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Thomasius

Nur der erlangt all das, was zu erreichen möglich ist, der immer das scheinbar Unmögliche anstrebt.

- Aus dem Persischen

 

 

 

Überall in der Geschichte können wir die Namen von Männern und Frauen finden, die nicht eine Schöpfung ihrer Zeit zu sein scheinen, sondern im Gegenteil wirkliche Inkarnationen von Kräften darstellen, die denen entgegengesetzt sind, die die Menschen um sie beherrschen. Sie kommen und erleuchten die dunkelsten Zeiten und es scheint als wären sie mit heldenhaftem Mut und Glauben und mit einer Stärke und Entschlossenheit, alle Hindernisse zu überwinden, geladen. Diese Gestalten heben sich so sehr von dem allgemeinen Dunkel ab, daß es unmöglich ist, daran zu zweifeln, daß sie, ehe sie ihre fleischlichen Gewänder anlegten, einen genau vorbereiteten Plan hatten, und daß in der unsichtbaren Welt Jene sind, die über ihnen stehen und diesen Plan fördern.

Ein solcher Mensch war Thomasius. Er lebte von 1655 bis 1728, also zu einer Zeit, in der in Deutschland das Licht fast gänzlich erloschen zu sein schien. Seit über einem Jahrhundert zeichneten sich die kommenden Ereignisse deutlich ab. Das nahende Bild des Schreckens war zu jener Zeit sozusagen in seinem Umriß bereits entworfen. Vor dem Tode Luthers im Jahre 1546 sind haarspaltende Dogmen entstanden und bald verfolgten sich die Führer der neuen Sekten gegenseitig in so grausamer Weise, wie sie von den Katholiken verfolgt worden waren. Luthers Anhänger bauten eine Mauer um das von ihnen errichtete Glaubensbekenntnis und verschanzten sich dahinter, mit dem Entschluß, daß es bis zum Jüngsten Gericht unangetastet bleiben solle. Die Kalvinisten waren genau so unduldsam und wenn sich dann und wann ein mehr spiritueller Mensch bemühte Frieden zu stiften, wurde er als ein Gesandter des Teufels gebrandmarkt. Anfangs wurden Wurfgeschosse, wie z. B. "Wer kein Lutheraner ist, ist verflucht", oder "Alle heidnischen Götter sind Teufel", etc. in der Hauptsache von den Kanzeln herab geschleudert. 1618 aber griff man dann zu eindrucksvolleren Maßregeln und der Dreißigjährige Krieg begann. Es schien als ob die Hölle losgelassen worden wäre. Das Land wurde verwüstet und fast zwei Drittel seiner Bewohner getötet. Als der Westfälische Friede geschlossen wurde, befand es sich in einem Zustand höchster Erschöpfung. Doch es war noch nicht Frieden; die menschlichen Leidenschaften wüteten noch wie in einem siedenden Kessel voller Haß und auch die hohen Stellen boten keine Sicherheit mehr. Papst Innozenz X. verwarf zum Beispiel den Westfälischen Friedensvertrag und entband die Unterzeichner von ihrem Eid.

Die Kirche dehnte ihren verderblichen Einfluß auf jede Tätigkeit aus und unterdrückte das Denken nach jeder Richtung. Die Universitäten konnten kaum noch atmen und selbst Tanzlehrer mußten schwören, die Kirche zu unterstützen. Der Krieg wurde als ein Gebot der Heiligen Schrift gut geheissen. Bibelstellen, wie "Ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert", oder "Aug um Auge" etc. wurden von den Kanzeln verkündet; aber der Geist der Lehren Jesus, dem Christus, blieb gänzlich unbeachtet.

Ferner war der Glaube an Zauberei in der öffentlichen Meinung fest verwurzelt und hunderte von unschuldigen Menschen starben nach unglaublicher Folter, weil die Bibel befahl "Du sollst nicht dulden, daß ein Zauberer neben dir lebt". Man nahm an, daß das Maß an Tugend zugleich mit dem der Folter zunehme, nachdem der Allmächtige das Beispiel dafür gegeben hatte, indem er die Gottlosen zu ewiger Verdammnis verurteilt hatte. Die unglücklichen Opfer gestanden daher nur aus dem Wunsche, möglichst schnell getötet zu werden, die unmöglichsten Verbrechen. Außer den "Hexentürmen", Folterkammern und Folterinstrumenten, die in manchen der alten Länder noch erhalten sind und für die Wirklichkeit dieser Schrecken zeugen, gibt es Folianten, die fünfundfünfzig verschiedene Arten der Folter aufzählen und über den Lohn berichten, den die Folterknechte für jede Folterart erhielten. Sie sind zu schrecklich, um sie niederzuschreiben. Man sagt, daß vor der Zeit des Thomasius in Deutschland allein hunderttausend Menschen wegen angeblicher Verbrechen der Zauberei getötet wurden. Die große Mehrzahl davon waren Frauen, denn die Kirche erklärte, daß das Wort femina (Frau) von fe (Glaube) und minus (weniger) abgeleitet sei und deshalb die Frauen den Einflüsterungen des Teufels besonders zugänglich seien.

