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Zwei Arten des Wissens

Das griechische Orakel sagte in einem berühmten Aphorismus "Mensch erkenne dich selbst". Unglücklicherweise unterließ es das Orakel zu sagen, wie er das tun soll, und daher mußten wir von jeher leiden! Man stelle sich vor, Euklid hätte anstatt seine Geometrie zusammenzustellen und die Eigenschaften der Formen und des Raumes zu erklären nur gesagt, "Mensch erkenne die Eigenschaften des Raumes!"

Nun, es gibt zwei Arten des Wissens: eine, die als unbedingte Tatsache bekannt ist, wie die Geometrie, die, wenn man nur durch ein Buch zu ihr hingeführt worden ist, in Wirklichkeit selbst entdeckt werden muß, und eine andere, die man ausschließlich aus einem Buch erhalten kann, wie die Dinge der Chemie, von denen nie gesagt werden kann, daß man sie aus sich heraus erlangen könnte, wenn man sie auch experimentell beweisen kann.

Selbst zur Geometrie kann man auf zweierlei Weise gelangen. Wenn man es richtig macht, begreift man durch sich selbst die Wahrheit jeden Lehrsatzes und kann nie mehr daran zweifeln. Man weiß es jetzt, denn sie ist zu einem Teil von uns geworden - tief im Gemüt war sie immer ein Teil von uns, aber man war sich dieser Tatsache nicht bewußt. Wenn man das Buch mit Verstand liest, gelangt man zu seinen eigenen verborgenen Schätzen. Jeder versteht zum Beispiel, daß zwei Dinge, von denen jedes für sich einem dritten gegenüber sich gleich verhält, auch untereinander gleich sind. Wenn der Studierende das liest, erkennt er es als Wahrheit und erkennt, daß er das im Grunde schon immer wußte, aber vorher hatte er das nicht bemerkt. Er glaubt es, nicht nur weil Euklid es sagt.

Angenommen, er versuchte diesen allgemein angenommenen Grundsatz in der üblichen wissenschaftlichen Weise zu beweisen, so könnte er schlußfolgern: "Wenn zwei Dinge, die jedes für sich einem dritten Ding gegenüber sich gleich verhalten, unter sich aber manchmal nicht gleich sind, das abweichende Merkmal dann so geringfügig ist, daß es meine Instrumente nicht anzeigen. Eines Tages werden wir diese Diskrepanz vielleicht erklären, aber im Augenblick können wir nur sagen, wenn sich zwei Dinge einem dritten Ding gegenüber gleich verhalten, sind sie gleich untereinander."

Das ist die andere Art Wissen. Im praktischen Leben ist das sehr gut zu verwenden, aber es unterscheidet sich durchaus von einer bestimmten Erkenntnis und die beiden sollten nicht den gleichen Namen tragen. Die zweite oder untergeordnete Art besteht zum großen Teil aus Glauben. Wir sagen, wir wissen, daß ein kreisender Magnet in einer benachbarten Drahtspule elektrischen Strom erzeugt. Als Wissenschaftler meinen wir, daß es so ist wie wir es bisher immer gefunden haben; unsere Gewißheit ist in Wirklichkeit Glaube, denn eines Tages wäre es möglich, daß der Magnet keinen Strom erzeugt. Irgendeine Veränderung in der Erde oder der Sonne könnte die Struktur der Magneten möglicherweise verändern. Solche Veränderungen sind dem angeborenen Wissen unbegreiflich.

Das Wesentliche unserer modernen philosophischen Anschauung ist, daß wir über unser wirkliches Sein, über die Unsterblichkeit, über das Göttliche, über das Leben in seiner Essenz nie etwas sicheres wissen können. Man sagt, daß über diese Dinge kein zuverlässiges Wissen erlangt werden kann, weil sie nicht gewogen, gemessen und nach wissenschaftlichen Methoden geprüft werden können.

