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Was bin ich?

Was ist Materie? Was ist Gemüt? Dies sind große Rätsel. Wenn Materie und Gemüt in der Natur gänzlich verschieden sind, wie kann dann die Materie jemals in das Bewußtsein eintreten und erkannt werden? Um erkannt zu werden muß sie ein Teil des Erkennenden, ein Teil von uns selbst werden.

Eine der Antworten, die uns die Philosophie auf dieses Rätsel gibt und die annehmbar ist, ist die, daß die Materie ein essentieller Teil von uns ist und schon immer gewesen ist, die gleichsam rund um uns herum ausgestreut wurde, und in der wir, die sie ausstreuten, dann leben. Sie ist verdichteter Gemütsstoff, ist wieder zu uns zurückgekehrtes Bewußtsein, um erkannt und angenommen zu werden. Man könnte es vielleicht mit einem Tintenfisch vergleichen, der in der Dunkelheit der tintenschwarzen Flüssigkeit, die er zwar selbst erzeugt hat, aber nicht mehr als die von ihm selbst geschaffene Ursache erkennt, verwirrt und geblendet umherschwimmt. Wir könnten uns vorstellen, daß er schließlich die Flüssigkeit wieder aufsaugt und zu sich sagt: "Nun, anscheinend war ich es doch selber." Danach ist Materie ein Teil unseres eigenen großen Selbstes, das uns unbekannt ist, und das wir durch Erfahrung nach und nach kennenlernen. In diesem Sinn ist Materie Unwissenheit.

Der Weise unter den Alten wußte, was die meisten von uns nicht verstehen, daß, obgleich das Gemüt, wenn auch sehr viel, doch nicht alles verstehen kann, es darüber hinaus eine Fähigkeit gibt, deren Fassungskräfte ohne Grenzen sind. Und somit kleideten sie ihre Lehren über das Universum in die Form von Fabeln, Mythen und Allegorien, die dem Gemüt eine Aufgabe stellten. Gleichzeitig regten sie die Imagination an und gaben dieser höheren Fähigkeit die Gelegenheit ihre innere Bedeutung herauszufinden. Sinnbildlich könnte die erörterte Frage wie folgt beschrieben werden:

Zu einer Zeit, als die Zeit soeben begonnen hatte und es noch nichts gab als ein neugeborenes bewußtes Licht, betrachtete sich dieses Licht und fragte sich, was es wäre, was es wohl werden würde. Es konnte sich keine Antwort geben. Und durch das starke Bemühen, sich selbst zu verstehen und auf jede Art und Weise in sich zu blicken, brach es auseinander, und aus der einen leuchtenten Bewußtseinsessenz wurden viele leuchtende Götter. Hierauf stellte sich jeder Gott die gleiche Frage - was bin ich? Keiner fand hierfür eine Antwort. Obwohl alle Götter selber Licht waren, befanden sie sich doch im Dunkel der Unwissenheit. Und diese Dunkelheit schien etwas Äußerliches, in der Tat Materie zu sein und jeder gefangene Gott empfand die ihn umgebende Finsternis und erkannte sich nicht.

Dies war die zweite Stufe der Evolution. Das Bewußtsein hatte sich verloren und kam sich vor wie dunkle, schwere Äußerlichkeit. Und lange Zeit verstrich, da es nur blinde Bewegungen der Dunkelheit und uranfängliche Schwellungen und Erschütterungen der Materie mit den in ihr eingekerkerten Göttern gab. Endlich fingen diese Lebenserscheinungen an ein wenig zu erwachen, und sie wurden gewahr, was vor sich ging. Sie entwickelten in sich jenes schwache Bewußtsein, das in den Steinen eingeschlossen ist, sodann das hellere Bewußtsein und die darauf folgende Regung, die die Pflanze in sich birgt. Allein Pflanzen und Steine, die verborgenes Leben umschließen, bedeckten das Antlitz der Erde. Das Bewußtsein unternahm einen weiteren Schritt, und die Sinne erwachten; die Empfindung erfüllte die ersten und niedersten Tiere. Diese Kräfte der Empfindung nahmen durch Kampf und Anstrengung zu und wurden zu einer stärkeren Schwingung. Das war das Aufdämmern des Gemüts.

