen sind dann so frei sich in dem Gemüt des einzelnen zu entwickeln, wie die Schöpfungen der Kunst. Alle daraus entspringende Bereicherung und Verwirrung wird irgend etwas Anregendes aus der Welt künstlerischen Schaffens an sich haben.

Als bildliche Einblicke in die Natur der Dinge können solche umfassenden Begriffe sonderbar verzerrt werden oder in vermehrter philosophischer Weisheit erglühen. Wie im Falle der Augen der Trilobiten oder der fossilen Regentropfen lauern hinter dem sichtbaren Beweis große Schatten, die nicht so ganz von der Welt sind, die wir natürlich nennen. Aber wie bei Donnes Worten aus der Bibel haben enorme Folgerungen den buchstäblichen Ausdruck des Gedankens überschritten. Die Wahrheit selbst wurde durch eine größere Wahrheit aufgehoben. Wie Donne selbst sagte, "Der Kern der Wahrheit liegt in den dahinter stehenden großen Ideen."

Weil diese zwei Arten von Schöpfung - die künstlerische und die wissenschaftliche - demselben Dasein entsprangen und selbst in der Teilung ihre Berührungspunkte haben, bin ich so kühn, zu behaupten, daß die zwei Kulturen in einem gewissen Sinne eine Täuschung, das Produkt unvernünftiger Furcht, berufsmäßiger Tätigkeit und Mißverstehens sind. Durch die Betonung der Wissenschaft in unserer Gesellschaft wurde viel über die Notwendigkeit gesprochen, den Laien und selbst den humanistischen Studenten nach den Richtlinien der Wissenschaft und auf ihre Errungenschaften ausgerichtet zu erziehen. Ich leugne nicht, daß eine Schranke besteht, aber ich möchte auch die Anschauung äußern, daß auf dem Gebiete der Wissenschaft selbst sich eine gelegentlich deutliche Intoleranz seitens jener unter ihren Mitgliedern zeigt, die den Weg der Buchstaben-Gelehrsamkeit verfolgen. Wie ich schon vorher bemerkte, kann sich diese Intoleranz auf Grund der angenommenen offenen Natur der wissenschaftlichen Welt umso erfolgreicher den Anschein der Objektivität geben. Dabei fällt es nicht auf, daß sich dieser Zug manchmal in den jüngeren und weniger gefestigten Disziplinen zeigt.

Es gab eine Zeit, und sie liegt nicht allzuviele Jahrhunderte zurück, in der wissenschaftliches Forschen Argwohn erweckte. Daher mag es sein, daß selbst jetzt, wo die Methode des Experimentierens triumphiert, eine schwache Furcht vor jener anderen künstlerischen Welt tiefer Gefühle und seltsamer Symbole in uns steckt, sie könnte uns mit Beschlag belegen oder die schwergewonnene Objektivität unseres Denkens beeinträchtigen - mit anderen Worten, sie könnte jene kristallklare und eisige Objektivität verfälschen, die wir in ihrer wissenschaftlichen Form als Muster für das Betragen aufstellen. Wenn dieses Muster, beiläufig gesagt, unverändert befolgt würde, würde es zu einer Welt führen, in der die Rechenmaschine alle Einzelheiten in unserem Dasein bestimmen würde; eine Welt, in der die Bombe so willkommen wäre, wie die Entdeckungen des Arztes.

Glücklicherweise waren die ganz Großen unter den Wissenschaftlern, selbst jene unvergleichlichen wissenschaftlichen Künstler wie Leonardo, der schon vor dem Erscheinen der Wissenschaft als Institution lebte, ungewöhnlich frei von dieser Torheit. Selbst Darwin mißbilligte sie, als er erkannte, daß er für sein Werk einen gewissen Preis an konzentrierter Spezialisierung bezahlt hatte. Einstein bewahrte, wie wohl bekannt ist, ein empfängliches Gemüt; Newton fühlte sich wie ein Kind, das am Strande mit schönen Muscheln spielt. Alle zeigen eine tiefe Demut und einen Gefühlshunger, die vom Künstler nicht wegzudenken sind. Mit den unbedeutenderen Menschen, mit der Institutionsmethode und mit dem Auftreten von Dogma und genau vorgezeichneten Gebieten beginnt ein unangemessenes Schema abgegrenzter Reservate die Atmosphäre der Universität zu beherrschen.

