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Das Eine, was Not tut

Wir sind der Meinung, daß die auf uns hereinbrechenden Krisen nur allein unserer Zivilisation zuzuschreiben sind, daß die Menschen nie zuvor so vielen Bedrängnissen mit so wenigen praktischen Erfahrungen, auf die sie sich stützen könnten, ausgesetzt waren. Aber ist das wirklich der Fall? Wie erging es jenen Suchern nach "Göttlicher Weisheit" zur Zeit des Apostel Paulus? Waren sie sich ihrer Fähigkeit allem gewachsen zu sein irgendwie sicherer als wir? Gab es jemals ein Volk oder eine Rasse, die nicht inmitten revolutionärer Veränderungen und drohender Katastrophen lebte? Wir brauchen uns nur an Laotse und Plato und an die Schriften der Philosophen und Mystiker aller Zeiten und Länder zu erinnern, um zu begreifen, daß sie die gleichen Probleme beschäftigten wie uns heute, und daß es für sie genau so schwierig war die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden, wie für uns. Immer gab es Scharlatane und Schwindler - in spirituellen wie in materiellen Dingen. Ebenso hat es aber auch jene gegeben, die in der Turbulenz der äußeren Ereignisse den nach innen führenden Weg gesucht und gefunden haben; und immer bemühten sich einige, ihre Entdeckungen anderen mitzuteilen.

Diese Überlegungen kamen mir, als ich die Korrespondenz zwischen Saint-Martin und Kirchberger1 las. Zwei Adelige, der eine ein Graf, der während der kritischen Tage der französischen Revolution, so um 1790, in Paris lebte, der andere ein Baron in der Schweiz, ein Mitglied des Ständerats seines Landes. Beide beobachteten äußerst gespannt die Ereignisse der Zeit und korrespondierten ausführlich über die "aktive und geistige Ursache" des Universums und auf welche Weise der Mensch mit seinen göttlichen Prinzipien wieder in Verbindung kommen könnte! Es mag seltsam erscheinen, daß so transzendentale Themen wie diese in Angriff genommen wurden, während Frankreich den Todeskampf seines alten Regimes durchmachte. Doch muß man nicht gerade während solcher Perioden äußerlicher Zerstörung nach einer Bedeutung suchen, muß wissen, warum in einem von einem göttlichen Wesen gestalteten und erhaltenen Kosmos die Geburt jeder neuen Anstrengung von Zerstörung begleitet ist?

Wer waren diese Menschen und wie kommt es, daß wir nach beinahe zweihundert Jahren beim aufmerksamen Lesen aus ihren Gedanken Nutzen ziehen können? Sicherlich liegt nichts Neues oder Sensationelles in dem Wunsch Vereinigung mit Gott zu erlangen. Das war seit Jahrtausenden das Ziel von Jogis und Heiligen. Aber le Philosophe Inconnu, "Der Unbekannte Philosoph", hinter welchem Pseudonym Louis Claude de Saint-Martin seine Identität (ohne Erfolg) zu verbergen suchte, war kein gewöhnlicher Mystiker. Er war ein christlicher Theosoph in der Tradition Jakob Böhmes, der von der Aktualität des göttlichen Zentrums und seiner Erforschungsmöglichkeit durch jeden Menschen so vollkommen überzeugt war, daß sein Leben einen Teil seines täglichen Gebetes darstellte: "Mein Gott, sei Du so ausschließlich bei mir, daß außer Dir niemand bei mir sein kann!"

