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Führe uns nicht in Versuchung

Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. ... Wörtlich ausgelegt, ist dies ein merkwürdiger Ausspruch. Wenn das Gebet an Gott gerichtet ist, den wir als den Vater alles Guten annehmen, welch ein Ansinnen ist es dann, ihn zu bitten, uns nicht in Versuchung zu führen. Wenn es an den Teufel gerichtet ist, als den vermeintlichen Urheber allen Übels, warum versuchen wir dann, mit so einem zu handeln? Was also ist der Sinn dieses Ausspruchs, und warum sollte der Meister Jesus auf dem Berge ihn in sein Gebet eingeschlossen haben, wenn er nicht wahren spirituellen Wert hätte?

Nehmen wir auch nur einen Augenblick an, daß der Herr, der Vater im Inneren, unser Höheres Selbst, uns absichtlich in die Versuchung hineinstoßen würde und wir ihn deshalb bitten müßten, uns vom Übel zu befreien? Oder gibt es eine Auslegung, die den Adel unserer Seele anspornen will? "O Vater im Inneren, führe uns nicht hinweg von unseren Versuchungen und Nöten, so daß wir, wenn sie an uns herantreten, sogleich das Böse als solches erkennen und seine Macht überwinden, um sie zu beherrschen." Gewiß hebt diese Haltung unsere Menschheit eher empor als das schwache Bitten, von der Versuchung verschont zu bleiben. Wer ist letzten Endes der Stärkere, der Mitleidvollere, der Weisere: der Mensch, der sich von allen Zerstreuungen des Lebens fern gehalten hat, der vor jeglicher Verlockung beschirmt war, oder jener, der von Versuchungen herausgefordert wurde, sie als solche erkannte und seinen Weg freigekämpft hat, um auf sich selbst zu stehen? Gewiß der letztere, denn mit diesem Menschen kann man rechnen, er hat seine Seelenkraft gestärkt.

Aber die Frage nach Gut und Böse ist damit noch nicht erschöpft. Die andere Seite der Betrachtung zeigt eine viel gefährlichere Falle. Das ist die Vorstellung, daß die Seele nichts wirklich kennen könne, was sie nicht an sich selbst erfahren hat, und daß wir deshalb danach trachten müßten, alle üblen Erfahrungen auf uns zu nehmen, damit die Seele wachsen kann! Das ist eine der teuflischsten Verzerrungen, der unglücklicherweise zu viele Wahrheitssucher zum Opfer fallen, vor allem auf den Gebieten des Forschens, die 'okkult' genannt werden können, aber so fern von wahrem Okkultismus sind, wie es der Tag von der Nacht ist. Solche Haltung führt auf gefährliche Wege des Denkens und Handelns. Anstatt jeglichen Versuchungen, die an uns herantreten, zu trotzen, rechtfertigen wir uns selbst, indem wir sagen: "Nun gut, ich muß alles ausprobieren, was diese Welt bietet; ich könnte diesem Impuls ruhig nachgeben und daraus die Erfahrung gewinnen." Auf diesem Wege werden wir niemals Stärke erringen, weder moralisch noch spirituell. Das bedeutet nicht "vom Übel erlöst werden", sondern in Wahrheit die Preisgabe unserer göttlichen Abstammung, indem wir, wenigstens zunächst, im Bösen aufgehen. Und außerdem betrügen wir nur uns selbst mit dem Versuch, unsere Verfehlungen reinzuwaschen, wenn wir zu der Idee Zuflucht nehmen, wir müßten alle üblen Erfahrungen suchen, um uns zu entwickeln, weil die Seele etwas nicht kennen kann, was sie nicht erfahren hat. Der wahre spirituelle Pfad läßt den Kompromiß mit dem Irrtum nicht gelten.

In alten Zeiten lag für unsere Vorfahren keine Schwierigkeit darin, ganz klar zwischen dem zu unterscheiden, was gut, und darum ihrer Meinung nach von Gott war, und dem, was böse, und darum vom Teufel war. In gewisser Hinsicht war eine gesunde Strenge in ihrem Standpunkt, dem wir im Prinzip wohl nacheifern sollten, denn er schloß keinen Kompromiß mit dem, was man als falsch erkannte.

Heute jedoch, durch die Einwirkung weltweiter Beziehungen und die Erfahrung mehr bewußter Teilnahme am Leiden anderer, stellt man sich vor, daß Gut und Böse, Licht und Finsternis, wenn sie auch im Endergebnis deutlich von einander unterschieden sind, sich doch so allmählich mit einander vermischen können, daß wir manchmal schwerlich zu sagen vermögen, wo das Böse aufhört und das Gute beginnt, wo die Unwahrheit endet und die Wahrheit übrig bleibt, wo weiß noch weiß ist und nicht ein übles Grau. Unsere Vorstellung von den grundlegenden Problemen ist getrübt worden, weil wir anscheinend unfähig sind, eine scharfe Trennungslinie zwischen dem, was recht und dem, was falsch ist, zu ziehen. Irgendwie scheint die breite Brücke der richtigen Grundsätze sich auf Haaresbreite verschmälert zu haben, so daß man fast seinen Halt verliert. Früher konnten wir mit Kipling sagen, "Recht ist Recht und Unrecht ist Unrecht, und die beiden werden niemals zusammentreffen." Aber das Leben ist nicht so. Obwohl die Prinzipien von Recht und Wahrheit und Güte die Zeitalter hindurch gültig bleiben, verlangt ihre Anwendung in unserem Leben, daß wir unseren Motiven auf den Grund gehen. Denn es ist immer das Motiv, das die Waage nach Recht oder Unrecht hin ausschlagen läßt.

