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Gespräche am runden Tisch: Drei Pfeiler der alten Tradition

Frage: Einige unserer meist gelesenen Magazine bringen jetzt Artikel über die großen Weltreligionen. Das Magazin Life bringt zum Beispiel "Filmstreifen" in Bezug auf den Hinduismus, Maoismus, Islam etc. Wie nie zuvor, kommen jetzt auch Bücher über diesen Gegenstand heraus. Erst kürzlich überraschte mich ein Freund, von dem ich nie vermutet hatte, daß er an diesen Dingen Interesse hat, mit einer Herausgabe von Wie die großen Religionen begannen in Taschenformat. Das Buch scheint die Sache nicht tiefgehend zu behandeln, aber die Tatsache, daß es in diesem populären Format in hunderttausend Exemplaren im Umlauf ist, scheint mir recht bedeutend.

Ich muß zugeben, daß ich verwirrt bin. Man kann leicht die Ähnlichkeit der Ethik in den verschiedenen Glaubensrichtungen sehen, die Goldene Regel, die Vaterschaft Gottes usw., aber ich weiß nun kaum mehr, was ich in diesem Durcheinander von Glaubensbekenntnissen, Ritualen und Legenden glauben soll.

Antwort: Kann man Ihre Meinung dahingehend zusammenfassen: Gibt es einen Prüfstein oder ein grundlegendes Prinzip, mittels welchem man den inneren Wert eines Glaubens nachprüfen kann, ganz gleich, aus welcher Quelle er stammt?

 

Frage: Ja, das meinte ich, nur wußte ich nicht, wie ich mich ausdrücken sollte. Wie können wir beurteilen, was wahr und was nicht wahr ist?

Antwort: Dieser Wunsch, die spirituellen Wurzeln anderer zu verstehen, ist eines der ermutigendsten Zeichen des Jahrhunderts, aber gerade unser heftiges Verlangen, hinauszugreifen, um jeden Begriff und jede Ideologie zu erfassen, eben weil sie von unseren Ideen verschieden sind, könnte eine wirkliche Gefahr in sich schließen. Sie haben tatsächlich den Finger sowohl auf die Stärke, wie auf die Schwäche des gegenwärtig erwachenden Interesses an den Religionen anderer gelegt, denn eines der größten Hindernisse für gesundes Wachstum ist die Neigung, diese oder jene Person anzuerkennen oder nicht, oder diese oder jene Darstellung als das letzte Wort zu betrachten. Das letzte, maßgebende Wort ist nicht gesprochen worden, weder über Philosophie noch über Religion und gewiß nicht in der Wissenschaft. Es könnte auch nicht gesagt werden, sonst würde es keine Gelegenheit für ein Wachstum geben. Es gibt keine letzte Autorität, keine endgültige Darlegung, kein "letztes Wort" über die Wahrheit.

 

Frage: Aber gibt es nicht einen gemeinsamen Nenner, an den wir uns halten können? Ich scheine über die religiösen Begriffe, nach denen ich erzogen wurde, hinausgewachsen zu sein, obgleich die Ethik so gesund ist wie immer. Aber ich scheine meinen festen Boden verloren zu haben. Zumindest bin ich unbefriedigt. Irgendetwas in mir scheint mich beständig vorwärts zu schieben, um herauszufinden, was überhaupt los ist, warum ich hier bin und wie sich dieses kleinere Ich in das größere Bild einfügt. Gibt es nicht irgendeinen Schlüssel oder Prüfstein, wie Sie sagten, mit dem man wirklich arbeiten kann?

Antwort: Den gibt es tatsächlich und obgleich es kein "letztes Wort" über die Wahrheit gibt, bedeutet das weder, daß die Wahrheit nicht existiert, noch daß der Mensch unfähig ist, sie zu finden. Was ist Wahrheit? Sie ist gleich dem Horizont, der uns immer entschwindet, der aber immer vor uns ist. Wenn wir wissen möchten, was jenseits des Horizonts ist, wandern wir die Straße entlang, die zu ihm führt. Wenn wir aber dort ankommen, hat sich der Horizont weiter bewegt und er wird sich immer weiter bewegen. Genau so ist es mit der Wahrheit: Wir werden nie den "letzten Horizont" der Wahrheit erreichen, weil es immer wieder einen anderen und wieder einen anderen gibt, der uns immer vorwärts führt.