Aber er war weit davon entfernt ein Einsiedler zu sein, der den passiven Weg des Wachstums sucht, indem er sich gegen die Leiden seines Volkes abschließt. A. E. Waite schreibt:

Der unbekannte Philosoph ... war immer bewiesenermaßen ein Mensch mit vielen Freunden und einflußreichen Verbindungen. ... Saint-Martin ist fast der einzige Mystiker, der auch in seiner Weise Politiker war, mit einem Plan zur Reform der Gesellschaft. Er war ein Liebhaber der Musik, er war ein wenig bewandert in der Dichtkunst, ein Kenner der Belletristik, ein Kritiker seiner Zeitgenossen, ein Beobachter der Zeit, ein wahrer Seelenarzt, aber in dieser Eigenschaft immer mit dem Finger am Puls der Welt.2

Sein erstes Werk Des Erreurs et de la Vérité ("Über Irrtümer und Wahrheit") wurde 1775 veröffentlicht und behandelte sowohl spirituelle als auch weltliche Dinge. Es rief viel Interesse und auch heftige Kritik hervor. Im Vorwort erklärt er, daß er nicht der Erfinder der darin enthaltenen Wahrheiten sei, denn "Die hier erläuterten Prinzipien bilden den wahren Schlüssel für die Allegorien und geheimnisvollen Sagen aller Völker, den Ursprung jeder Institution und tatsächlich die Vorlage für jene Gesetze, die das Universum leiten, regieren und alle Wesen schaffen." Im ersten Teil beschreibt er auch die fortschreitende Emanation aller Naturreiche. Er beginnt mit dem Menschen, dem die Tiere folgen, dann die Pflanzen und zuletzt die Mineralien, "der letzte Ausdruck in der Reihe der erschaffenen Dinge."

Eine deutsche Übersetzung kam 1782 heraus, aber erst zehn Jahre später schrieb Kirchberger, Baron von Liebistorf, Ratsmitglied der Republik Bern, einen Brief an den Unbekannten Philosophen, in dem er ihm erklärte, daß er in seinen Augen der "tiefste Denker seiner Zeit" sei, und daß er hoffe, er werde in schriftlichen Verkehr mit ihm treten und "es nicht ablehnen", jene zu erleuchten, die in gutem Glauben die Wahrheit suchen. Auf diese Weise begann ein fünf Jahre währender Austausch von Briefen, der von Waite als "die bemerkenswerteste, schönste und fesselndste aller theosophischen Korrespondenzen" beschrieben wurde. Die Briefe enthalten natürlich keine klar umrissene Darlegung der Lehre; es sind private, vertrauliche Briefe, die impulsiv und ohne einen Gedanken an die Nachwelt geschrieben wurden. Darin liegt ihr Zauber und auch ihre Inspiration, denn alle enthalten das Aroma von etwas unendlich Köstlichem, die Quintessenz eines wahrhaft ergebenen Menschen, der es wagte, zu leben, was er glaubte.

Am 18. Januar 1743 zu Amboise in der Provinz Touraine in Frankreich geboren, wurde Louis Claude de St. Martin streng im katholischen Glauben erzogen, dem er sein ganzes Leben lang nominell treu blieb. Als junger Mensch besuchte er die höhere Lehranstalt in Pontlevoi. Dort stieß er auf eine kleine Abhandlung über Die Kunst der Selbsterkenntnis von Abadie, die er später "eher sentimental als tiefschürfend" bezeichnete, aber sie diente dazu, ihn für höhere Dinge zu interessieren. Er studierte Rechtswissenschaft, und nachdem er eine Stellung als Kronanwalt am Hochgericht in Tours erhalten hatte, sah Saint-Martin ein, daß seine Verantwortlichkeiten als richterlicher Beamter seine ganze Zeit in Anspruch nehmen würden. Mit seines Vaters Zustimmung entschied er sich für den militärischen Beruf, denn er glaubte, daß "er im Frieden Muße haben würde, seine Meditationen durchzuführen und den Menschen zu studieren", um seinen Freund und Bewunderer J. B. M. Gence zu zitieren. So beginnt er mit 22 Jahren mit einem Leutnantspatent in einem in Bordeaux in Garnison liegenden Regiment die nächste Stufe seiner Entwicklung.