An den Universitäten gab es keinen wirklichen Unterricht. Ein Professor lehrte vierundzwanzig Jahre lang über das erste Kapitel des Jesaja. Ein anderer hielt einen Vortrag von vier Stunden über ein Wort aus Aristoteles Rhetorik. Aller Unterricht erfolgte in einem schlechten Latein. Diese Beispiele zeigen kurz, in welche Zeit Thomasius kam.

In Zeiten großer Not erscheinen oft mehrere starke Seelen gleichzeitig, sei es nacheinander oder sich zeitlich überschneidend. So war es auch bei Thomasius. Er war nicht allein. Leibniz, der große Philosoph, war sein Zeitgenosse, wenn auch dessen Mission eine andere, eine weniger kämpferische war. Und einige Jahre vorher hatte der Holländer Grotius, ein anderer Märtyrer der Bigotterie und der Unwissenheit, der jeder menschlichen Abschreckung widerstand, den Boden für ihn bereitet. Die Anstrengungen Grotius, der mitten im Dreißigjährigen Krieg, in dem die Luft von Haß erfüllt war, lebte, waren auf die Errichtung des Weltfriedens, guter internationaler Beziehungen und besserer Gesetze gerichtet. Er wurde verfolgt und eingesperrt. Zum Glück für die Menschheit wurde er von seiner mutigen Frau befreit, die ihn in einem Kasten versteckte, von dem man annahm, daß er Bücher enthalte. Er entkam nach Frankreich, wo er sein Lebenswerk vollendete. Im Jahre 1625 veröffentlichte er sein vortreffliches Buch De Jure Belli et Pacis und obgleich er es nicht erlebte, seine Wirkungen zu sehen - den Gläubigen war es tatsächlich verboten, das Buch zu lesen - starb er doch in der befriedigenden Überzeugung, getan zu haben, was er inmitten dieser schrecklichen Zeiten tun konnte. In seiner Größe wußte er sehr wahrscheinlich, daß damals nicht mehr getan werden konnte. Seine Ideen waren trotzdem zu einem Teil des Denkens der Welt geworden und bildeten die Grundlage, auf der das Werk von Thomasius ruhte. Ihre Inspiration ist selbst heute noch fühlbar und wird es auch in der Zukunft sein.

Als Sohn eines Professors in Leipzig studierte Thomasius und lehrte später an derselben Universität wie sein Vater. Anfangs war er sich über sich selbst nicht im klaren. Als Kalvinist erzogen, folgte er seinen Lehrern und hielt Vorlesungen gegen Grotius und Pufendorf, seinen Schüler. Aber er war nur mit seinem Kopf auf falscher Fährte. Er brachte eine unbestechliche Achtung für die Wahrheit, ein starkes unpersönliches Empfinden für Gerechtigkeit und eine seltene Ehrlichkeit des Zieles mit ins Leben. Nachdem er das beherrschte, was ihn seine Lehrer, denen er vertraute, gelehrt hatten, beschloß er, die Werke von Grotius selbst zu studieren, mit dem Ergebnis, daß er sein Leben mit der Entwicklung jener edlen Lehren verbrachte. So schrieb er zu dieser Zeit:

"Ich sah jetzt, daß jedes von Gott mit Vernunft ausgestattete Wesen gegen die Güte seines Schöpfers sündigt, wenn es sich wie ein Ochse von einem anderen Menschen führen läßt."

Von dieser Zeit an begannen seine Schwierigkeiten. Seine Anhänger verließen ihn und er stand vor leeren Vortragssälen. Nachdem er jedoch zwei Jahre lang umhergereist war und studiert hatte, füllten sich seine Hörsäle wieder. Trotzdem war der Kampf zwischen ihm und den alten Kräften der Kirche und des Staates im Gange. Seine Bücher wurden verboten. Er wurde als Ketzer, Scharlatan und dergl. mehr verleumdet. Aber er strebte vorwärts, als gäbe es keine Hindernisse und 1688 kündigte er an, daß er seine Vorlesungen in Zukunft in deutscher, nicht in lateinischer Sprache halten werde. Das war eine aufsehenerregende Entscheidung, die einen Proteststurm erregte. Man warf ihm vor, er setze die Würde der Universitäten herab, trete geringschätzig die Autorität mit Füssen und verkünde gefährliche Lehren. Als Antwort gründete er ein in deutscher Sprache erscheinendes literarisches Journal; das erste bis dahin bekannte. Auf irgend eine Art zog er sich die Feindschaft aller alten Autoritäten zu, deren Bitterkeit in dem Maße wuchs, in dem die jüngere Generation seinen Hörsaal füllte.