So hat der Mensch, seitdem er ein selbstbewußtes Wesen wurde, immer nach jenem Etwas gesucht, das ihm einen klareren Schimmer der Wahrheit vermitteln würde. Nennt es den Heiligen Gral, den Stein der Weisen oder das Goldene Vlies - immer hat dieser Hunger nach Wahrheit seinen Willen zum Forschen lebendig erhalten. Das ist es, warum die großen Religionen bestehen blieben, einige von ihnen tausende von Jahren, weil, ganz gleich welche Form sie annahmen, hinter jedem Dogma und Ritual ein bißchen Wahrheit steckt. In der Tat, je tiefer wir in die Wurzeln der verschiedenen Religionen eindringen, desto klarer erkennen wir ihre gemeinsame Quelle.

 

Frage: Warum ist das so? Was ihre Gebräuche betrifft, scheinen sie sehr verschieden zu sein. Könnten Sie nicht gerade darüber mehr sagen?

Antwort: Wie kommt es, daß, je weiter wir zu ihrem Ursprung vordringen, die Lehren immer einfacher und reiner und einander immer ähnlicher werden? Einfach daher, daß wir uns gewissen grundlegenden spirituellen Prinzipien, welche als heilige Überlieferung durch die Zeitalter durchgesickert sind, um so mehr nähern, je weiter zurück wir die Vergangenheit - auch in die Vorgeschichte - erforschen. Es besteht daher guter Grund zur Annahme, daß in einer sehr frühen Periode der menschlichen Geschichte bestimmte Wahrheiten dem Bewußtsein der kindlichen Menschheit eingepflanzt wurden, die später unter den Völkern der Erde universale Vervreitung fanden. Die konfessionellen Ausschmückungen waren aber so umfassend, daß es schwierig ist, das ursprüngliche Rahmenwerk dieser alten Tradition zu enthüllen. Nichts destoweniger hat jede große Religion, was ihren Inhalt und ihre Inspiration betrifft, auf diese alte Tradition zurückgegriffen. Sie bildete auch die Grundlage für die Belehrung und Schulung in den alten Mysterienschulen von Griechenland, Kleinasien, Ägypten und Indien. Sie wurde auch die Weisheitsreligion des Altertums genannt.

 

Frage: Um die Übereinstimmung all dieser Glaubensrichtungen herauszufinden, müssen wir, wie ich vermute, ungeheuer viel studieren und forschen.

Antwort: Nein, durchaus nicht. Während die grundlegenden Prinzipien dieser Tradition ziemlich dunkel zu sein und an hohe Philosophie zu grenzen scheinen, werden wir, wenn wir sie analysieren, entdecken, daß sie unseren eigenen Alltagserfahrungen sehr nahe kommen und somit ganz verständlich sind.

Wer von uns hat zum Beispiel noch nicht über das Mysterium Gottes nachgedacht und darüber, wie sein Einfluß gleichzeitig überall wirksam sein kann? Wenn wir zu den Sternen emporblicken und die Milchstraße mit ihren dunklen Flecken und glänzenden Sternenhaufen sehen, ist das nicht das größte aller Mysterien? Unsere Wissenschaftler mit ihren 100- und 200zölligen Teleskopen rücken den Raum immer weiter und weiter in die Unendlichkeit hinaus, indem sie mehr und immer mehr Universen entdecken, die dem unseren ähnlich sind. Es taucht die unumgängliche Frage auf: Was ist der Raum? Und die Antwort ist: Er hat weder Anfang noch Ende. Wenn wir daher das betrachten, was die Wissenschaftler Novae und Proto-Sterne nennen, womit sie Sterne meinen, die anscheinend verschwinden und neue Sternmaterie, die zu Sternen wird, dann können wir nicht umhin festzustellen, daß in der ganzen Natur ewiger Rhythmus und ewige Bewegung herrschen.