Es war als wäre er, wenn auch unbewußt, einem Ariadnefaden gefolgt, denn schon im nächsten Jahr (1767) begegnete er Martinez de Pasquales, einem spanischen Freimaurer und Rosenkreuzer, der ihn einlud in seinen Orden der Auserwählten Cohens (Priester) einzutreten. Der junge Subalternoffizier führte die Exerzitien mit Begeisterung durch. Als er achtundzwanzig Jahre alt war fühlte er, daß er aus der Armee ausscheiden und sein Leben der Sache widmen müsse. Aber bald wuchs er über die Riten der Cohens hinaus. Wie zwanzig Jahre später an Kirchberger geschriebene Briefe beweisen, hielt Saint-Martin dessenungeachtet eine dankbare Verehrung für seinen ersten Mentor aufrecht und glaubte, wenn er noch gelebt hätte, würde er es vorgezogen haben den "inneren" Weg zu lehren, statt des "äußeren". Am 12. Juli 1792 schrieb er an seinen Freund:

Mein Lehrer in all diesen Dingen war ein Mensch von tatkräftiger Rechtschaffenheit. ... Und dennoch spüre ich eine beständige starke Neigung für den innersten, geheimen Weg, so daß mich dieser äußere, selbst in meiner Jugend, nicht genügend fesselte. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren war ich in alle diese Dinge eingeweiht worden. Aber mitten in alledem, was für andere so anziehend war, mitten in den Übungen, Formeln und Vorbereitungen aller Art, in denen wir geschult wurden, eiferte ich wiederholt gegen unseren Meister, "kann das alles notwendig sein, um Gott zu finden?"

Mit dreißig Jahren hatte Saint-Martin sein eigentliches Tätigkeitsfeld gefunden, das zwei Richtungen umfaßte: erstens, den privaten gesellschaftlichen Verkehr mit Persönlichkeiten der höheren Gesellschaftskreise in Lyon, Paris und Bordeaux, die er für die tieferen Probleme des Lebens zu interessieren hoffte, und zweitens die literarische Tätigkeit. Im Jahr 1782 veröffentlichte er sein Tableau Naturel oder "Natürliche Darstellung der Entsprechungen zwischen Gott, Mensch und Universum", das den Fall des Menschen in die Zeugung beschreibt, aber auch die Hoffnung beläßt, daß er durch die Ausübung seines Willens und seiner inneren moralischen und intellektuellen Fähigkeiten alles wieder erlangen kann, was er verlor.

Über die nächsten fünf Jahre in seinem Leben wissen wir nichts. Man nimmt an, daß er ausgedehnte Reisen auf dem Kontinent unternahm, möglicherweise sogar in Russland, obwohl das bezweifelt werden kann. Im Jahr 1787 ging er nach London, wo er mit den Schriften des verstorbenen Geistlichen William Law (gestorben 1761), einem Theosophen und ergebenen Schüler von Böhme, bekannt wurde. Aber erst nach 1788, als er drei Jahre bei Madame de Boecklin in Straßburg weilte, erkannte Saint-Martin Böhmes Bedeutung ganz. "Welche Tiefen eröffnet dieser Autor für mich!" schrieb er später an Kirchberger. In dem Schuhmacher von Görlitz entdeckte er ohne Zweifel einen Gefährten des Gemütes und des Geistes, "dessen theosophischer Mystizismus" sich den Menschen als einen "Mikrogott und Mikrokosmos" - einen Gott und einen Kosmos im kleinen - vorstellte und der seine innersten Überzeugungen ergänzte und stärkte. Er verehrte Böhme in der Tat so sehr, daß er ihn als "das größte Licht" betrachtete, "das seit Ihm, der das Licht selbst war, auf Erden erschien." Obwohl er nahezu fünfzig war und sein Augenlicht sehr schnell abnahm, lernte er deutsch, um Böhmes Eingebungen in französischer Übersetzung seinen Landsleuten mitteilen zu können.

