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Die unsterbliche Pflanze

Die Wissenschaft besteht aus Tatsachen und den sich daraus ergebenden Folgerungen. Die Tatsachen häufen sich beständig an. Einige davon grenzen an bereits bekannte an, aber dann und wann taucht eine Tatsache oder eine Gruppe von Tatsachen auf, durch die eine vollständige Rekonstruktion alter Theorien erforderlich wird. Dies war zu allen Zeiten so, und niemand kann sagen, in welchem Augenblick und in welchem Zweig der Wissenschaft es wieder in Erscheinung treten wird. Deshalb sind die meisten Theorien provisorisch und sollten so benannt werden. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts hätte man gesagt: "Offensichtlich wird es uns niemals möglich sein irgend etwas über die chemische Beschaffenheit der Sterne zu erfahren. Wie können wir ein Stück von einem Stern für unsere Laboratorien erhalten, um es zu untersuchen?" Als aber das Spektroskop aufkam, war es plötzlich möglich aus den Eigenschaften des Sternenlichtes die Art des Stoffes zu ermitteln, die jenes Licht aussendet. Außerdem waren chemische 'Elemente' bis zum Ende des letzten Jahrhunderts einfach unzusammenhängende unveränderliche Einheiten. Jeder, der dies untersuchte, war beinahe ein Gotteslästerer. Aber praktisch über Nacht besaßen wir die X-Strahlen und das Radium und es hatte den Anschein, als sei demnach jedes Element eine Zusammensetzung von noch kleineren Einheiten.

Im Hinblick auf das Alter des Menschen konnten wir noch bis vor kurzem an den Fingern beider Hände die wenigen tausend Jahre abzählen, seit es dem Menschen erlaubt war, auf diesem Planeten zu existieren. Aber mit den späteren Entdeckungen wurde die Zeit seines Ursprungs zurückversetzt, und wir können jetzt, gestützt auf gute wissenschaftliche Experten, von einer Million Jahren oder mehr sprechen. Ebenso sind die Mutmaßungen über den Menschen selbst ziemlich verworren. Mit der allgemein angenommenen Theorie der Evolution sind wir natürlich vertraut: angefangen von der mikroskopischen Amöbe im schmutzigen Wassertropfen bis hinauf zum Menschen war die Skala des Aufstiegs gleichförmig und ohne Unterbrechung. Verfolgt man die Kette rückwärts, so ist vermutlich gerade das vorangegangene Bindeglied irgendein affenähnlicher Vorfahre gewesen, von dem sich bestimmt, die Affen abzweigten, und von dem aus der Mensch geradeaus weiter schritt - zuerst in die tiefste Barbarei und dann aufwärts. Doch wohlgemerkt, das sogenannte 'fehlende Glied' fehlt noch immer! Der wahre Ursprung des Menschen ist noch nicht bekannt. Und was seinen Aufstieg aus der Wildheit mit kleinem Gehirn und tierischen Schädel anbetrifft, so zeigen im Ganzen gesehen die Schädel, daß manche der frühesten Menschen ein ebenso großes Gehirn besaßen, wie wir Menschen im zwanzigsten Jahrhundert!

Was mich angeht, so erwarte ich in Zukunft nicht allein die wissenschaftliche Bestätigung der ungeheuren Vorzeit des Menschen, sondern auch der Vorzeit des zivilisierten Menschen und der Arten echter Kultur - besonders was das Bewußtsein anbetrifft - von denen wir uns noch keine klare Vorstellung bilden können. In dieser Richtung gibt es innerhalb der Anatomie des Menschen einen wenig beachteten Faktor, der von außerordentlicher Bedeutung ist. Das menschliche Embryo durchläuft bei seiner Entwicklung schnell gewisse Stadien, von denen man annimmt, daß sie all die niederen Haupturformen darstellen und gleichsam den ganzen Weg der aufwärtsführenden Entwicklung vom einfachen einzelligen Zustand an, kurz aufzeigen. Zuletzt ist es der Mensch mit einem Gehirn, dessen Oberflächenstruktur besonders dem denkenden Menschen eigen ist. Nun, dieses Bedecken der Oberfläche des Gehirns mit Falten oder Runzeln, Windungen genannt, findet bei der Entwicklung des Embryos zweimal statt. Diese Falten werden geprägt und wieder geglättet als seien sie niemals vorhanden gewesen. Hierauf werden sie zum zweiten Mal hervorgebracht, dieses Mal endgültig.