Als Wissenschaftler kann ich sagen, daß ich das in meinem eigenen und in anderen Fächern beobachtete. Außerdem hatte ich Gelegenheit die Wirkungen davon im Humanismus zu beobachten. Das ist nicht Wissenschaft per se, sondern auf beiden Gebieten des Denkens das engherzige, berufsmäßige Wesen, wie es auch in der Gewerkschaft so klar ersichtlich ist. In der Wissenschaft kann es genau so unbedeutende Menschen geben, wie in der Regierung und im Geschäft. Tatsächlich ist es einer der Nachteile der großen Wissenschaft genau wie des Staates, daß die Möglichkeit zum Erwerb großer Summen einen Schwarm ihre Ellbogen gebrauchenden und kampflustiger Leute anzieht, denen große Träume weniger bedeuten, als gesicherte Jagdgründe.

Die Soziologie der Wissenschaft verdient zumindest die gleiche Beachtung wie die Biographien der großen Wissenschaftler, denn mächtige und wechselnde Kräfte beeinflussen die Wissenschaft, die Institution als Gegensatz zur Wissenschaft, als einem Traum und ein Ideal des einzelnen. Wie andere Formen der Gesellschaft ist sie ein menschliches Erzeugnis und wie andere gesellschaftliche Gefüge menschlichen Einflüssen und unvermeidlichen Verdrehungen ausgesetzt.

Ich will Ihnen die Sache erklären. Selbst in Fachzeitschriften stoßen manchmal die Gegensätze jener, die die Biologie als besonderes und abgetrenntes Forschungsgebiet betrachten möchten und der Reduktionisten aufeinander, die im Gegensatz zu ihnen in dem lebendigen Organismus nur eine ausgedehntere und mehr aufs Geratewohl wirkende Chemie sehen. Das ist verständlich, die Reduktionisten befassen sich mit dem Unmittelbaren. Thomas Hobbes brachte einen ähnlichen Gesichtspunkt zum Ausdruck, wenn er die Dichter kritisiert, "sie bearbeiten niedrige Gemüter mit Worten und Unterscheidungen, die selbst nichts bedeuten, aber (durch ihre Unverständlichkeit) das Bestehen ... eines anderen Reiches, sozusagen ein dunkles Feenreich andeuten." Ich wurde in ähnlicher Weise kritisiert, weil ich von einer Natur "jenseits der uns bekannten Natur" sprach.

bild_sunrise_51965_s159_1Doch betrachten wir einen Augenblick dieses dunkle, unmögliche Feenreich. Der Mensch ist nicht einzig und allein aus der Natur zusammengesetzt, die wir zu kennen vorgeben. Er birgt in sich eine lauernde, unbekannte Zukunft, genau wie die Menschenaffen des Pliozän im Keime die uns jetzt umgebende Zukunft enthielten. Die Welt menschlicher Kultur war eine nicht vorauszusehende Feenwelt, bis auf einer Wiese in irgendeinem Zeitalter der Voreiszeit der erste bedeutungsvolle Ton durch das Gewelsch des Dschungel der Vergangenheit, der bis zu diesem Augenblick "bekannten" Natur, brach.

Bildtext: Dr. Loren Eiseley.

Es ist faszinierend, zu beobachten, daß Bacon, der Wortführer für empirische Annäherung an die Natur, gerade in der Dämmerung der Wissenschaft mit Shakespeare, dem Dichter, die Erkenntnis über die schöpferische Kraft teilte, die die Natur unterstützt und als "eine Kunst, die die Natur bewirkt" aus der Natur hervorgeht. Weder der große Gelehrte noch der große Dichter verleugneten das Reich der Feen. Sie hatten begriffen, was Bergson später so nachdrücklich zum Ausdruck brachte, daß das Leben eine große "Unbestimmtheit in die Materie" einführt. Es ist in gewissem Sinne ein Eindringen aus einem Reich, das von der Wissenschaft nie vollkommen prophetisch zerlegt werden kann. Die Neuheiten der Evolution tauchen einfach auf; sie können nicht vorausgesagt werden. Bis zu ihrem Eintreten spuken sie hinter dem Schirm der Ereignisse in einer Welt unvorstellbarer Möglichkeiten, da diese letzteren für den Beobachter auf einen einzigen Punkt auf der Zeittafel zusammengedrängt sind.

