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Unsterblichkeit ohne Erinnerungsvermögen

Da die Lehre der Reinkarnation in der westlichen Welt immer mehr Anerkennung findet, wird der folgende Abschnitt, der in den ersten Tagen dieses Jahrhunderts veröffentlicht wurde, von Interesse sein. Er stammt aus einem Artikel Professor McTaggarts vom Trinity College, Cambridge, über "Menschliche Präexistenz" und wurde 1906 von D. D. Evans in seinem Buch "The Ancient Bards of Britain" abgedruckt.

 

 

 

Der Wert der Erinnerung, mit seiner Vergangenheit als Mittel zur Unterstützung der Weisheit, liegt darin, der Tugend und der Liebe in der Gegenwart nützen zu können. Wenn die Vergangenheit der Gegenwart ohne Hilfe der Erinnerung in gleicher Weise helfen könnte, so bräuchte dennoch der Mangel an Gedächtnis den Wert der aufeinanderfolgenden Leben nicht zu mindern. Wir wollen als erstes die Weisheit betrachten. Können wir auch dadurch, daß wir etwas vergessen haben, weiser sein? Das können wir ohne Zweifel. Weisheit besteht nicht nur oder in der Hauptsache aus angesammelten Tatsachen, auch nicht aus feststehenden Meinungen. Sie hängt hauptsächlich von einem Gemüt ab, das imstande ist, sich mit Tatsachen zu befassen und Urteile zu bilden.

Die Erlangung von Wissen und Erfahrung kann, weise gehandhabt, das Gemüt stärken. Dafür haben wir in diesem Leben genügend Beweise. Deshalb könnte ein Mensch, der, nachdem er Wissen erworben hat, stirbt - und alle Menschen erwerben einiges Wissen - in sein neues Leben eintreten und seines Wissens wirklich beraubt sein, und dennoch wäre er nicht der größeren Stärke und Feinfühligkeit des Gemütes, die er bei Erwerb des Wissens gewonnen hatte, beraubt. Wenn das der Fall ist, so wird er auf Grund dessen, was sich im ersten Leben ereignete, im nächsten Leben weiser sein. Infolgedessen ist der Fortschritt nicht mit dem Gedächtnis dahingeschwunden...

Genauso ist es auch mit der Tugend. Hier liegt der Fall vielleicht klarer, denn offensichtlich ist die Erinnerung an sittliche Wechselfälle von keinerlei moralischem Wert, außer daß es hilft, den moralischen Charakter zu bilden und wenn dem so ist, dann kann auf das Gedächtnis ohne Verlust verzichtet werden. Daher können wir nicht daran zweifeln, daß ein Charakter durch ein Ereignis, das vergessen wurde, bestimmt werden kann. Ich habe den größten Teil guter und übler Handlungen, die ich in diesem Leben vollbracht haben mag, vergessen. Und dennoch muß jede eine Spur in meinem Charakter hinterlassen haben. Wenn also ein Mensch die Dispositionen und Tendenzen, die er durch moralische Kämpfe in diesem Leben erworben hat, mit in das nächste Leben hinüber nimmt, dann wurde der Wert dieser Kämpfe durch den Tod, der die Erinnerung daran zerstörte, nicht zerstört.

Übrig bleibt noch die Liebe. Ich gebe zu, hier ist das Problem schwieriger, vor allem, weil es wichtiger ist, denn hier, und nicht in der Weisheit oder in der Tugend, finden wir, wie mir scheint, nicht nur den höchsten Wert des Lebens, sondern auch das einzig Wirkliche im Leben und tatsächlich auch im Universum. Außerdem lassen sich die einzelnen Regungen nicht als Mittel zum Zweck gebrauchen, wie in einzelnen Fällen der Sinneswahrnehmung oder mit der Kraft des Willens. ... Aber ich glaube, wenn wir weiter schauen, dann werden wir finden, daß... Menschen, die sich gegenseitig lieben, was ihr Zusammenfinden anbetrifft - und daher die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Liebe - nicht von irgendeinem Glücksfall oder einem unbewußten Ereignis abhängig sind, wobei wir keinen Grund zu der Annahme haben, daß es sich nochmals ereignet. Ihre Liebe ist nicht die Wirkung ihres Zusammentreffens, sondern die Ursache, denn ihre Liebe ist der Ausdruck der Grundtatsache, daß jeder von ihnen mit dem anderen enger verbunden ist, als mit den Menschen im allgemeinen. Gegenseitige Liebe in einem bestimmten Leben ist, wie alles andere, die Wirkung - oder vielmehr die Manifestation unter besonderen Umständen - jener Beziehungen, die das Ewige in der Natur des Universums ausmachen.

Wenn sich daher zwei Menschen in diesem Leben lieben, haben wir, wenn wir annehmen, daß sie unsterblich sind, guten Grund zu glauben, daß ihre Leben nicht nur für ein Leben, sondern für immer unauflöslich verknüpft sind. Das bedeutete nicht, daß sie in jedem Leben zusammenkommen, ebensowenig wie es bedeuten würde, daß sie im Zusammenleben jeden Tag beisammen sind. Die Liebe kann zeitweilige Trennungen überdauern und wird dadurch oft sogar stärker. Im Universum wird alles mit größerem Maßstab gemessen, und deshalb könnte es sein, daß lange Trennungen zulässig oder notwendig sind. Wir sind deshalb berechtigt zu glauben, daß wenn es an der Zeit ist, das anhaltende nähere Beisammensein seinen Ausdruck im vorübergehenden Bestehen einer Blutsverwandtschaft findet...

Der Tod ist daher das vollkommenste Beispiel für das "Versinken in die Unmittelbarkeit", (collaps into immediacy) - jener rätselhafte Ausdruck Hegels - wo alles, was vorher eine Anzahl schwer erworbener Errungenschaften bildete, in der Einheit eines entwickelten Charakters aufging. ... Der Tod bekommt unweigerlich eine neue und tiefere Bedeutung, wenn wir ihn nicht länger als eine einmalige und unerklärte Unterbrechung in einem endlosen Leben betrachten, sondern als einen Teil des beständig wiederkehrenden Rhythmus des Fortschritts, der so unvermeidlich, so natürlich und so wohltuend ist wie der Schlaf. Wir haben die Jugend nur hinter uns gelassen, wie wir heute Abend den Sonnenuntergang hinter uns liessen. Sie werden beide zurückkommen und sie werden nicht alt.