Ich will jetzt versuchen, so klar ich kann zu erklären, auf welchen drei grundlegenden Prinzipien meiner Meinung nach die alte Tradition oder Weisheitsreligion beruht. Später können wir dann über dieselben sprechen. Das erste Prinzip ist:

1) daß hinter allem im Universum das Unerkennbare, der gewaltige Abgrund des Raumes, die Wirklichkeit steht. Da es uns unmöglich ist, das zu beschreiben, nennen wir es einfach die Unendlichkeit, ohne Anfang, ohne Ende, denn es ist ohne Attribute oder endliche Qualitäten. In den verschiedenen Religionen wurden ihm bei dem Versuch, den Raum oder das Grenzenlose zu beschreiben, alle Arten von Namen gegeben; dies war jedoch zwecklos, weil der Mensch das Undefinierbare nicht definieren kann. Die Verfasser des Alten Testamentes sprechen davon in der Genesis als "formlos und leer" und als "Dunkelheit auf dem Antlitz der Tiefe". Die Buddhisten nannten es ebenfalls die Leere oder das Leersein, weil bis jetzt noch nichts Form angenommen hatte. In der isländischen Edda nannten es die alten nordischen Barden die "Gähnende Tiefe"; während der Zohar der Kabbala den Ausdruck Ein Soph benützt, welcher "ohne Grenzen" oder "das Grenzenlose" bedeutet.

Aus diesem scheinbaren Nicht-Sein - das keineswegs "Nichts" sondern ein Zustand voll erwartungsvollen Lebens ist, - folgt der zweite grundlegende Begriff:

2) daß Bewegung, Rhythmus oder das periodische Erscheinen des Grenzenlosen aus der "Dunkelheit" in das "Licht", das Wirken der Gottheit darstellt, wie sie in die Manifestation durchbricht - ein Wort, das eine Periode der Aktivität bezeichnet im Gegensatz zu dem Zustand der Ruhe, in welchem sie sich während ihrer Ruheperiode befand. Eine alte Schrift drückt dies so aus: Wie die Ebbe und Flut der Gezeiten kommen und gehen, so erscheinen und verschwinden zahllose Universen, "Funken der Ewigkeit" genannt, mit allem was sie enthalten. Mit diesem Gesetz der Periodizität sind wir ganz vertraut, denn der Rhythmus der Naturzyklen ist in dem Wechsel von Tag und Nacht, Geburt und Tod, Wachen und Schlafen, in dem Zunehmen und Abnehmen des Mondes und in dem Zyklus der vier Jahreszeiten zu sehen.

 

Frage: Sind wir dann als menschliche Wesen durch dieses Gesetz von Ebbe und Flut gebunden? Wo bleibt da unser freier Wille? Es sieht aus, als ob wir aus der Dunkelheit in das aktive Leben treten müßten, wenn ein Universum erscheint; und wenn das so ist, wie fügt sich dann unsere eigene individuelle Evolution in das größere Bild ein?

Antwort: Wir eilen uns selbst ein wenig voraus. Was unser allgemeines Wachstum und unseren Fortschritt betrifft, sind wir glücklicherweise durch die Naturgesetze gebunden. Als Teil des Ganzen müssen wir natürlicherweise dem System dieses Ganzen folgen, wenn wir auch für das Weben unseres individuellen Musters innerhalb des größeren selbst verantwortlich sind. Doch ehe wir weitergehen, möchte ich kurz das dritte Prinzip darlegen, denn es berührt gerade die Punkte, die Sie aufgreifen.

3) Auf das erste und zweite Prinzip, auf das der Dunkelheit auf dem Antlitz der Tiefe und des Aufleuchtens der zukünftigen Universen folgend, behauptet das dritte Prinzip "die grundlegende Identität aller Seelen mit der universalen Oberseele". Lassen Sie sich durch die Worte nicht verwirren. Das bedeutet einfach, daß jeder Teil eines Universums - von den Milchstraßen bis zum Menschen und weiter abwärts durch die niedrigeren Reiche - im Großen oder Kleinen alle Ausdrücke einer göttlichen Intelligenz, "Funken der Ewigkeit" sind und jeder Teil essentiell mit Gott oder der universalen Oberseele identisch ist, um mit Emerson zu sprechen.

 

Frage: Sie wollen damit sagen, daß wir alle eins sind, das heißt, daß wir alle von essentieller Göttlichkeit sind?

Antwort: Nicht identisch im Ausdruck, weil wir alle, sozusagen individuelle Gottesfunken von der einen göttlichen Intelligenz sind, die dieses ganze Universum durchdringt. Aber es steckt noch mehr hinter diesem dritten Prinzip: Wenn das Universum aus seinem latenten Zustand, aus der Dunkelheit ausgeatmet wird, fühlt es und auch alle potentiellen Samen des Lebens in ihm die zwingende Kraft, sich zu manifestieren, d.h. einen weiteren Zyklus aktiven Wachstums zu beginnen. Deshalb muß jede Wesenheit, einschließlich der Mineral- Pflanzen- und Tierformen, durch die Kraft des evolutionären Dranges durch jede Phase der Erfahrung gehen, bis das menschliche Reich erreicht ist. Von da an müssen diese Gottesfunken durch ihre eigenen selbstbewußt geleiteten Anstrengungen nach und nach ihre essentielle Gottheit entfalten, so daß sie mit der Zeit das Recht verdient haben werden, wahrhaft selbstbewußte Götter zu werden.