Was bedeutet jenes frühzeitige Erscheinen der Falten? Weist es nicht auf eine längst vergangene Epoche in der mentalen menschlichen Entwicklung hin, in der es damals einen Typus oder eine Qualität des Intellektes gab, die von dem heutigen verdrängt wurde? Es ist ein prähistorischer und keineswegs tierischer, sondern ein menschlicher Überrest, der der Wissenschaft so entfernt zu liegen scheint, daß sie ihn vernachlässigt hat. Wir müssen an eine Art Gemüt denken, das jetzt nicht wirksam ist, das aber einmal in voller Tätigkeit war. Natürlich ist es wahr, daß Schädel aus sehr weit zurückliegender Zeit entdeckt wurden, die zu der niedersten Art Mensch gehören, auf die die Bezeichnung Mensch paßt. Aber wenn wir annehmen, daß in zehntausend Jahren die Wissenschaftler jener künftigen Zeit in Australien die Schädel der gegenwärtigen Ureinwohner Australiens finden sollten, könnte man nicht daraus schließen, daß es nirgends sonst Menschen eines höheren Typus gegeben hat? Schädel niederer Art wurden auch in Europa gefunden, aber sie sind kein entscheidender Beweis in bezug auf die übrige Welt.

Was die Überreste älterer Zivilisationen betrifft, so müssen wir zuerst, ehe wir diese richtig abschätzen können, die Bedeutung ins Auge fassen, die wir dem Wort Zivilisation beimessen. Unbewußt halten wir unser eigenes Zeitalter mit all seinen materiellen Verwicklungen und seinem äußeren Reichtum für normal. Wenn uns von irgendeiner hohen und alten Kultur berichtet wird, so müssen wir unsere gegenwärtigen Begriffe zurückversetzen und das Beweisstück dementsprechend beurteilen. Ein Volk kann jedoch, was sein Gemüt und Bewußtsein anbetrifft, eine sehr hohe Stufe der Entwicklung erreichen, doch das Zeitalter, in dem es lebt, kann schlicht und arm an sichtbaren Erzeugnissen sein. Die Denkfähigkeit kann, philosophisch und spirituell betrachtet, einen weiten Weg eingeschlagen haben, aber sie war nicht, wie die unsere, nach außen auf mechanische Erfindungen und materiellen Komfort gerichtet. Es kann sogar Menschen gegeben haben, die ein sehr einfaches Leben führten und deren Bewußtsein höher als das unsere war! Darüber gibt es im alten Indien mehr als einen Hinweis in der Zeit als einige vedische Hymnen das erste Mal verfaßt wurden und die Menschen über das Verhältnis zur Natur auf eine Weise nachdachten, die wir aus den frühesten Upanishaden ein wenig erahnen können. Besonders die Veden ähneln einander wie die alten Städte von Troja, Schicht auf Schicht, und haben nirgends etwas von spiritueller Barbarei an sich. Sie weisen in der Tat auf jene allgemeine Inanspruchnahme des Gemütes mit weihevollen und philosophischen Dingen hin, die wir heutigen Menschen nicht hinreichend verstehen können.

Längst vergangene Zivilisationen können entstanden und wieder verschwunden sein, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, vorvedische Zeitalter, von denen wir uns keine Vorstellung bilden können, und die, vom Standpunkt des Bewußtseins aus gesehen, keine Ähnlichkeit mit unserer Zivilisation aufweisen. Wenn dem so ist, dann müssen ihre Resultate tief in unserem Innern begraben sein, die auf ihre Wiederbelebung warten. Denn das menschliche Gemüt scheint weit verwickelter zu sein als es unsere Psychologie lehrt; seine vielen Aspekte können Schritt für Schritt durch die großen Gruppen aufeinanderfolgender Zivilisationen verursacht worden sein, von denen jede Zivilisation irgendeine besondere Phase betont. Einmal erzeugt, wurde er dann gleichsam zurückgezogen oder beiseite gelegt, während ein anderer Aspekt in Erscheinung trat, genau wie jene erste Gruppe von Windungen im Embryo durch eine andere ersetzt wurde. Vielleicht wird es erst am Ende bei der letzten menschlichen Evolution auf diesem Planeten sein, daß alles zusammen wieder erwachen und den vollständigen Menschen zeigen wird.

Genau wie die Pflanze lange Zeiträume hindurch Jahr für Jahr blüht und, den Entwicklungsgesetzen entsprechend, ihre Art verändert und jene künftigen, späteren Pflanzen vielleicht Strukturen entwickelt haben, von denen es in den früheren Familien kaum eine Spur mehr gibt, so blüht die Menschenpflanze innerhalb größerer oder weniger großer Zivilisationen Zeitalter um Zeitalter und fügt ihren mentalen und spirituellen Kräften einiges hinzu. Und wie die Natur im Tierreich irgendein entwickeltes Organ beiseite stellt und es unter der Haut bis zu der Zeit verbirgt da es wieder gebraucht wird und sie sich aufopfert, um andere Organe zu vervollkommen, so verhält es sich ebenfalls mit den Fähigkeiten und Gegebenheiten des menschlichen Bewußtseins. In der langsamen Aufeinanderfolge der Zyklen wird bald diese, bald jene Fähigkeit oder dieser oder jener Aspekt der gesamten inneren Natur hergenommen und einen Schritt weiterentwickelt, während irgendeine andere Eigenschaft zum Teil oder möglicherweise gänzlich latent wird.

