Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Von der königlichen Abstammung

In der griechischen Welt waren die aus weit zurückliegender Vergangenheit stammenden Mysterienschulen die Quelle und die offiziellen Träger der Religion. Sie nahmen die Stellung ein, die die Kirchen heute im Christentum einnehmen. Sie machten die Menschheit bekannt mit der Wirklichkeit der inneren Welten und der Wichtigkeit der Dinge des Geistes. Die Theorie war, daß es hinter den Äußerlichkeiten der Verehrung eine wahre Lebensphilosophie gibt, die die Menschen sich anzueignen vermögen. Es handelte sich dabei nicht um intellektuelles Wissen, sondern um direkte spirituelle Wahrnehmung. Deshalb wurde nichts öffentlich verbreitet, denn das geschriebene oder gesprochene Wort kann keine Wahrheit enthüllen, wenn eine solche Wahrnehmungsfähigkeit nicht geweckt worden ist. Eine nicht begriffene Wahrheit kann verdreht und zu einem Dogma gemacht oder von selbstsüchtigen Menschen für persönliche Zwecke benützt werden. Die Alten sahen in beiden Möglichkeiten Gefahren.

Aus diesem Grunde ging der Initiation durch Erlangung von Selbstbeherrschung und vollkommene Reinigung des Lebens, Denkens und des Motivs eine lange Schulung in Disziplin voraus. Nur auf diese Weise konnte der Verstand des Kandidaten klar werden und ihm die dramatischen und symbolischen Zeremonien wirkliches Wissen vermitteln. Diese Riten waren "magisch" wie es alle wahre Dichtkunst und Musik sind - das heißt, sie haben die Macht, die bei den meisten von uns in der Seele schlummernden hohen Fähigkeiten zu wecken. Ein so verwandelter Mensch konnte hinter die äußeren Erscheinungen sehen und das Höchste für den Menschen Mögliche, ein Gottmensch werden.

Daß diese Veränderung, dieses Erblühen stattfinden sollte, war die Hauptidee der alten Religion. Von einem solchen Menschen wurde gesagt, er sei "nochmals geboren", das wahre Selbst in ihm war in eine fehlerlos gewordene Natur geboren worden. Die Mysterienschulen benutzten die Allegorie und das Drama; sie sprachen von einer "jungfräulichen Geburt", weil das Gott-Selbst immer in einem gereinigten oder jungfräulichen Herzen geboren wird. Von der in ihrer Essenz göttlichen Seele wurde angenommen, daß sie eine Art Verdunkelung oder Tod erleide, während sie an den physischen Körper "genagelt" in unsere sterbliche Welt verbannt ist. Ihre Abenteuer auf dem Pfad des Werdens wurden auf tausenderlei Weise erzählt, von denen keine allgemeiner oder wichtiger war, als die von dem Gott, der gestorben, in die Hölle hinabgestiegen und vom Tode auferstanden ist. Der Todeskampf und der Tod waren die Prüfungen die reinigten, und der auferstandene Gott war der vollkommen gewordene Mensch.

Die Mysterienschulen waren schon viele Jahrhunderte vor unserer Ära im Niedergang begriffen und hatten ihre Wirksamkeit als Träger spirituellen Lichtes verloren. Strenge Schulung und Vorbereitung, Erlangung von Selbstbeherrschung und Reinheit, die im Altertum in erster Linie gefordert wurden, waren nicht mehr gefragt. Die Riten wurden bloße Formen, und die Folge war Mangel an Wirklichkeitssinn. In Eleusis wurde zum Beispiel später an berühmte Fremde Initiation als Ehrenbezeigung verliehen, genau wie wir das Ehrenbürgerrecht verleihen. Ebenso empfing ein Einwohner die Initiation, wie man heute einen Freimaurergrad erwirbt. Das hat für ihn vielleicht viel bedeutet, weil er Symbole kennenlernte, die er sonst wahrscheinlich nicht verstanden hatte. Aber ein Initiierter zu sein bedeutete nicht wie früher beabsichtigt, außergewöhnliche Weisheit, Tugend oder göttliches Mitleid zu besitzen. Wie wir wissen, hatte die Religion lange vor der Geburt Jesus viel von ihrem Einfluß auf das Leben verloren, und das geschieht nicht, wenn sie ihre spirituelle Vitalität behält und der Organismus, durch den sie wirkt, nicht starr wird. In der hellenisierten Welt standen die Mysterien zur Religion etwa wie heute die Bibel und die Kirchen zueinander stehen. Sie waren Religion und nach ihrem Muster formten sich religiöse Ideen.