Viel von der meinen Ausdruck "eine Natur jenseits der uns bekannten Natur" begleitenden Verwirrung löst sich seltsamerweise in reine Symptome auf. Ich hätte darlegen können, was selbst dem hingebungsvollsten wissenschaftlichen Gemüt klar sein muß, daß die uns bekannte Natur im menschlichen Denken oft erklärt wurde und die harte, substantielle Materie des neunzehnten Jahrhunderts in einer dunklen, bodenlosen Leere, in einem Gewebe von "Ereignissen" in der Raum-Zeit verschwunden ist. Das ist, wie ich zu behaupten wage, ein so geisterhaftes Reich, wie jedes, das wir in der Vergangenheit durch den mutigen Gebrauch scheinbar gehaltvoller Worte zu entzaubern suchten. Doch manche Gemüter zeigen eine fast instinktartige Feindschaft gegen den bloßen Anflug von Verwunderung oder gegen die Frage, was jenseits dieser mikroskopischen Welt liegt, aus der jene Partikel auftauchen, die unseren Körper zusammensetzen und jetzt dieses gespenstische Wesen annehmen.

Gibt es hier etwas, dem gegenüberzutreten wir fürchten, wenn es nicht sicher in sterilisierte Fachsprache gekleidet ist? Sind wir in diesem Zeitalter der Macht unwillig geworden dem Mysterium und der Schönheit in unsere Gedanken Einlaß zu gewähren oder zu lernen, wo die Macht aufhört? Ich verwies vor einigen Augenblicken auf einen unserer Ahnen auf einer Sandbank, wie er einen Kiesel abtastete. Wenn nach den Zeitaltern des Aufbauens und Zerstörens, nach dem Messen in Lichtjahren und nachdem die Kräfte im Herzen des Atoms erprobt wurden, wenn der letzte Rest Eisen vom Rost zerfressen und die letzten Glasscherben in den Straßen liegen ein Mensch, irgendein Wilder, irgendein Zurückbleibsel von dem, was wir einst waren, auf seinem Weg zur Tränke seines Stammes fühlt, wie sich in seiner Seele der unerklärliche Schauer der Beklemmung und der Schönheit regt, erweckt durch alte Ruinen - möglicherweise von der größten Stadt der Welt - dann, sage ich, wird noch alles gut werden mit dem Menschen.

Und wenn jener Wilde einen Stein aus dem Sande aufheben kann, weil er, wenn das Wasser darüber fließt, wie ein Kristall glänzt, und ihn gegen die untergehende Sonne hält, dann wird er, wie wir am Anfang, in Ordnung sein - wie wir als Kinder waren, ehe wir begannen das Wissen vom Traum zu trennen. Alles Gerede über die zwei Kulturen ist eine Täuschung, ein Kiesel, der des Menschen Geschichte erzählt. Er zeigt des Menschen zwei Seiten, die künstlerische und die praktische. Sie werden durch einen Stein zum Ausdruck gebracht, um den sich einst eine Hand nicht weniger fest schloß, weil der dahinter stehende Geist in Licht und Schatten getaucht und in tiefe Betrachtung versunken war.

Heute besitzen wir einen Stein, den schweren Stein der Macht. Wir müssen jedoch darüber hinaus mit Hilfe der künstlerischen Imagination jene menschlichen Einsichten und Erkenntnisse wahrnehmen, die allein unsere Bürde erleichtern und uns befähigen können, uns, ähnlich wie dem Stein, die Formen zu geben, die große Kunst vorwegnahm.