Im heutigen Denken ist das Vertrauen in eine allgemein anerkannte höhere Macht merkwürdig gering geworden. Religiöse Dogmen als solche können keinen dauerhaften spirituellen Ankergrund schaffen; die Wissenschaft hat uns mit jugendlicher Kraft in einen derartig gigantischen technischen Fortschritt gestürzt, daß unser moralisches Wachstum weit überholt wurde (wenn auch nicht unsere Fähigkeit dazu), während die zahlreichen modernen Philosophien und Psychologien uns recht leer, wenn nicht verwirrt zurücklassen.

Wohin kann der Mensch sich also wenden? Die Antwort ist immer nur: nach innen - denn der Vater ist innen wie außen, und wenn wir diesen Einfluß an unserem Leben teilhaben lassen, so mag er als unser Schutzengel walten. Aber dieses Teilhabenlassen führt über einen doppelten Weg. Wir können nicht erwarten, daß der Vater unsere eigene Arbeit tut noch können wir erwarten, ständig gerettet zu werden, wenn wir unsere Herzen absichtlich von seinem Rat abwenden. Denn Rat wird gewiß gegeben, und ebenso Warnung.

Führe uns nicht in Versuchung... An wen richtet sich dieses Gebet? An niemand anderen als an den Vater im Himmel, den göttlichen Geist, der im Herzen eines jeden Lebewesens wohnt und damit auch im Menschen. Jeder von uns hat nicht nur eine Quelle geistiger Führung durch den Vater im Innern, sondern auch einen sicheren Prüfstein in der Stimme des Gewissens, welche die innere Fackel in der Tätigkeit unseres Bewußtseins im Zusammenhang mit unserer Erfahrung aus der Vergangenheit ist. Die Stimme des Gewissens ist unserer Seele angeboren. Sie spricht von den langen Zeitaltern der Erfahrung, die die Seele durchlaufen hat. Schon seit die Menschheit die behütende Führung im paradiesischen Zeitalter verließ, haben wir im Einzelnen und in der Gesamtheit, in langer Folge der Geschlechter, gesät und geerntet, geerntet und gesät, so daß heute in der Seele eines jeden von uns ein riesiger Vorrat an Erfahrung aufgespeichert ist - all dies hat die mächtige Atmosphäre von Plus und Minus geschaffen, in der wir uns heute befinden.

Unser Gewissen sagt uns nicht, was zu tun ist, wie auch Sokrates nicht von seinem Dämon erfuhr, was zu tun sei: aber es wird uns sagen, was nicht zu tun ist. Es könnte uns dieses Warnsignal nicht geben, wenn wir nicht in der Vergangenheit etwas erfahren hätten, das uns Leiden verursachte und darum den Eindruck einer Warnung in der Seele hinterließ, welche nun das Gewissen wieder in unser augenblicklich tätiges Bewußtsein zurückzurufen versucht.

Wir haben alle Arten von Erfahrungen gesammelt, viele Fehler gemacht und durch diese Fehler gelitten. Wir lernen durch den Irrtum, und die Erfahrung des Schmerzes gibt dem Gewissen Feinfühligkeit und Weisheit. Wir sollten dem ständigen Absinken in die Materie ein für allemal ein Ende setzen und im Zyklus des Fortschritts hinauf- und vorwärtsschreiten, dem Geistigen entgegen. Denn der Mensch hat den Punkt seiner Evolution erreicht, wo er sich an seinen eigenen Schuhriemen emporziehen kann und muß und nicht länger von einer äußeren Macht abhängig ist, die ihn vorwärts stoßen müßte. Wenn wir eine Haltung einnehmen, die nicht aufrecht ist oder nicht im Gleichgewicht mit unserem inneren Standpunkt, so gehen wir rückwärts, und dies hundertfach, wenn wir versuchen, uns selbst etwas vorzumachen, wenn wir glauben, daß wir "die Erfahrung brauchen", um uns zu entwickeln. Nochmals, wir haben einen Vater im Inneren, ein Höheres Selbst, und wenn es uns auch nicht in die Versuchung hinein führen wird, so wird es auch nicht zulassen, daß wir uns verweichlichen, sondern es wird uns in die Umstände hineinführen, die die Seele am nötigsten für ihre Entwicklung braucht.

Unsere Aufgabe heute ist es, mutig die Folgen unserer früheren Handlungen auf uns zu nehmen und weise für die Zukunft zu bauen. Wenn wir aufrichtig danach streben, die Aufgaben des Vaters zu erfüllen, - und der Meister weist darauf hin, daß wir dies könnten, und 'sogar größere Dinge" - dann werden wir ein weites Gebiet finden, um unsere geistige Initiative auszuüben. Denn das Leben, der große Lehrer, wird unser reichliches Maß an Gelegenheit geben.