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Meinungen und Anschauungen: 3. Die Mysteriengeschichte

Jedes Land hatte zu dieser oder jener Zeit seine großen Mysterien-Schulen, die streng bewacht und in der Tat sehr geheim gehalten wurden. Wenn in irgendeiner Weise auf sie Bezug genommen wurde, dann geschah das stets in Form von Metaphern oder in figurativer Sprache oder durch Mythen und Parabeln. Die Strafen für Verrat waren außerordentlich schwer. Doch nichts war so verborgen, daß jene, die "Augen hatten zu sehen", die Wahrheit, die es dort gab, nicht finden konnten. Um auch die breite Masse der Menschen für spirituelle Dinge zu interessieren, war es in alten Zeiten Sitte, ein edles menschliches Wesen, das das Volk gelehrt hatte, auszuwählen und seine Lebenserfahrung in symbolischer Form darzustellen. So geschah es mit Jesus. Folglich wurden die ihm in den Evangelien zugeschriebenen Aussprüche nicht der historischen, sondern der symbolischen Wahrheit wegen niedergelegt.

Die gesamte Geschichte von Jesus ist eine solche Mysteriengeschichte, die in dramatischer Form gewisse wichtige Ereignisse erzählt, welche in den Initiationskammern oder Krypten stattfanden. Initiation bedeutet in ihrem reinen und ursprünglichen Sinne, daß der niedere Teil des Menschen stirbt, damit die höhere Natur befreit werden kann, und weiter, daß nach Beendigung der dreitägigen Prüfung er als 'Gesalbter' hervorgehen kann. Es soll hier erwähnt werden, daß das Einsalben oder Einölen eine der Handlungen im Rahmen der geheiligten Riten war, die in den Mysterienzentren rund um das Mittelmeer vor mehr als 2000 Jahren zelebriert wurden. Tatsächlich bedeutet ja das griechische Wort Christos 'einer der gesalbt worden ist', ebenso wie das entsprechende Wort im Hebräischen Mashiahh (oder Messias) 'der Gesalbte' heißt. Es ist natürlich wohlbekannt, daß die Juden gerade damals ihren Messias erwarteten; dieser mystische jüdische Glaube aber war identisch mit der tiefen Bedeutung des Christos.

Offensichtlich schenkte Jesus in seiner Jugend allen esoterischen Lehren seiner Zeit große Aufmerksamkeit. Er wurde als junger Mann in den Mysterien-Schulen Syriens, im Nahen Osten, initiiert. Er war einer, der gekreuzigt, gestorben, begraben und am dritten Tage von den Toten auferstanden und zu seinem Vater im Himmel aufgefahren ist, wie es das Glaubensbekenntnis formuliert. Jedes Wort dieser Aufzählung ist wörtlich aus der Geheimsprache übernommen worden - ein Beispiel für den Gebrauch der mystischen Sprache, die anfangs schwierig erscheint, jedoch sofort für jene verständlich ist, die darin geübt sind. Wie sind diese Worte aber zu deuten?

Die Kreuzigung selbst war eine der Phasen der archaischen feierlichen Riten. Der Aspirant wurde auf eine Liege in Form eines Kreuzes mit ausgestreckten Armen gelegt, und drei Tage und Nächte hindurch - manchmal auch während eines längeren Zeitraumes, zum Beispiel sechs oder sogar neun Tage und Nächte - durchlief sein Bewußtsein die planetarischen Sphären, um aus erster Hand die Geheimnisse des Universums zu lernen. In diesem Zusammenhang gibt es in einer der skandinavischen Eddas eine Stelle, die als Odins Runen-Gesang bekannt ist und das besonders andeutet. Sie lautet:

Ich weiß, daß ich an einem vom Winde geschüttelten Baume hing, neun ganze Nächte,

mit einem Speer verwundet und Odin dargebracht

- ich selbst mir selbst -

an jenem Baume, von dem keiner weiß, aus welcher Wurzel er entsprießt.