Nehmen wir jedoch einmal an, die moderne Anschauung sei falsch. Nehmen wir an, wir brauchten uns nicht mit dem bloßen Glauben an das Göttliche, an die Unsterblichkeit und an die Seele zufrieden zu geben, sondern könnten einen wirklichen Einblick darein bekommen. Wenn das der Fall wäre, würden die Menschen viel eifriger nach dieser Einsicht, als nach irgend etwas anderem streben. Sie würden sagen, "so interessant die Dinge sind, daß Sauerstoff sich mit Wasserstoff verbindet, die Eigenschaften der Magnete, die Bewegungen der Sterne, die griechische und lateinische Sprache und Literatur, und so weiter, so sind sie dennoch nicht die wirklich wichtigen Dinge. Zuerst kommt das Erhabene Wissen, das übrige kann nachher kommen." Es ist ein Jammer, daß wir es nicht verstehen, dieses Erhabene Wissen zu entdecken, denn es kann weder durch die Wissenschaft noch durch die Künste, in der Art in der sie gewöhnlich betrachtet werden, erlangt werden. Die alte Frage: kann man Gott durch Forschen finden? ist bereits mit nein beantwortet, wenn das Wort 'Forschen' die gewöhnliche Art des Denkens bedeutet, nämlich sich intellektuell mit sichtbaren und hörbaren Dingen zu beschäftigen. Denn 'finden' bedeutet hier im tiefsten Sinne erkennen. Wir können uns verstandesmäßig zu irgendeinem Glauben an die Gottheit bekennen, aber wir können sie nicht mit dem Verstand erkennen. Und so wird der Glaube als Ersatz eingeschaltet. Doch starkem Glauben soll jede Achtung erwiesen werden, denn er bringt viele an die Schwelle wahrer Erkenntnis.

Einschließen müssen wir noch, daß, wenn das griechische Orakel sagte "Mensch erkenne dich selbst", es damit meinte, "Erlange ein unfehlbares Wissen, entfalte aus dir heraus, was bereits in dir ist." Und dazu können wir die Lehren benutzen, aber die Erleuchtung liegt nicht in den Lehren, sondern in uns. Sie zeigen uns, wie man den Glauben in das umwandelt, wovon man sagt, daß es uns zur Gewißheit geworden ist.

Das Wort Glaube müssen wir wirklich im doppelten Sinne gebrauchen. Wenn wir spirituelle Wahrheiten studieren, besteht die Überzeugung oder der Glaube des Gemütes, daß wir einen genauen Bericht über die menschliche Natur erhalten. Wir haben Erklärungen vor uns, die sich an unsere Imagination wenden und unseren Verstand befriedigen. Sicherlich haben uns die großen Lehrer deshalb das Ideal vorgehalten, daß in uns ein Gott ist, denn dann hat das Gemüt etwas Bestimmtes, worauf es zusteuern kann. Wenn wir entsprechend leben fangen wir sogleich an wirklich zu begreifen, daß es wahr ist, daß etwas Göttliches anwesend ist und der Seele hilft und sie erleuchtet. Und diese erste Art Vernunftglauben wächst zu dem unbeirrbaren Glauben des Seemanns heran, der, nachdem er sich bisher auf seine Karte verließ, schließlich am Horizont den Streifen Land sieht. Aber das Wort Seele hat heute seinen goldenen Glanz in dem Sinne wie wir das Wort gebrauchten, seine Bedeutung, seine Inspiration verloren. Die Menschen leben nicht danach, sie geben nicht auf jene Momente der Einsicht acht, oder wenn sie sie empfinden, erkennen sie ihre Bedeutung und ihre Verheissung nicht. Auch die Imagination wird gewöhnlich als ein Schauen dessen betrachtet, was es in Wirklichkeit nicht gibt; aber sie kann auch ein flüchtiges Sehen dessen sein was ist. Sie kann die im voraus gesehene lebendige Wirklichkeit sein: die Mutter all unserer Morgen mit dem, was sie mit sich bringen. Ohne sie leben wir nicht, sondern existieren nur.

Den zwei Einstellungen unseres Gemütes entsprechend gibt es also zwei Arten von Glauben und Wissen. Es gibt das gewöhnliche Gemüt, das von der Wahrnehmung der Sinne abhängig ist, und den Glauben dieses Gemütes der wie jener ist, den wir haben, wenn wir einen Samen in den Boden stecken, in begründeter Erwartung, daß er aufgeht. Das ist ein Glaube, der auf Erinnerung, Schlußfolgerung und einer Art passiven Sichausmalens vergangener Begebenheiten, die sich in Zukunft ereignen werden, beruht. Der Glaube, den manche Leute in ihren religiösen Glaubensformeln besitzen, ist der gleiche: Vorstellungen von Himmel und Hölle, die nur verschiedene Variationen von einer post mortem Zukunft projizierter angenehmer und unangenehmer Erfahrungen sind. Darin ist keinerlei Glanz schöpferischer Imagination enthalten, kein Sicherheben zu einem anderen und höheren Bewußtseinszustand.

