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Derselbe blaue Himmel

Als vor vielen Jahren im Norden Irlands ein Chorknabe erfuhr, daß in einer bestimmten Nacht eine Mondfinsternis stattfinden würde, kündigte er diese Tatsache den jüngeren Knaben des Dorfes als ein großes Wunder an. Er fügte hinzu, daß die Finsternis nur vom Garten seines Vaters aus zu sehen sei, und daß jeder Knabe für einen Penny eintreten und diese wunderbare Veränderung, die mit dem Mond geschehen würde, betrachten könne. Obgleich sich heute kein junger Bursche von derartigen Erklärungen einfangen ließe, fragen wir uns doch: worin unterscheidet es sich wesentlich vom Wortstreit vieler gelehrter Leute aller Zeiten und in jedem Land, die versichert haben, daß die Herrlichkeiten des Himmels nur innerhalb der engen Grenzen ihres eigenen Dogmas oder ihrer Kirche gesehen werden können?

Die reine Wahrheit ist, daß das Göttliche von jedermanns Garten oder Fenster aus sichtbar ist. Manche Fenster mögen klein, andere groß, manche sehr durch Staub und Spinnweben verdunkelt oder mit Rauch bedeckt sein, so daß jedes einzelne Fenster eine kleine von den anderen abweichende Vorstellung vom Himmel vermittelt. Doch wissen wir wohl, daß es sich hierbei für jeden von uns um den gleichen Himmel, um denselben blauen Äther und Sonnenschein handelt. Jedermann muß das Göttliche durch die modifizierende Linse seines eigenen Verständnisses erblicken; es gibt daher keine zwei Menschen, die dieselbe Vorstellung von Gott haben. Doch das Göttliche ist Eines - ungeachtet der vielen gleichbedeutenden und individuellen Begriffe; auch die Art der Verehrung kann es nicht sein, die heiligt oder verdammt, sondern es kommt einzig darauf an, daß man sein Leben so gestaltet, daß es seinen eigenen höchsten Ideen über die Wahrheit entspricht. In einer der Bibeln der Welt - und deren gibt es viele - steht geschrieben:

In welcher Weise auch die Menschen sich mir nähern, in der gleichen Weise stehe ich ihnen bei; aber welcher Pfad es auch sein mag, den die Menschheit nimmt, dieser Pfad ist mein. - Bhagavad-Gîtâ

Brauchen wir eine bessere Autorität als unser inneres Empfinden von dem, was recht ist, um ganz sicher zu sein, daß jede ergebene und hochherzige Tat, ohne Rücksicht auf ihre Form oder Symbolik, die Umgebung erleuchtet, in der sie ausgeführt wird?

Dann müssen alle Religionen, sofern sie der ergebene Ausdruck des Höchsten in der menschlichen Natur sind, graduell unterschiedlich wahr sein. Kein Mensch kann auf genau dieselbe Weise zur Verehrung angehalten werden, selbst wenn es wünschenswert wäre. Die allgemeine Grundlage für die Menschheit beruht nicht darauf, eine Gleichförmigkeit des äußeren Glaubens und des Zeremoniells zustande zu bringen, auch nicht auf der Übereinstimmung gesprochener und geschriebener Bekenntnisse, sondern auf unserer gemeinsamen Kindschaft mit dem All-Vater. Es ist klar, daß allein die Bruderschaft der Menschen den Grund bildet, auf dem die Menschen vereint stehen können. Da alle Menschen aus der Dunkelheit ihres Ursprungs hervorgehen, dann mitten durch die Große Trennung fortschreiten, wie es letzten Endes alle tun müssen, behaftet sowohl mit allgemeinen Neigungen, Wünschen und Leidenschaften wie auch mit Idealen, Freuden und Aspirationen, ist es verhältnismäßig leicht zu erkennen, daß die Menschen wirklich Brüder sind. Diese Verwandtschaft ist nicht auf irgendein Gemeinwesen, eine Organisation, Rasse oder Nation beschränkt, sondern ist in der Tat universal. Deshalb müssen Menschen, die glauben, daß sie Kinder des Göttlichen sind, infolge ihrer Verbundenheit alle anderen Glieder der menschlichen Rasse einschließen.