Von seinen Schriften, die gesammelt etwa zwölf große Bände umfassen würden, schrieb Saint-Martin: "Jene mit Seele werden meinem Werk zugestehen, was ihm gebührt, aber die Seelenlosen werden ihm selbst das absprechen, was es enthält." Eine prophetische Aussage, denn 1798, achtundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Des Erreurs wurde das Werk von der spanischen Inquisition als "für die wahre Religion und den Frieden der Nationen verderblich" verdammt. Obgleich ihm das, wie manche Autoritäten sagen, sehr wehe tat, weil er selbst glaubte, Christus getreu und ein wahrer Katholik zu sein, widerrief er nie ein Wort von dem, was er geschrieben hatte. Seine einzige Antwort war, daß er jene Grundlagen der Erleuchtung, die eine Wiedervereinigung des irrenden Menschen mit Gott bringen würden, weiterhin verbreitete.

Vom Standpunkt des Suchers aus gesehen ist es ein großer Nachteil, daß zur Zeit außer diesem einen Band Briefe von Saint-Martins Schriften keine weiteren in Englisch zu haben sind. Arthur Waites Werk über den Unbekannten Philosophen enthält ausgezeichnetes biographisches Material, sowohl eine ansprechende Analyse seiner Philosophie als auch ein Literaturverzeichnis, aber es ist schon lange vergriffen. So sehr wir diesen Mangel bedauern, kann er letzten Endes dem größeren Zweck dienen, mehr die Essenz seines Lebenswerkes als seine äußere Schale zu betonen. Wie die Resonanz einer Fuge von Bach kehrt Saint-Martin immer und immer wieder zu "dem einen, das not tut, zu der Geburt des Wortes (Logos) in uns" zurück. Davon hängt alles ab, alles andere ist nebensächlich:

Das Innere oder der Mittelpunkt ist der Ursprung von allem. Solange dieser Mittelpunkt nicht zugänglich ist, können uns die größten äußerlichen Wunder vom rechten Weg abbringen, ohne uns voran zu helfen. Und, wenn ich es zu sagen wagen darf, unser Inneres sollte das richtige Thermometer, der wahre Prüfstein für das sein, was außen vor sich geht. Wenn unser Herz in Gott lebt, wenn es durch Liebe, Glauben und glühendes Gebet wirklich göttlich geworden ist, kann uns keine Illusion täuschen.

Wenn Gott für uns ist, wer kann dann gegen uns sein? Wir werden nichts als nutzbringende Verbindungen haben - kurz, nichts als die, die wir haben sollten. Dagegen empfangen wir durch Initiationen so manche, mit denen wir nichts anzufangen wissen, denn außer durch Gott und sein Ewiges Wort (Logos) in uns gibt es keine Initiation, die alles in uns und durch uns nach seinem Willen offenbart. Laßt uns daher an nichts anderes denken, als daß diese in uns geboren werde.

Seine Ansichten über die Jungfrau sind erfrischend in ihrer Klarheit und für einen Katholiken ketzerisch. Kein Wunder, daß er den Zorn seiner Kirche erregte. In einem Brief vom 21. Juni 1793 erklärt er Kirchberger, einem Protestanten, erneut, daß die Jungfrau "niemals ein Mittler für jemand sein wird, ausser dem, der nicht weiter forscht ... sie sollte nicht für jeden als unentbehrlich betrachtet werden. Ihr Werk ist vollendet, indem sie den Erlöser gebar und für uns die Quelle des ewigen Lebens erschloß. Nebenbei bemerkt, sie hat nicht dem Wort, sondern Christus Geburt gegeben, deshalb kann sie niemals dem Wort (Logos) in uns Geburt geben." (kursiv vom Herausgeber.)