Und endlich erkannte das Gemüt sein eigenes Wirken und wurde ein 'Selbst', ein Individuum. Dies war der Mensch, der erklärte "Ich denke, daher bin ich." Aber noch immer verbleibt die alte Frage - Was bin ich? Manche von uns stellen diese Frage; die meisten bis jetzt noch nicht. Wir begnügen uns mit dem Ich bin, das umhergeht, um sich zu vergnügen. Wir bedenken nicht, daß nun noch ein Erwachen notwendig ist. Aus der Blindheit erwachte die Empfindung, aus der Empfindung das Gemüt, und jetzt muß etwas aus dem Gemüt erwachen. Wir erwarten nicht, daß uns die Empfindung den Schlüssel für die Welt liefert; sie bietet uns nur die Oberfläche der Dinge dar, und wir dürfen es auch vom Gemüt nicht erwarten, obwohl beide auf ihre Art nützlich sind.

So wie wir, wenn wir denken wollen, die Sinne beherrschen und für eine Weile stoppen müssen, so müssen wir eine Zeitlang die Gemütstätigkeit beherrschen, wenn wir von der folgenden Fähigkeit des Bewußtseins Gebrauch machen wollen. Dann wird unser ursprünglicher Gott hervortreten und alle Kräfte zusammenfassen, die er als ihr Herr und Meister erworben hat. Hie und da haben einige Menschen diesen Zustand vollkommen erreicht, die übrigen nur teilweise. Und das Gemüt, das nicht willens ist diszipliniert zu sein, ersinnt Theorien, um zu erklären, daß es außer ihm und der Unwissenheit, Materie genannt, nichts gibt. Denn die Materie ist nicht nur Unwissenheit über uns selbst, sondern auch in bezug auf andere. Wir alle sehen einander nicht so, wie wir in Wirklichkeit sind; das wirkliche Leben von Pflanzen, Tieren und Steinen ist uns verborgen. Die Verborgenheit ist der Schleier der Materie, die natürlich ihre Gesetze hat, die von der Wissenschaft studiert werden. Doch wenn man wirklich dazu kommt einen Freund zu erkennen, fängt die Materie an zu verschwinden; sein Licht beginnt die Form zu durchdringen. Man gelangt dahin an den Schätzen und am Wesen der andern teilzuhaben, obwohl ein jeder seine eigene Individualität behält.

Das Gemüt kann dies nicht begreifen. Jupiter sprach zum Baume, der so stolz auf seine Blätter war: "Geduld, es gibt noch etwas anderes." Und alsbald blühte der Baum, und er erkannte, daß die Blätter nur eine Vorbereitung für die Blüten waren, geradeso wie das Gemüt nur eine Vorbereitung ist für das, zu dem es emporführen wird. Jupiter wußte das, denn er hatte selbst geblüht. Die Göttin der Weisheit, Pallas Athene, wurde aus seinem Kopf geboren und ist, wie man vermuten kann, von seinem Herzen aus, wo vorher im Verborgenen ihre wirkliche Geburt stattfand, dorthin gelangt. Die Weisheit erwacht zuerst im Herzen und legt darauf das Gewand reinen Denkens an, durch welches sie stets hervorleuchtet. Die Musik, z. B. ist in dieser Hinsicht ein Stück noch unbekleidete Weisheit; und Heldenmut ist Weisheit, die unverhüllt in die Heldentat auslaufen muß. Mitleid ist Weisheit an erster Stelle. Selbst heute ist in jedem von uns ein wenig Seelenlicht vorhanden; ein Erwachen hat stattgefunden, sonst könnten wir Dichtkunst oder Musik weder verstehen noch ausüben, noch mit Heldenmut übereinstimmen oder Mitleid empfinden oder das Licht der Wahrheit würdigen.

Wir wollen daher nicht vergessen, daß wir insgesamt die Welt gestaltet haben, andernfalls könnten wir niemals etwas über sie wissen. Daß wir sie so gestaltet haben erwuchs aus jener alten Frage: Was bin ich? - oder vielmehr aus unserer Unwissenheit über die Antwort. Die Materie ist Leben, das vom Leben ohne Verstehen, ohne Erkenntnis von außen her betrachtet wird. Zuerst spüren wir die Materie; dann sehen wir allmählich Schönheit und Harmonie in ihr. Hierauf nehmen wir das Leben in ihr wahr, und schließlich wird sie immer weniger, verschwindet und läßt nur das strahlende Leben, ihre zuletzt voll in Erscheinung tretende Seele oder die in Erscheinung tretenden Seelen in ihr zurück.