Tatsache ist, daß jeder, der gewillt ist nachzuforschen, finden wird, daß alle Religionen viel Gemeinsames haben, das auf eine einzige Quelle hinweist. So gibt es z. B. kaum einen Ritus oder eine Zeremonie der christlichen Kirche, die nicht auch in anderen Religionen zu finden wären, ebensowenig einen theologischen Begriff, dessen Prototyp nicht auch in irgendeiner vorhergegangenen Bewegung gefunden werden könnte. Auf Grund dieser Tatsache behaupten einige Agnostiker, daß das Christentum falsch sei. Ganz im Gegenteil; wenn das Christentum wahr ist, dann aus obenstehenden Gründen. Eine derart volle Einheit und Übereinstimmung im Essentiellen, selbst in den Formeln der Verehrung, mag die Einzigartigkeit einer Religion verschwinden lassen, aber sie zeigt, daß die Lehren, wie ausgeschmückt sie auch sein mögen, auf universale Tatsachen gestellt sein müssen.

Die Worte, die Jesus zugeschrieben werden, scheinen für einige Teile der theologischen Superstruktur, die vermutlich auf seinen Lehren errichtet wurde, eine ziemlich beengte Grundlage zu bilden. Desgleichen ist vieles vom Rahmen dieser Theologie, wie das Abendmahl, die Dreifaltigkeit, die unbefleckte Empfängnis, die Kreuzigung, die dreifache Natur des Menschen, usw., mit identischen Begriffen in anderen und älteren Religionen so gleichlaufend, als bekräftige dies ihren gemeinsamen Ursprung. Diese Übereinstimmungen werden von gewissen anmaßenden Dogmatikern mit der Behauptung verteidigt, daß die Heiden, die vor Tausenden von Jahren ihre Vorfahren waren, die Ideen dem Christentum entnommen hätten - ein äußerst rückwirkendes Verfahren!

In religiösen Dingen ist der Mensch oft geneigt, sich über das, was wahr und was nicht wahr ist, ein endgültiges Urteil zu bilden. Als Maßstab nimmt er sich die wenigen armseligen Dinge, von denen das unendlich kleine Stückchen Weltgeschichte berichtet, die zu seiner Verfügung stehen. Schade ist, daß die Geschichte, auf die wir uns gewöhnlich beziehen, mit fraglicher Genauigkeit nur die geringe Spanne von ein paar Tausend Jahren umfaßt; während überall der unvergängliche Bericht von einer Kontinuität der Natur vor uns liegt, die sich über Hunderttausende von Jahren erstreckt. Können wir daher begründet erwarten, daß jetzt das erste Mal die Zeit für das Erblühen einer Zivilisation gekommen ist, die ihres Namens wert wäre?

Wenn jemand über das unermeßliche Alter der Menschheit nachdenkt, das gleichsam mit prächtiger Architektur, Kunst und Zierrat aller Art, einschließlich der Beispiele edelster Typen menschlicher Wesen angefüllt ist, wie anmaßend erscheint es dann, die letzten zweitausend Jahre, mehr noch, die heutige Zeit, als die Norm menschlicher Begabung zu betrachten. Wie falsch ist es, irgendeiner formulierten Lehre das ausschließliche Anrecht auf Wahrheit zuzuschreiben. Glaubt jemand ernstlich, daß nur er allein im Besitz der Wahrheit sei? Es ist bestimmt eine Groteske unserer Eitelkeit, wenn wir denken, wir hätten heute die höchste Zinne des Verstehens erreicht, die der Mensch je erlangte; oder daß wir oder sonst jemand im Auftrag Gottes einzig und allein zu Bewahrern von Gottes Wort berufen seien. Es wirft ein trübes Licht auf unsere Intelligenz, daß wir noch nicht entdeckt haben, daß die Kindschaft Gottes universal ist.

Nehmen wir einmal an, es würde ein wissenschaftlicher Lehrsatz, sagen wir, die Theorie von den Atomen und Molekülen erklärt werden. Das Kind könnte die Lehre leichter begreifen, wenn die Atome irgendwie sprechen oder spielen könnten. Der Knabe würde sie als viele Kugeln oder Bälle bezeichnen. Der künstlerisch Veranlagte könnte sie vielleicht als das Zusammenspiel von Farben oder musikalischen Tönen betrachten; während der Wissenschaftler, beim Versuch, sie darzulegen, konstruktive mathematische Gleichungen bevorzugen würde. So unterschiedlich wären die vielen Erklärungen, daß man mit dem Zuhörer Nachsicht üben müßte, wenn er übersehen würde, daß dies alles Darstellungen ein- und desselben Prinzips sind.