Obgleich die Briefe schwer verständliche Philosophie zum Thema haben, sind sie nicht ohne allgemein menschliche Anziehungskraft. Ganz und gar nicht. Als Freunde teilten sie ihre Kümmernisse wie ihre Hoffnungen und Freuden. Wenn Kirchberger das Vergnügen erwähnt, das er an "den recht unvollkommenen Versuchen meiner Tochter auf dem Klavier" hat, bietet Saint-Martin in der Antwort an, "sie auf meiner Violine zu begleiten, denn ich spielte in meiner Jugend darauf ... und gelegentlich spiele ich noch." Den Hintergrund bildet das Dramatische: die stürmischen Ereignisse der französischen Revolution, die in beiläufigen, aber bedeutungsvollen Bemerkungen flüchtig erwähnt werden. An jenem schicksalhaften 1O. August 1792, als sich der Mob gegen die Monarchie erhob, weilte Saint-Martin in Paris zu Besuch bei seiner Schwester. Am nächsten Tag schrieb er an Kirchberger und erwähnte kurz: "Ich muß meine ganze Kraft aufwenden, um dem Sturm zu trotzen. ... Sie können schreiben, wenn Sie etwas zu sagen haben, aber sprechen Sie nur von Dingen, die uns angehen." Obwohl es immer schlimmer wurde, war Saint-Martin im Grunde davon überzeugt, daß hinter der Umwälzung eine regenerierende Kraft stand - eine Kraft, "die Tiefen entspringt, die jenen, die an dem Drama teilnahmen, unbekannt waren."

Das große Bild unserer wunderbaren Revolution fesselt mich; ich bin hier (in Paris) am besten in der Lage, sie vom philosophischen Gesichtspunkt aus aufmerksam zu betrachten. (1793)

Ich höre auf alles, ich spreche mit allen, die kommen, ... Einige gibt es, die mir im voraus fast bis ins kleinste die Erschütterung beschrieben haben, die wir eben mitmachten, woraus ich wiederum ersehen habe, welch glücklicher und mächtiger Stern über unserer Revolution waltet. (1795)

... glauben Sie nicht, daß unsere französische Revolution etwas Unbedeutendes auf Erden ist. Wie Sie aus meinem Pamphlet ersehen werden, betrachte ich sie als die Revolution der menschlichen Natur.

Die "Briefe an einen Freund, oder philosophische und religiöse Betrachtungen über die französische Revolution" betitelte Broschüre wurde 1796 in Paris veröffentlicht. Sie war von beträchtlichem Umfang und Bedeutung, und er hoffte, der Baron würde sie ins Deutsche übersetzen und sie in allen deutsch sprechenden Ländern in Umlauf bringen. Wenn Kirchberger von Saint-Martins neuartigen und in mancher Hinsicht alarmierenden Ansichten auch sehr beeindruckt war, so fürchtete er doch, daß die deutsch sprechenden Völker zur damaligen Zeit nur schlechten Gebrauch davon machen würden.

Da er zum Adel gehörte, wurde Saint-Martin bald zur persona non grata: Sein Eigentum wurde konfisziert, und mehr als einmal mußte er wegen der Briefe seines Freundes "vor unseren verfassungsmäßigen Behörden" Rechenschaft ablegen. Aber er wurde beständig durch die "zahlreichen Beweise göttlichen Schutzes, besonders während unserer Revolution" gestärkt. In einem seiner letzten Briefe, geschrieben am 30. April 1797, bezieht er sich wieder auf die "mir durch die Vorsehung zuteil gewordene besondere Bedeutung während dieser schrecklichen Zeit, denn vor allem in meiner Situation gab es dem Staat gegenüber in geldlichen Angelegenheiten, in literarischer Hinsicht und gesellschaftlich gesehen u. s. w., viele Gründe für Argwohn und Verhaftung, und doch blieb ich von einem ausgegebenen Haftbefehl verschont, da er mich erst einen Monat nach dem Fall Robespierres, der ihn erlassen hatte, erreichte. Er wurde aufgehoben, ehe er ausgeführt werden konnte."