Paulus war ein Mensch griechischer Kultur, ein kosmopolitischer Jude, ein römischer Bürger. Seine Schriften lassen keinen Zweifel zu, daß er in die Mysterien, so wie sie waren, eingeweiht war. Ich glaube, sie zeigen auch seine Dualität. Auf der einen Seite steht ein Mensch, der nicht ohne Einsicht in die Symbole der Initiation ist, wie die "zweite Geburt", der "neue Mensch" oder der "Christos-Geist", der in dem vollkommen gewordenen Menschen geboren werden soll. Diese Dinge sind ihm mitgeteilt worden, und seine von starken Gefühlen bewegte Natur versäumte nicht, etwas, vielleicht sehr viel, in ihnen zu sehen. Ein Mann, der fähig war, den dreizehnten der 1. Korintherbriefe zu schreiben, hatte sicherlich einige Quellen der Weisheit erforscht. Das ist die höhere Seite von Paulus. Auf der anderen Seite steht der Enthusiast, dessen außerordentliche Energien und Lebhaftigkeit des Gemütes die Tiefe seiner Natur überwogen. Leidenschaftlich ergeben, persönlich ehrgeizig und mit starkem Willen zu führen, war er keineswegs eine in hohem Grade mitleidsvolle Seele wie Jesus. Das Selbst ist vorhanden: er pflegt ausführlich für sein Recht und seine Tauglichkeit zur führenden Persönlichkeit einzutreten, und er pflegt bescheiden seine eigenen Verdienste darzulegen, deren er sich sehr bewußt ist.

Paulus deutete in die Geschichte von Jesus den tieferen Sinn der alten Tradition hinein, vermengte aber das Tatsächliche mit dem Symbolischen und schuf ein Dogma, eine Legende, ein Glaubensbekenntnis. Er hatte ohne Zweifel vortreffliche Absichten. In Jesus lebte ein Gott-Mensch, der tatsächlich gekreuzigt wurde, - so wird wenigstens berichtet - geradeso wie er in den Mysterien symbolisch gekreuzigt wurde. Und hier bot sich eine Gelegenheit die Werbetrommel zu rühren, eine Möglichkeit, sein Gemüt, sein Organisationstalent, seine Energien emsig zu betätigen. Hier war eine wirklich rechtschaffene Bewegung, die er zu einer weltumfassenden machen konnte. Und weil er ein gegen sich selbst äußerst schonungsloser menschlicher Dynamo war, hatte er Erfolg. Aber indem er das tat, machte er die heiligen Symbole fast wertlos, weil sie nicht mehr als Darstellungen des Pfades ausgelegt wurden, den jeder einzelne gehen muß. Er half auf diese Weise, für zukünftige Generationen viel von dem wirklichen Wert des Lebens und der Lehren von Jesus zu verdunkeln.