Es ist eine lange Pilgerschaft, die manchmal der "Zyklus der Notwendigkeit" genannt wird - ein passender Ausdruck, weil er besagt, daß das ganze Evolutionssystem die Notwendigkeit in sich schließt, zu wachsen, sich zu entwickeln, aus allem Nutzen zu ziehen, was die Natur in all ihren Reichen hinsichtlich Erfahrung zu bieten hat. Aber bitte beachten Sie, daß wir als Menschen niemals Minerale, Pflanzen oder Tiere waren. Jedoch als "Funken der Ewigkeit", als Gottesfunken betrachtet, mußten sie ihren Vorrat an Erfahrung bereichern, indem sie Mineral-, Pflanzen- und Tierkörper benützten - doch nur als vorübergehende oder zeitweilige Ausdrucksmittel. Gott wird nicht der Stein oder die Pflanze, aber ein Aspekt Gottes oder der göttlichen Intelligenz ist der Brennpunkt in jedem Stein, jeder Pflanze oder in jedem Tier. Genau wie wir nicht sagen können, daß unser innerer Gott ein menschliches Wesen ist, sondern als ein Funke des Göttlichen benützt er unser menschliches Vehikel als sein gegenwärtiges Werkzeug, um sich zum Ausdruck zu bringen. Dies ist ein höchst wichtiger Unterschied, der gemacht werden muß und der einen wertvollen Schlüssel für unsere Betrachtung der verschiedenen Heiligen Schriften enthält.

 

Frage: Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das alles noch einmal in wenigen Worten sagen, das ganze Bild noch einmal darstellen würden. Ich folgte Ihnen zum größten Teil, blieb aber dann irgendwo im Mineralreich hängen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, eine kurze Zusammenfassung zu geben?

Antwort: Ich kann schwerlich jemand tadeln, wenn er "hängengeblieben" ist, wie Sie sagen. Dieses ganze Bild ist so gewaltig und während die Prinzipien in ihrem Wesen einfach sind, können ihre Verzweigungen außerordentlich kompliziert werden. Zuerst besteht vor der "Erschaffung" von Himmel und Erde die große Leere, die Dunkelheit auf der Tiefe, die Unendlichkeit, grenzenloser, schrankenloser Raum, das Unerkennbare, ohne Attribute oder Qualitäten. Dann rührt sich das Göttliche wie das Wogen eines großen Atems, der "Geist Gottes" bewegt sich auf dem Antlitz der Tiefe und ein Universum tritt ins Dasein. Dann sind alle Abstufungen lebender Wesenheiten innerhalb des umfassenden Bereichs eines Universums vom entferntesten Stern bis zum niedrigsten Atom individuelle Ausdrucksformen der Gottheit, der göttlichen Intelligenz; und so trägt jede Facette jenes Universums den Stempel der Gottheit und hat nicht nur die Gelegenheit, sondern die Pflicht, mit der Zeit selbstbewußt gottähnlich zu werden. So beginnt er seine lange Entwicklungsreise durch alle Reiche der Natur, beendet schließlich als voll entwickelter Gott zusammen mit dem Universum seine Periode der Tätigkeit und wird in eine Periode der Ruhe eintreten.

 

Frage: Das ist wunderbar, aber wo fügt sich hier Gott in dieses Schema ein?

Antwort: Das hängt davon ab, welchen Begriff Sie von Gott haben. Ich glaube, daß nicht zwei von uns über Gott in der ganz gleichen Weise denken.

 

Frage: Ich glaube nicht an Gott als eine Person mit erhabener totalitärer Macht, die fähig ist, jeden Wunsch zu gewähren. Doch weiß ich wirklich nicht, was ich nun eigentlich über Gott denke. Es ist so schwer, diese Dinge auszudrücken, weil wir von Kindheit an gelehrt wurden, uns Gott als eine Art Wesen vorzustellen; ganz gleich wie weit unser Begriff ist, ist er für uns immer noch mehr oder weniger eine Person. Ich liebe die Idee, daß alles ein Aspekt Gottes ist, aber könnten Sie nicht Gott zu allem in Beziehung bringen, wie Sie gesagt haben?