Nun ist eines der aufsehenerregenden Resultate des vergleichenden Religionsstudiums die unumgängliche Folgerung, daß jede Religion, wie es scheint, von einer Art Weisheits-Reservoir des großen Altertums hergeleitet worden ist, dessen Weisheit den Ursprung des Kosmos und des Menschen in allgemeinen Ausführungen behandelt und ethische Vorschriften nicht als von Menschen aufgestellte Regeln herausgab, sondern als spirituelle Weisungen darüber, wie man in Übereinstimmung mit den universalen Gesetzen leben soll - oder die Folgen erleiden muß. Im Verlauf der Zeit entstehen natürlich Unterschiedlichkeiten, die zufolge der verschiedenartigen Anlagen und Unterschiede in der intellektuellen Entwicklung, oder durch klimatische und andere natürliche Verhältnisse bedingt sind. Außerdem wirken die unterschiedlichen Kräfte der Aufnahmefähigkeit wie modifizierendes Agens unter den Völkern der verschiedenen Zeitabschnitte.

Wie auch die äußere Form beschaffen sein mag, stets wurde die Kunst rechten Denkens und rechten Lebens als die größte und wichtigste aller Künste angesehen, ihre Prinzipien und die ihr zugrundeliegende Philosophie sind mit dem unverfälschten Geist der Religion identisch. Weil aber die Bemeisterung einer Kunst von der theoretischen Kenntnis wie von der guten Ausführung abhängt, so schließt die Bemeisterung der Essenz der Wahrheit nicht allein das Verstehen der Lebensregeln, sondern auch die Begründung dafür ein. Dies mag auch der Grund sein, weshalb in jeder Religion offensichtlich einige Anstrengung gemacht wird, beide, Philosophie, wie Ethik, zu umfassen: die Welt zu erläutern und zu belehren, wie man darin lebt. Die schlichte Schöpfungsgeschichte in der Genesis ist ein vielfach falsch verstandener Versuch, die Sehnsucht des Menschen nach der Erkenntnis des Ursprungs der Dinge und das Verlangen, seine Stellung im Kosmos zu ergründen, zu befriedigen. Auf Grund der fragmentarischen Berichte über das, was wirklich bekannt geworden ist, beschränken sich die Lehren Jesu im Neuen Testament auf die Lebensführung, und die Quintessenz von allem ist die wahrhaft erhabene Bergpredigt mit ihrer Botschaft der zur Vollkommenheit führenden Tugenden.

Die Vollkommenheit war schon immer und wird immer das höchste Ziel der Evolution sein, und da es im Leben der Menschheit, ebenso wie in der Kindheit, Zyklen gibt, in denen die Regeln der Lebensführung genügen, kommt unvermeidlich eine Zeit, wo diese Regeln durch ein Verstehen dessen, was ihnen zugrundeliegt, ihre Rechtfertigung finden müssen. Daß eine solche Periode heute eingetreten ist, ist durch den wißbegierigen Geist und durch die deutliche Abneigung denkender Menschen, Befehle auf blinden Glauben hin auszuführen, klar ersichtlich.

Die vielen Zeichen von Übereinstimmung innerhalb der heiligen Überlieferungen und Schriften der lebenden Religionen, sind ihrer Natur nach ein deutliches Zeugnis von einem Grundstock universaler Ideen, der das Erbe aller Menschen war, und der noch als der belebende Funke der großen spirituellen Bewegungen aller Zeiten verblieben ist. In diesen Tagen zunehmenden Gewahrwerdens unserer menschlichen Solidarität, würde es einem weit edleren Zweck dienen, wenn wir unter demselben blauen Himmel eher unsere Einheit als unsere Unterschiede betonen würden. So wie alle Menschen ihr Leben und Bewußtsein von der gleichen göttlichen Quelle herleiten, so gewiß stammen die Weltreligionen von einer Ur-Lehre ab.