Wenn wir uns den drei ersten Evangelien zuwenden, finden wir nur das Fragment einer Geschichte. Es werden nur die Ereignisse während einiger Tage am Anfang und in den letzten vier Jahren eines Lebens erzählt, das nach den meisten Berichten mit dreiunddreißig Jahren endete. Aber die Tragödie des Nazareners war sicherlich nicht sein Tod, sondern was sich mit ihm dazwischen, und zwar von Anfang an ereignete. Er wurde nie verstanden, selbst von jenen nicht, die ihm am nächsten standen. Freunde, Jünger, Verwandte, Feinde - alle sahen seine Gestalt, fühlten seinen spirituellen Magnetismus, aber sie konnten seine Absichten nicht verstehen. Vielleicht hätten sie ihn mit der Zeit verstanden, aber gerade diese Zeit stand ihm nicht zur Verfügung. Buddha und Konfuzius wurden beide alt. Jeder lehrte fünfzig Jahre lang und friedliche Zivilisationen und wunderbare geschichtliche Zeitalter bildeten die segensreiche Frucht ihres Wirkens. Jesus aber wurde, wie gesagt wird, vier Jahre nach Beginn seiner Mission gekreuzigt. Die Welt hatte nicht die Zeit, ihn zu sehen, zu hören und kennen zu lernen, wie die beiden anderen. So schuf sie als Ersatz für ihn und seine Lehren eine Legende.

Die von diesen Dreien und von Laotse dargelegten ethischen Systeme sind die gleichen, aber soweit der Bericht der Evangelien in Betracht kommt, gab ihm Jesus nicht wie die anderen einen wissenschaftlichen oder philosophischen Hintergrund - als vertraute er darauf, daß die bloße Vornehmheit seines Charakters seine Ethik tief einprägen würde. Für alle, die vergleichendes Religionsstudium betreiben, ist es jedoch offenbar, daß Jesus nicht aus einem bloßen hochherzigen Gefühl, sondern auf Grund wissenschaftlicher Kenntnis der Gesetze des Lebens sprach. Er war von der königlichen Abstammung des Geistes: ein Lehrer und Offenbarer, der während seines Lebens zeigte, welch herrliche Schöpfung die Menschheit werden kann und den Weg dazu wies. Bedauerlicherweise hat das Christentum, das in erster Linie an der Legende über Christus interessiert und dadurch überzeugt war, daß die Welt bereits "erlöst" sei, durch Vernachlässigung der Lehren von Jesus eine gewisse unbewußte Haltung diesen Lehren gegenüber eingenommen. Man kann mit den harten, bitteren Gegebenheiten des Lebens nicht durch sentimentale Gebote fertig werden; und nur wenigen kommt der Gedanke, daß seine Lehren mehr als das sind.

Jesus sagte:"Liebe deine Feinde, ... tue Gutes denen, die dich hassen." - "Das ist alles sehr gut für den Sohn Gottes", erwidert die christliche Gemeinde, "aber wir sind sündige Menschen und müssen praktisch sein." Dies ist, glaube ich, der stillschweigend und in weiten Kreisen gehegte Gedanke, und die Kirchen wissen nichts dagegen zu sagen. Derart ist der für die Mythe und für die Dogmen bezahlte Preis, die den Menschen und seine Botschaft verdrängten. Wir können den Sohn Gottes haben, der die Sünden der Welt auf sich nimmt, und ihn gut mit Sünden versorgen, damit er sie wegnehme, aber die Folgen dieser Sünden werden nicht ausgelöscht: unsere schrecklichen, ständig bei uns vorhandenen Leiden, die furchtbaren Nachwirkungen der Kriege. Alles was sich auf dem Kalvarienberg ereignete, ändert nichts daran. Oder wir können den Menschen haben, der die Wissenschaft des rechten Lebens lehrte und die Wonne, herauszufinden, was diese Wissenschaft ist und wie sie praktiziert wird, um auf diese Weise die Sünden hinwegzunehmen ehe sie begangen wurden und die Welt in dem Sinne zu erlösen, daß wir sie zu einem geeigneten und schönen Ort machen, um dort zu leben.