Antwort: Wir sollten nicht zu angestrengt versuchen, alle diese Ideen in unseren Gemütern systematisch zu ordnen, den Gott hier, den Raum da drüben und die Materie sonst irgendwo. Diese Frage in Bezug auf Gott variiert in den verschiedenen Glaubensrichtungen und Philosophien so stark, daß es manchmal schwierig ist, zu versuchen, eine Beziehung zwischen dem einen und dem anderen Begriff über Gott herzustellen. Sie werden sich erinnern, wie selbst die Verfasser des Alten Testamentes ohne Erfolg versuchten, Gott einen Namen zu geben. So gaben Sie ihm etwa 77 verschiedene Namen, die sie freimütig als 77 verschiedene Eigenschaften ihres Herrgotts bezeichneten. Andere Völker, die anderen Richtungen spiritueller Entwicklung folgten, benützten eine andere Terminologie. Sir James Jeans stellte sich Gott in einem seiner bekanntesten Bücher, in Das geheimnisvolle Universum, als einen großen Mathematiker vor, indem er sagt, daß die ganze Manifestation der Ausdruck eines großen Gedankens sei.

Eine unserer Schwierigkeiten entspringt der falschen Anwendung unseres eigenen spirituellen Erbes: Obgleich die Genesis besonders betont, daß der Herrgott den Menschen "nach seinem Bilde" machte, haben wir Gott nach unserem Bilde gemacht, das heißt wir haben den Vorgang umgekehrt und Gott menschliche Eigenschaften zugeschrieben und haben dabei nur versucht, diesen göttliche Größe zu geben!

Wir wollen alle diese begrenzenden Begriffe beiseite lassen und Gott als die göttliche Intelligenz betrachten, welche die Wurzel und der Ursprung von allem ist, das innerhalb des Bereiches eines Universums lebt und sich bewegt, ob es nun ein makrokosmisches oder mikrokosmisches Universum, ob es ein Stern oder ein Mensch, ein Baum oder ein Atom ist. Gott ist in dem Herzen eines Baumes, aber Gott ist nicht der Baum; im Kern jedes kleinsten Atoms auf allen Feldern des Raumes ist Gott, aber Gott ist nicht das Atom; und so ist es auch mit dem Menschen. Gott ist kein menschliches Wesen. Aber ein menschliches Wesen könnte nicht existieren, wenn es nicht in Gott wurzeln würde. So sind Sie und ich als "Aspekte Gottes", als Teile dieser göttlichen Intelligenz, wahrhaft Teile Gottes und eines Tages werden wir dies vollkommen begreifen.

 

Frage: Welche Beziehung besteht dann zwischen Gott und dem Unerkennbaren oder diesem ersten Prinzip, das Sie auch das Grenzenlose nannten?

Antwort: Wenn wir vom Unerkennbaren sprechen, müssen wir versuchen, in unserer Imagination in die Unendlichkeit vorzustoßen. Das ist natürlich eine Unmöglichkeit, nichtsdestoweniger werden wir aber dadurch einem Verständnis dessen näherkommen, was das Unerkennbare ist. Es ist die Leere, aber es ist auch, wie die alten Griechen es nannten, das Pleroma, die "Fülle" - und zwar buchstäblich, denn es ist übervoll mit den schlafenden Samen von zukünftigen Universen.

 

Frage: Sie benützten diesen Abend schon einmal den Ausdruck "geladen mit werdendem Leben". Ist es das, was Sie hier meinen?

Antwort: Genau das. Welche Beziehung besteht dann zwischen Gott und dem Unerkennbaren? Wir möchten sagen, daß das Grenzenlose, das Unerkennbare, die ruhende Gottheit ist (wenigstens von unserem Gesichtspunkt aus). Während der Augenblick der Tätigkeit wahrgenommen wird und die Manifestation beginnt, erwacht Gott - oder der vorher schlafende Gottesfunke - zum Leben. Sobald daher das erste Erzittern der Vitalität gefühlt wird, treten Trillionen von diesen Gottesfunken wie ein großes Ausströmen des göttlichen Atems von der Latentheit in die Tätigkeit, von der Dunkelheit ins Licht. Danach beginnen alle diese verschiedenen Typen von Gottesfunken, durch die Notwendigkeit oder durch Karma gezwungen, ihre evolutionäre Reise (deshalb wird es der "Zyklus der Notwendigkeit" genannt), wobei sie durch die verschiedenen Reiche gehen. Wenn einmal das menschliche Reich erreicht ist und Selbstbewußtsein erlangt wurde, dann müssen diese Gottesfunken ihren eigenen Weg durch die Hohe Schule des Lebens gehen und Götter werden.