Diese wenigen Zeilen geben uns eine weitere, und zwar höchst interessante Beschreibung vom Mysterium der Kreuzigung. Auch der Hinweis auf das 'Hängen an einem Baum' ist bemerkenswert, weil gerade diese Worte häufig in den frühen christlichen Schriften gebraucht wurden und auf das "Hängen am Kreuz" hindeuten. Der 'vom Wind geschüttelte Baum' ist offensichtlich eine Anspielung auf den kosmischen Baum, was ein anderer Ausdruck für das verkörperte Universum ist. In vielen alten Völkern wurde das Universum bildlich als Baum dargestellt, dessen Wurzeln dem göttlichen Herzen des Seins entspringen, während der mit seinen Ästen und Blättern nach unten wachsende Stamm den verschiedenen Ebenen und Welten entspricht. Die Frucht enthält die Saaten zukünftiger 'Bäume' und versinnbildlicht jene, die die Vollendung ihrer evolutionären Reise erlangt haben, so wie z. B. die Menschen und Götter, die selbst Universen im Kleinen sind.

Die skandinavische Version von der kosmischen Kreuzigung, die von Plato in griechischer Form ebenfalls erwähnt wird, spricht auch von dem Logos, 'gekreuzigt' in und über dem Weltenbaum, für den der Logos der belebende Geist ist. In ähnlicher Weise gehörte der Speerstoß zu den symbolischen Riten und hatte seine eigene besondere Bedeutung. Aber es war keine physische Handlung, die eine körperliche Wunde erzeugte. In gewissen Fällen wurde ein anderes Instrument, z. B. ein Dolch in der Zeremonie verwendet. Aber in jedem Falle war die grundlegende Bedeutung dieselbe: der Mensch gab seine niedere persönliche Natur als ein Opfer auf, - so wie die Edda es ausdrückt "Odin dargebracht, ich mir selbst" - so daß die Kraft und der Einfluß des Gottes im Innern frei durch die Gesamtheit seiner Konstitution fließen kann, wenn er den 'Raum des Lichtes' nach den Prüfungen verläßt. Mit anderen Worten bedeutet der Speerstoß das Sterben des Persönlichen und die Geburt des innewohnenden Geistes.

Lassen Sie uns den letzten Worten Jesu zuwenden, die in Hebräisch in den ersten zwei Evangelien Matthäus und Markus aufgezeichnet sind: Eli, Eli, lamah shavahhtani. Dieser sogenannte "Schrei am Kreuz" wurde dann ins Griechische, die Sprache des Neuen Testamentes, übersetzt und heißt im Deutschen: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Dies ist eine falsche Übersetzung aus dem Hebräischen (obgleich das Deutsche aus dem Griechischen richtig übersetzt ist), weil diese Worte in Wirklichkeit bedeuten: "Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verherrlicht!" Das Verb shavahh heißt 'verherrlichen' und ganz gewiß nicht 'verlassen'. Eigenartig aber ist, daß wir im 22. Psalm des Alten Testamentes im ersten Vers die Worte finden: Eli, Eli, lamah azavtani - die bedeuten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Nun, warum im Namen der heiligen Wahrheit sollten die Schreiber dieser zwei Evangelien Worte gebrauchen, die gutes Hebräisch sind, altes Hebräisch und doch eine völlig falsche Übersetzung im Griechischen wiedergeben? Das ist für mich der Beweis, daß die christlichen Schriften in symbolischer Form und mit mystischen Anspielungen geschrieben worden sind. Es war ganz klar beabsichtigt, die Wahrheit zu verbergen und doch eine Wahrheit zu erzählen - typisch für die Atmosphäre und die Art und Weise, in der die Alten mit den Mysterien umgingen. Die ursprüngliche hebräische Fassung und die falsche griechische Übersetzung dieses neutestamentlichen Ausspruches sind beide richtig, wenn sie in der rechten Weise verstanden werden. Der gewöhnliche persönliche Mensch fühlt stets wenn er stirbt: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen, so daß ich zu Staub werde?" Aber das edlere Selbst, der spirituelle Mensch im Innern ruft: "Mein Gott, mein Gott, wie verherrlichst du mich!" Diese letzteren Worte sind eine genaue Wiedergabe des triumphalen Rufes des Aspiranten, wenn er das höherstehende Leben erreicht.