Wir haben also mehr verborgene Facetten des Bewußtseins als wir kennen - genau wie irgendein Mensch, der in neue Verhältnisse gelangt, sich plötzlich im Besitz von Begabungen sieht, die er selber nicht vermutet hat. Die alten Zustände sind vergangen, aber sie haben ihre Wirkung auf uns ausgeübt. Die Resultate bleiben zurück und ruhen, während wir uns einem andern Ausdruck unserer vielseitigen Konstitution, neuen Bedingungen, zuwenden. Aber nichts ist verlorengegangen ; das Alte liegt bereit, wenn der Ruf nach ihm ertönt.

Selbst wenn wir nur zwei- oder dreitausend Jahre auf das klassische Griechenland zurückblicken, können wir die plötzliche und besondere Entwicklung des Sinnes für Schönheit und Proportion beobachten. Während der darauffolgenden dunklen Zeitalter trat dieser Sinn in den Hintergrund, - den wir, im Gegensatz zu den alten Griechen weder in vollkommenem Maße, noch in hohem Grade besitzen. Wir beschäftigen uns mit anderen Dingen. Wenn wir im Hinblick auf solche neuzeitliche Geschichte auch nur ein wenig von dieser allgemeinen Wahrheit sehen würden, könnten wir uns vorstellen, für wie dringend wir dieses Prinzip erachteten, wenn wir in der Lage wären, das wirkliche Leben und Bewußtsein von Zivilisationen zu beurteilen, die viel weiter zurückliegen als die Zivilisation des kleinen Griechenlands von Gestern. Hat jemand schon einmal daran gedacht, daß wir das Volk gewesen sein könnten, welches während jener früheren Epochen lebte und daß all das, was es entwickelte, in uns begraben liegt?

Abgesehen von Zivilisationen, die, wie es scheint keine Spur hinterlassen haben - auf Kontinenten, die vor Zeitaltern in den Wassern des Atlantischen und Stillen Ozeans versanken - gibt es viele, deren mächtige Ruinen, zum großen Teil von den Archäologen unerforscht, noch immer im Ruhezustand verharren. Wie viel ist uns von den titanischen Überresten in Südamerika bekannt, die sich an den Abhängen der Anden, entlang der Küste, hinziehen und von den Fragmenten in Mexiko, Asien und Kleinasien - hunderte davon oft geschützt durch undurchdringlichen Dschungel, Wüsten und geographische Isolierung, wie die Region der Wüste Gobi - aber mehr noch, wieviel wissen wir wirklich von den Zivilisationen, die sie hervorgebracht haben! Die Natur ist über die Produkte der Menschen nicht erfreut. Stets hält sie ihre Erdbeben bereit ihren zeitalterwährenden Abbau durch Regen und Frost, ihre schleichenden Senkungen und Erhebungen, Land und Wasser, die ständig ihren Platz wechseln, ihre Gletscher, Lawinen und Vulkane, ihre Sandstürme und ihre alleszersetzende Vegetation. Sie kann mit der Zeit jede Spur menschlicher Schöpfung vernichten.

Hieraus könnte man schließen, daß es keinen Fortschritt gäbe; und daß die Geschichte ein blinder und funktionsloser Vorgang, nur ein beständiges Einerlei sei. Aber was bedeutet das in Wirklichkeit? Etwa, daß Ursachen geschaffen werden könnten, die keine Wirkungen hervorbringen? Daß die Menschen ihre gesamten mentalen, moralischen und spirituellen Kräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft verausgaben können und als das verbleiben, was sie zuvor gewesen sind und die verbrauchten Kräfte spurlos verschwinden? Das bedeutet soviel als würde man sagen, daß sich die Zivilisationen nur wiederholen. Jede Anstrengung in irgendeiner Richtung, jeder treffliche Gebrauch des Willens gegen die Trägheit ist eine wirksame Kraft, die einen, der sie anwendet erhebt und die etwas, das vorher nicht da war, der Zivilisation hinzufügt, von der er ein Teil ist. Und weil es immer Menschen gibt, die solche Anstrengungen machen und damit ihr Leben ausfüllen, ist ewiger Fortschritt gesichert. Aufeinanderfolgende Epochen der Geschichte zeigen den Menschen, wie er an verschiedenen Teilen seiner Natur arbeitet. Die Ergebnisse sind aufbewahrt für die große und herrliche Zukunft unserer Rasse. Denn die Menschheit ist eine unsterbliche Pflanze; nur ihre Blüten schwinden dahin.