Doch außer diesem Gemüt haben wir noch das andere - das wahrhaftiger ist, das andere oder höhere Gemüt - dem ein größerer Glaube, eine größere Imagination möglich ist. Dieses Gemüt, wenn es erweckt und tätig ist, ist ganz Feuer, Aktion, neu erfaßtes Leben, zur Wirklichkeit heranreifende Ideale. Sein Zentrum ist das Herz, das seine glühende Energie in das Gehirn, seinen Mitarbeiter, sendet und neue Kräfte als Antwort gibt. Hierbei ist der Glaube der Sprung, den das Gemüt macht, um sich klar zu machen, was es im geheimen bereits wußte.

Ein alter östlicher Spruch lautet: "So viele Menschen auf Erden, so viele Götter im Himmel". Jeder von uns lebt zwei Leben, eines als Mensch auf Erden und gleichzeitig eines auf einer Ebene, die man allgemein Himmel nennt, ein Leben als eine Seele oder als ein Gott. Der göttliche Teil weiß alles, was von dem menschlichen Teil hier getan und gedacht wird, aber der menschliche Teil weiß fast nichts darüber, wie das Bewußtsein seines göttlichen Teiles ist. Doch Lichtblicke dringen zu ihm herab und geben ihm sein Empfinden für Ehre und Schönheit, inspirieren in ihm Ideale darüber, was er sein könnte und was die Menschheit werden könnte, erwecken in ihm Mitleid und den Wunsch nach allgemein Gutem. Sie erwecken in ihm die Kraft, Schönheit im Ton, in der Farbe und in Worten als Ausdruck seiner höchsten Empfindungen zu erzeugen. Sie warnen ihn auch, wenn er Unrecht zu tun gedenkt. In der Kultivierung all dieser Dinge macht der Mensch seinen ersten Schritt zur wirklichen Erkenntnis seiner eigenen Seele. Er beginnt in seinen höchsten Augenblicken etwas in sich zu bemerken, das er selbst ist und sogar noch viel mehr. Seine Erlösung hat begonnen. Das Göttliche wird von ihm wahrgenommen.

Wenn die Menschen bei der Geburt in den Körper herabkommen und die Jahre ihr Netz zu spinnen beginnen, wächst das überlegende Gemüt heran, schließt das wirkliche Selbst ein und verdeckt seine Erkenntnis. Das Gemüt verlangt, benützt zu werden und seine Meinung steht über allem, selbst über Dingen, die es überhaupt nicht verstehen kann, und bei denen es gar nicht in der Lage ist, sich damit zu befassen. Es ist natürlich ein nützliches Instrument, notwendig für das praktische Alltagsleben und die Lebensführung und jeden Augenblick, ob in nützlicher Weise oder nicht, so unablässig tätig, daß uns sein Lärm ganz vergessen läßt, daß in uns auch noch etwas anderes ist, als das Gemüt. Und da es nichts von der Unsterblichkeit weiß, wissen auch wir bald nichts mehr davon; alles Wissen, das wir über unsere unsterbliche Selbstheit bewahren, ist nur die Selbstheit ohne das Adjektiv! Und diese ist glücklicherweise äußerst schwer zu verlieren.

Der Weg zurück zur Erkenntnis der Unsterblichkeit liegt darin, die Unruhe des Gemütes zum Schweigen zu bringen und im Vordringen zur Seele. Das ist nichts Neues; es wurde in hundert alten Schriften gesagt und alle Zeitalter hindurch gelehrt. In solchen Augenblicken beginnt die Gegenwart der Seele erkannt zu werden. Sie kommen oft unaufgefordert - dem Dichter, dem Mystiker, dem Denker, dem Heiligen. Emerson kannte sie und ebenso Whitman. Manchmal kamen sie über Tennyson, der von ihnen sagte: "Bei Gott dem Allmächtigen, dabei gibt es keine Täuschung! Es ist keine nebelhafte Verzückung, sondern ein Zustand erhabener Verwunderung, die mit vollkommener Gemütsklarheit verbunden ist." Ein Schritt weiter hätte ihm die Wahrheit vor Augen geführt, daß die Seele unsere Leben überschaut, wie wir unsere Tage überschauen.