 

Frage: Es sieht so aus, als ob wir einen schrecklich langen, beschwerlichen Weg vor uns hätten, ehe wir irgendwo dem gottähnlichen Zustand nahe kommen. Wievielt freien Willen haben wir, oder sind wir gezwungen, nur diesem Zyklus der Notwendigkeit zu folgen?

Antwort: Wir haben natürlich die Macht der Wahl und die Freiheit des Willens innerhalb der weiten Grenzen des universalen Gesetzes. Während es stimmt, daß die Gottesfunken während der Periode, in der sie Mineralkörper und später Pflanzen- und Tierformen benützten, ihre Erfahrung mehr oder weniger automatisch gewannen, weil sie von dem großen Impuls des sich vorwärts bewegenden Lebensstromes dahingetragen wurden, trat doch, sobald sie sich in menschlichen Körpern manifestierten, noch ein anderer Faktor in Erscheinung - das Entzünden der Feuer des Gemütes in der kindlichen Menschheit. Dies ist eine der schönsten Episoden in der spirituellen Geschichte des Menschen. Welchen Namen wir jenen "Lichtbringern" auch geben mögen, jede Heilige Schrift der Welt hat das Wissen in Bezug auf ihre heiligen Funktionen bewahrt, obgleich dasselbe durch die jahrhundertelange, begrenzte und persönliche Auslegung eine gänzlich falsche Bedeutung angenommen hat. Es gab keine "Schlange des Bösen" - sondern Luzifer oder der gefallene Engel war wirklich ein "Lichtbringer". Der Wagemut eines Prometheus brachte die flammende Fackel von den Göttern herab, damit jener selbstbewußte Kontakt mit unserem schlafenden Gottesfunken den Menschen seine ihm innewohnende Göttlichkeit gewahrwerden ließ.

 

Frage: Ist dann wirklich etwas an der Geschichte der Genesis, an dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis?

Antwort: Ganz gewiß. Alles ist vorhanden, nur haben wir es derart falsch verstanden, daß fast die ganze Schönheit verloren ging. Mit diesem Erwachen kam die Trennung der Geschlechter, so daß wir von da an begannen, als Männer und Frauen mühsam unsere eigenen individuellen Wege zu gehen, wobei wir natürliche Fehler machten, aber den ganzen Weg immer strebten, wuchsen und lernten.

Wegen der vorgeschrittenen Zeit müssen wir eine weitere Diskussion auf ein andermal verschieben. Wenn wir uns weiter nichts im Gedächtnis behalten können, wollen wir uns diese eine erhabene Idee einprägen: Jedes kleinste Element ist ein Ausdruck der göttlichen Intelligenz, eine Differenzierung der Essenz des Unerkennbaren. Durch die langen Zyklen der Erfahrung wird jeder Göttlichen Essenz die Gelegenheit gegeben, zu ihrem Vater zurückzukehren, bereichert durch ihre Reise durch alle Reiche der Natur, sowohl derjenigen unter- wie auch der über dem Menschen. In einem sehr wirklichen Sinne ist das die Parabel vom verlorenen Sohn, der nach mannigfaltigen Erfahrungen in den materiellen Sphären sich schließlich nach dem Hause seines Vaters zurücksehnt. Wenn er dann in seine Heimat zurückkehrt, herrscht große Freude, denn wieder einmal hat ein Gottesfunke den Zug der Materie überwunden und in selbstbewußter Erkenntnis Vereinigung mit dem Vater, seiner bleibenden Göttlichkeit, gefunden.

Es ist dies ein schönes Bild, und wenn wir diese drei grundlegenden Prinzipien oder Fundamente der Weisheitsreligion einmal erfassen, begreifen wir, daß sie tatsächlich einen Prüfstein bilden, mit dessen Hilfe wir viele sich widerstreitende Begriffe der Völker jeder Religion prüfen können, denn trotz der Kristallisation liegt im Kern jedes Glaubens der Same der Wahrheit.