Wir sollten jedoch keinesfalls annehmen, daß der mächtige Drang nach dem inneren Leben diese Männer in irgendeiner Weise ablenkte, ihre weltlichen Pflichten zu erfüllen. Ganz im Gegenteil! Als Saint-Martin 1794 durch den Erlaß, der die Adeligen aus Paris verbannte, gezwungen wurde, zu dem Sitz seiner Familie in Amboise zurückzukehren, übernahm er es gerne, die "beschlagnahmten Bücher und Manuskripte aus den von der Revolution aufgehobenen Klöstern seines Distrikts" zu katalogisieren. Er folgte auch dem Ruf der Republik an der Normalschule in Paris "das Lehrsystem zu lernen", um Bezirkslehrer zu werden. Später fungierte er in Amboise als einer der Wahlmänner. Für Kirchberger wurden die Verantwortlichkeiten im Dienste für sein Land immer anstrengender, aber er zögerte keinen Augenblick, jede Aufgabe mit äußerster Ergebenheit und Sorgfalt zu erfüllen. Es gab Augenblicke, in denen er als Schweizer Bürger durch die Auswirkungen, die die Geburtswehen Frankreichs auf sein geliebtes Land und auf ganz Europa hatten, in große Schwierigkeiten geriet. "Nach außen hin lächelt alles, während ich zu Hause bitteren Schmerz erdulde. Außerdem hat mir eure Revolution einen schrecklichen Schlag versetzt, von dem ich mich nie erholen werde"(13. Dezember 1795). Auf Saint-Martins Ersuchen, sich näher zu erklären, wollte er nichts weiter sagen, sondern versicherte ihm, daß sich alles klären würde, wenn sie sich treffen würden. Die ganze Zeit bleibt er der gleiche wunderbare Freund und "dem großen Werk" unbedingt treu.

Für uns ist es heute schwierig, sich ein Bild zu machen, was für ein Netz geheimer Organisationen gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf dem ganzen europäischen Kontinent existierte. Als Schößlinge ursprünglich reiner Bemühungen blühten sie in großer Zahl. Ihre Riten und Zeremonien waren unter dem Zauber des Mysteriösen mit Zeichen, Paßworten, Initiationen, mündlichen Überlieferungen und mit "vom Mund zum Ohr" weitergegebenen geheimen Formeln verborgen. Ohne Zweifel waren auch manchmal einige hoch intuitive und inspirierte Menschen beteiligt, aber wie bei allen derartigen Orden starb das Feuer schließlich und nur die schwelende Asche blieb zurück. Saint-Martin wollte mit all diesem Mummenschanz nichts zu tun haben. So lehnte er zum Beispiel 1784 eine Einladung ab, dem Orden der Philalethen oder "Wahrheitsliebenden" beizutreten. Seine unbeugsame Stärke und reine Spiritualität steigerten sich beständig, wie man in jedem Brief immer wieder feststellen konnte.

Über die Tätigkeit "unserer anderen guten Theosophen" unterrichtet, lieferte Kirchberger interessante Aufschlüsse über deren Forschungen und über den Einfluß der Werke Dr. Pordages, Jane Leads und des Engländers Thomas Browne. Saint-Martin dagegen beachtete gewissenhaft die Nöte all derer, die ihm schrieben oder persönlich mit ihm in Berührung kamen, und wenn immer er das Gefühl hatte, daß ein Same der Weisheit gesät werden konnte, besuchte er sogar "Versammlungen." Aber er kehrte immer wieder zu seinem "geliebten Böhme" als seiner Hauptquelle der Inspiration zurück.

Kirchberger andererseits fand es schwieriger den zweiten oder äußeren Weg nicht zu gehen. Er verlangte nach unmittelbarer Erfahrung. "Wollen Sie Ihr Werk unvollendet lassen? ... wollen Sie die Frucht der Korrespondenz von sechs Jahren preisgeben?", schreibt er an Saint-Martin, als er im Mai 1797, nach jahrelanger Hoffnung seinen Freund in seinem Heim in der Schweiz willkommen heißen zu können, erkennt, daß sich dieser entschieden hat, die Reise nicht zu unternehmen. Und warum? Weil er nicht die "gewünschte Eingebung" bekommen hat, die auf einen solchen Besuch hinwies, und "so stark dieser Wunsch (Kirchberger zu besuchen) auch sein mag, solange ich nicht klarer sehe als augenblicklich, muß ich warten."