Schließlich kam der entscheidende Augenblick. Ein lutheranischer Fürst verlobte sich aus Staatsgründen und aus Zuneigung mit einer kalvinistischen Prinzessin. Die beiden Sekten schrien so lange ihre Mißbilligung hinaus, bis die Sache eine nationale Angelegenheit wurde. Thomasius verteidigte die Heirat, und das war der letzte Schlag. Es wurde ihm verboten Vorlesungen zu halten und seine Bücher zu veröffentlichen, und 1690 wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Anscheinend war dies sein Ende.

Thomasius wartete aber nicht bis er verhaftet wurde, sondern entfloh nach Halle, der Hauptstadt des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg, eines verhältnismäßig freisinnigen Regenten, der ihm freundlich gesinnt war. In dieser Stadt befand sich eine kleine, als "Ritter Schule" bekannte Akademie, an welche Thomasius bald berufen wurde und wo er seine alte Arbeit noch intensiver fortsetzte. Sie wuchs sprunghaft. Seine früheren Schüler von Leipzig strömten ihm zu. Friedrich III. verwandelte die Akademie in eine Universität und stellte Thomasius an ihre Spitze. Man kann sich vorstellen, wie gegen das wachsende Institut Pfeile geschleudert wurden und wie groß der Verdruß der bitteren Feinde war, als sie sahen, daß die Universität zum führenden Zentrum des Denkens und des intellektuellen Lebens in Deutschland wurde.

Jetzt trugen die von Grotius gesäten Samen durch den nach ihm kommenden Mann mehr Früchte denn je. Die jungen Leute in Deutschland fühlten, wie sich ihre Gemüter entfalteten. Ihre Betrachtungen über die Vergangenheit die bisher nur aus Patriarchen und biblischen Personen bestanden, blieben nicht mehr auf diese beschränkt. Der Vorhang, der die großen Denker des heidnischen Altertums verbarg, war jetzt zurückgezogen. Die deutsche Jugend wurde gelehrt, selbständig zu denken und nicht mehr blindlings Dogmen anzunehmen. An Stelle persönlicher, parteilicher Erwägungen, wurde ihnen vor allem Liebe zur Wahrheit gelehrt.

Thomasius lehrte in vielen akademischen Fächern und stellte deren wechselseitige Beziehung und ihren Einfluß auf das menschliche Leben dar. Alle seine Anstrengungen waren darauf gerichtet, den menschlichen Geist, der unter den alten Systemen nahezu erstickt worden war, zu befreien. Er bekämpfte viele grausame Bräuche jener Zeit, darunter die Sitte, Menschen, die einmal eines Verbrechens schuldig erklärt worden waren, durch ein Brandmal zu zeichnen und sie dadurch zeitlebens zu Ausgestoßenen zu machen. Zusammen mit anderen unterminierte er die Stärke des Aberglaubens an Hexerei, so daß dieser noch vor dem Tode Thomasius sehr geschwächt war. Religiöse Unduldsamkeit war zu einem Bestandteil des Lebens geworden. Der Geist des Zeitalters war in eisenharten Formen erstarrt. Im vorangegangenen Jahrhundert konnte, um die Wirkungen dieser Haltung zu mildern, nichts anderes getan werden als den Untertanen, die anderer Meinung waren als ihr Landesfürst, zu erlauben, in Gebiete auszuwandern, wo ihre Denkart geduldet wurde. Und Thomasius trat zu solchen Zeiten nicht nur für religiöse Duldsamkeit, sondern sogar für religiöse Freiheit ein!

Er war unermüdlich. Neben seinen Vorlesungen und der Leitung der Universität schrieb er beständig Bücher. Im Jahre 1691 veröffentlichte er seine Lehre über den gesunden Menschenverstand; im nächsten Jahr Die Lehre über die Ethik; und nicht lange danach sein Werk über Natürliches und internationales Recht. Einige Jahre vor seinem Tode veröffentlichte er seine Geschichte des Kampfes zwischen dem Kaiserreich und der Kirche im Mittelalter, in welcher er die durch Ermutigung der Bigotterie, Verfolgung und Unduldsamkeit geführte falsche Politik der Kirche klarlegte. Bei diesem Bemühen setzte er, wie bei vielen anderen, sein Leben aufs Spiel. Aber die Gegenströmung an Sympathie, die er unter den freisinnigeren Elementen der Gesellschaft und besonders in der jüngeren Generation geschaffen hatte, zusammen mit seinem eigenen Genius, retteten ihn immer wieder. Ein Beweis dafür ist, daß ihm die Universität Leipzig, die ihn einst verbannte, einen bedeutsamen Lehrstuhl anbot - den er zurückwies.

Und so endete sein Leben im Triumph. Er hatte mitten in einem der dunkelsten Zeitalter der Geschichte einen Krieg für den Geist der Wahrheit geführt und die Luft gereinigt, das Moralgefühl der Menschen in Deutschland geweckt und deren intellektuelles Leben befreit.