Dies zeugt tatsächlich für den durchgehend allegorischen Charakter der Schriften der christlichen Evangelien. Der Sinn wurde überall bewußt so entstellt, daß die wahre Lehre nicht für jedes neugierige Auge sichtbar werden konnte. Doch sie enthielten gerade genug von den tieferen Gedanken, um eine anziehende Kraft für jene zu sein, die innerlich anfingen zu erwachen. Wenn sie diese Dinge lasen und die seltsamen Diskrepanzen und Widersprüche sahen, würde ihr Interesse geweckt werden, und sie würden zum Tor des Tempels kommen und 'anklopfen'. Und wenn sie in der rechten Weise anklopften, würden sie hineingelangen.

Es wurde gesagt, daß ein Mensch, der im Mannesalter die Verbindung mit seinem Gott erfolgreich erreicht, sich in einem solch' erhabenen Zustand befindet, daß seine innere Göttlichkeit für eine kurze Zeit durch ihn hindurchströmt, wie die flammende Herrlichkeit einer Sonne. Er ist wahrhaftig "mit Sonne bekleidet", wie es die Alten ausdrückten. Wenn dieses erhabene Geschehen vor sich geht, antwortet das ganze Wesen des Menschen in reiner Freude: "Oh mein Gott im Innern, meine Göttlichkeit im Herzen meines Wesens, wie hast du mich verherrlicht!" - gerade die Worte, von denen gesagt wird, daß Jesus sie am Kreuze gesprochen habe. Nein, dieser Lehrer aus Palästina wurde nicht buchstäblich und physisch gekreuzigt. Ein gekreuzigter Gott ist eine Anomalie im menschlichen Denken. Aber ein gekreuzigter Aspirant: "Ja!" - in dem Sinne, in dem ich versucht habe, diese Dinge darzustellen. Und es gibt noch eine andere Anwendung für diesen Ausdruck: ein Mensch kann durch seine eigenen Leidenschaften gekreuzigt sein, zerrissen und gespalten statt aufrecht stehend, wie ein Mensch, ein freier Mensch.

Jesus war wahrlich einer, der auf die kreuzförmige Liege gelegt wurde und triumphierend die erhabene Prüfung bestand; und nach drei Tagen erhob er sich von denen, die 'tot waren', das ist der richtige Sinn des Satzes 'von den Toten' - nicht vom Tode - als Christ. Der Christos in ihm war dann offenbar, und er lehrte seine Anhänger mit Autorität, weil er aus der Quelle der Wahrheit sprach, die aus ihm strömte. Jedes menschliche Wesen hat eine ähnliche, wenn nicht gleiche Bestimmung vor sich: seinen eigenen inneren Gott immer mehr zu offenbaren.

Vergessen wir dem wörtlichen Sinne nach die Geburt des Kindleins in der Krippe und alle anderen legendären Ausmalungen, mit denen fromme, aber unweise Menschen die großartigste Geschichte des menschlichen Werdegangs umgaben, um sie für die Gemüter und Herzen zukünftiger Generationen leicht weitergeben zu können - die Wiedergabe einer höchsten Erfahrung, die nicht nur für Jesus gilt, sondern für eine lange Reihe bedeutender Weiser, die ihm vorangingen und ihm folgen werden. Vergessen wir die bloßen Worte über das alles und erinnern wir uns der wesentlichen Botschaft des syrischen Meisters: "Der lebendige Christos ist im Innern, zu jeder Zeit erneut geboren, zu der wir uns unserem spirituellen Selbst ergeben, unserem Vater im Himmel.