Kirchberger ist schwer enttäuscht, um so mehr, als sich zeigt, daß ihm viel daran liegt, von Saint-Martin "gewisse Wahrheiten" übermittelt zu bekommen, die schriftlich nicht mitgeteilt werden konnten:

Ich bitte Sie, das alles weise zu erwägen und mir, wenn Ihnen die gegenwärtigen Umstände nicht erlauben die Reise zu unternehmen, als Ersatz wenigstens einige einführende Unterweisungen zu geben, die mich für den Verkehr mit Ihnen würdiger und geeigneter machen.

Saint-Martins Erwiderung ist ein Meisterstück mitfühlenden Verstehens und doch zähen Festhaltens am Prinzip. Initiation kann nicht erteilt, sie muß verdient werden:

Die einzige Initiation, die ich predige und mit der ganzen Inbrunst meiner Seele suche, ist jene, durch die wir in das Herz Gottes eintreten und das Herz Gottes in uns eintreten kann, ... Es gibt kein anderes Mysterium zur Erlangung dieser heiligen Initiation, als immer tiefer und tiefer in unser Wesen einzudringen und nicht nachzulassen, bis wir die lebenspendende Wurzel erreichen, ... Das ist die Sprache, der ich mich in allen meinen Briefen an Sie bediente, und wenn ich mit Ihnen beisammen sein kann, werde ich sicherlich auch nicht in der Lage sein, Ihnen irgendein Geheimnis mitzuteilen, das größer ist und Ihren Fortschritt mehr fördert, als dieses. ... Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie Hilfe brauchen und in Zukunft wahrscheinlich noch weniger, wenn Sie nur Ihre Anlagen weise nützen.

Den zwei Freunden war es nie beschieden, sich persönlich zu treffen. Nach ein oder zwei Jahren starb Kirchberger plötzlich und Saint-Martin arbeitete in Paris an weiteren Schriften. Im Jahre 1803 fühlte er sein Ende nahen und sagte zu M. Gence: "Ich fühle, daß meine Zeit um ist - die Vorsehung kann mich abberufen - ich bin bereit. Die Samen, die ich mich zu sähen bemühte, werden Frucht tragen." Am nächsten Tag ging er nach Aunay, dem Landsitz des Grafen Lenoir la Roche, wo er am 13. Oktober "ohne Kampf und ohne Schmerz" starb.

Bei den gegenwärtig in Hülle und Fülle vorhandenen spirituellen Postulaten, ist für den heutigen Sucher diese Korrespondenz ein erfrischender Wind. Die Zeiten sind wirklich außerordentlich schwierig, aber wenn wir für eine Weile den aufrichtigen und edlen Rhythmus dieses Buches aufnehmen können, entdecken wir vielleicht das eine, was nottut, wenigstens teilweise.

Fußnoten

1. THEOSOPHIC CORRESPONDENCE between Louis Claude de Saint-Martin and Kirchberger, Baron de Liebistorf, Exeter, England, 1863; translated from the French, Paris edition of 1862, by Edward Burton Penny. Reissued verbatim in 1949 by Theosophical University Press, Pasadena, California, 326 pages, $ 5.00.

THEOSOPHISCHE KORRESPONDENZ zwischen Claude de Saint-Martin und Kirchberger, Baron von Liebistorf, Exeter, England, 1863. Von Edward Burton Penny nach der Pariser Ausgabe von 1862 aus dem Französischen ins Englische übersetzt. Unveränderte Neuauflage der Theosophischen Universitäts-Druckerei, Pasadena, Kalifornien, 1949, 326 Seiten, $ 5.--. [back]

2. The Life of Louis Claude de Saint-Martin, the Unknown Philosopher, and the Substance of his Transcendental Doctrine, London, 1901. [back]