Wenn der auf das Studium der Theologie und auf das Zergliedern und Erklären der inneren Zusammenhänge der Dreieinigkeit verwendete mentale Scharfsinn auf das Studium der von Jesus niedergelegten Gebote für die Lebensführung des Menschen angewendet worden wäre, würden jene, die ihn jetzt zu verteidigen wünschen und nicht wissen wie sie das tun sollen, finden, daß sie nicht als unglaubwürdige Sentimentalisten, sondern als Lehrmeister und Doktoren der Wissenschaft der Lebensführung vor ihren Mitmenschen dastehen. Das wäre von großem praktischen Wert für die verwirrte Menschheit. Denn Jesus sprach keine nichtssagenden Dinge, um die Zeit auszufüllen, solange er auf seine Kreuzigung wartete, um die Welt zu erlösen, die nicht erlöst ist.

Jesus war ein klarer Denker, der durch Studieren, Experimentieren und Schulung gewisse Prinzipien entdeckte und sie, nachdem er sie entdeckt hatte, zu lehren begann. Weil sein Wissen groß war, war seine Liebe groß. Er vergab, weil er verstand. Ohne Verstehen entartet Liebe leicht zur Gefühlsduselei und Unausgeglichenheit. Was verstehen? Daß das Innerste aller Menschen göttlich ist. Gewöhnliche Männer und Frauen bergen in sich unendliche Möglichkeiten, die entfaltet werden können - glänzende Lichter, deren leuchtende Strahlen Schöpferkraft, Heroismus, von der Sonne beschienene Weisheit in die Angelegenheiten dieses gequälten alten Globus gießen. Jesus sah Gott im gewöhnlichen Menschen und ging strikt, nachdrücklich und zweckmäßig an die Arbeit, ihn zu enthüllen. "Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen", sagte er. Was konnte dieses Licht anderes sein, als die frohe großmütige Gottheit im Innern?

Jesus lebte wissend in einer ganz unwissenden Welt, mit einem Wissen, das erlösen konnte. Das war seine Tragödie, die ihm den Schrei entrang: "Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch den Frieden geben." Was war dieser Friede? Mentale Lethargie? Trägheit? Davon war sicherlich bei den unendlich zufriedenen und selbstgefälligen Pharisäern, bei den aus ihrem breiten Gebetsriemen Befriedigung erlangenden Schriftgelehrten und bei den in der tröstlichen Auslegung ihrer Dogmen bewanderten Priestern bereits genug vorhanden. Es gab durchaus zuviel von der Ruhe, die sich als blinder Glaube und als Ausschaltung des Gemütes, des Verstandes und der Imagination äußert. Was Jesus geben wollte, war Wissen über die Art und Weise zu leben; aber seine Hörer konnten ihn nicht verstehen. Sie dachten, er sei etwas, das er nicht war: ein Messias, der sie von den Römern befreit; ein zukünftiger König - und später der eingeborene Sohn Gottes, der die Sünden der Erde wegwusch. Und die Sünden wurden nie hinweggenommen; sie bestehen auch jetzt noch und ihr Name ist Legion. Das war die wahre Kreuzigung, der Todeskampf und die Buße.

Jesus war wie einer, der zur Unzeit geboren wurde, in der alles gegen ihn ist und der keinerlei Hilfe hat, keine Waffen außer dem Feuer seines Wesens ... als hätte ihn das ungestüme Mitleid hierher gebracht, während die Weisheit ihm geraten hätte, seine Zeit abzuwarten! Wir sehen nichts von der unbezwingbaren Hartnäckigkeit, die Konfuzius befähigte, als Denkmal für sich eine der am längsten bestehenden Nationen aufzurichten. Oder von der unverwüstlichen Ruhe von Gautama Buddha, dessen Einfluß Zeitalter um Zeitalter die Kultur des asiatischen Kontinents mit unsterblicher Schönheit und Pracht belebte. Was wir sehen ist eine leuchtende Seele, die majestätische Gestalt eines totgeweihten Helden. Was am meisten zum Enthusiasmus über ihn anspornt ist, wie ich glaube, das Gefühl der großen Hoffnungslosigkeit seiner Mission, das unterdrückte Feuer, die aussichtslos in eine niedrige, armselige, engstirnige Umgebung gesteckte Universalität - wobei doch immer ein unbeschreibliches Mitgefühl für die Schwachen und Gefallenen durchscheint.