Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Band 8: Runden und Rassen

Das Mysterium von Gut und Böse

Der sogenannte Sündenfall des Menschen – in der Bedeutung, die man ihm meistens beimisst – bezieht sich auf das Ereignis im Garten Eden, als die Schlange Adam und Eva dazu verführte, die verbotenen Früchte vom Baum des Lebens zu essen. So erlangten die Menschen Kenntnis von Gut und Böse. Sie fielen in Ungnade, mussten das Paradies verlassen und waren von nun an gemeinsam mit ihren Nachkommen mit der Erbsünde belastet. Nach der Alten Weisheit steht der Garten Eden für jene Periode in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die mit dem Kindheitsstadium verglichen werden kann. Die Menschheit war noch nicht im Besitz des Selbstbewusstseins, das in der Genesis durch die Schlange geweckt wird, die in ihrer Rolle als Lichtbringer (was die Bedeutung des Wortes Luzifer ist) auftritt. Der Sündenfall ist also in Wirklichkeit ein wichtiger Schritt in der Evolution der Menschheit, durch den sie befähigt wurde, zielbewusst zu wählen und ihre eigene Evolution selbstständig zu beginnen.

Das ist das Licht, das die Weisheitsreligion auf das Mysterium von Gut und Böse wirft, das überall, wo das Wissen über die alten Lehren verloren geht, die Menschen verwirrt. Die meisten von den Menschen verfassten Theorien zur Erklärung dieses Mysteriums beachten die göttliche Seele im Menschen nicht. Der Mensch, ein potenzieller Gott im Äußeren, ein wirklicher Gott im Inneren, hat sich selbst die Überzeugung aufgedrängt, ein Wurm im Staube zu sein. Anstatt das Augenmerk nach innen zu lenken, haben wir den Blick nach außen gewendet und sehen allein die tanzenden Schatten der Illusion. Wir haben unseren Weg im Labyrinth der Materie verloren und den Faden fallen gelassen, der uns zu unserer Heimat zurückführen könnte.

Hat Gott die Menschen tatsächlich ‘böse’ erschaffen? Sind sie unwiderruflich und hilflos zur Bestrafung verdammt? Zum Glück beginnen wir in zunehmendem Maße, den erniedrigenden Charakter dieser Vorstellung einzusehen. Manche Menschen vertrauen auf ihre Intuition und suchen erst gar nicht nach einer Lösung; sie wenden sich unbewusst an ihren inneren Gott. Andere kümmern sich nicht um Konsequenzen und folgen im Leben nur ihren Wünschen. Die Theosophie gibt eine Antwort, die ernsthafte Erwägung verdient.

Das, was mit der großen Linie der Evolution übereinstimmt, was die Entfaltung göttlicher Möglichkeiten fördert, was nach stets größerer Vollkommenheit strebt – das ist gut. Das ganze Universum unterstützt diese Richtung. Aber das, was sich dieser Richtung widersetzt, was das Muster der Natur zu behindern trachtet, ist falsch und wird früher oder später untergehen. Diese Widerstände sind zwar notwendig, um Kraft und Wissen zu entwickeln, aber die Gegenkräfte gehören im Plan der Natur normalerweise zum Bereich der Unwissenheit. Wenn wir also über Hindernisse stolpern, die wir infolge unserer dualen Natur in uns selbst finden müssen, lernen und wachsen wir. Wenn sich jedoch das persönliche Ego bewusst mit der niederen, materiellen Seite der Natur verbindet, werden die Folgen mit dem Wachstum immer ernsthafter und müssen – wenn darauf beharrt wird – zur Vernichtung dieser Persönlichkeit führen.

Bevor die Mānasaputras in die Menschheit inkarnierten, konnte es keine Sünde oder moralischen Fehler geben, aber in dem Moment, als der Verstand erwachte, entstand das Bewusstsein von Gut und Böse, es gab einen freien Willen, aber auch Unerfahrenheit und Unwissenheit. Wie gesagt besteht der richtige und einfache Weg darin, in Harmonie mit den großen Strömen der Evolution zu arbeiten. Wer das tut, hinter dem steht das Universum, und er findet keine Hindernisse in sich. Falsch ist es, in die andere Richtung zu rudern.

Jedoch muss die Frage beantwortet werden, warum ein Mensch gegen das moralische Gesetz verstoßen möchte. Dr. G. de Purucker sagt in Studies in Occult Philosophy, Seite 72:

„Was ist es im Menschen, das ihn sündigen lässt?“ Welcher Teil des Menschen sündigt? Ist es sein Körper? Offensichtlich nicht, denn sein Körper ist nicht mehr als ein Sklave, ein Werkzeug für den innewohnenden Geist. … Ist es sein Geist? Offensichtlich nicht, denn er ist ex hypothesis makellos, ohne Sünde und aus der Essenz des Göttlichen. Es ist auch weder der Astralkörper, noch sind es die bloßen Lebenskräfte, denn letztere sind nur vitale Ströme, die durch den Willen getrieben und vom Denkvermögen geleitet werden. Nun könnte angenommen werden, es sei das Kāma im Menschen, das ihn sündigen lässt – seine Wünsche und Leidenschaften. … Nein. Was im Menschen sündigt, ist seine Intelligenz. Die Sünde liegt in der Wahl, in der Handlung. Es ist der Pfad zur rechten oder zur linken Hand. In dieser Wahl liegt Sünde oder Übeltun.

Nehmen wir zum Beispiel ein Kind; ein Kind, das noch nicht gelernt hat, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, sündigt nicht, was es auch immer tut. Es ist intellektuell unbewusst, unwissend. Ein Tier sündigt nicht, es besitzt nicht die Kraft der menschlichen Wahl. Diese Kraft entwickelt sich langsam, weil die mānasischen Kräfte ihrerseits allmählich in Tätigkeit treten, aber die Fähigkeit zur Wahl, die einem Tier innewohnt, ist im Vergleich mit der menschlichen nur unbedeutend. Deshalb sagen wir, dass ein Tier nicht sündigen kann. Der Mensch sündigt, weil er die Wahl trifft, die inneren Kräfte zu missbrauchen.

… Und genau aus diesem Grund fiel die vierte Wurzelrasse. Weder das Kāma, das in der vierten Wurzelrasse am stärksten entwickelt oder evolviert war, noch die ungeheuren Kräfte, die durch die üble Wahl hervorgerufen wurden, brachten die schrecklichen Folgen zuwege. Das Übel lag in der falschen Anwendung des Verstandes. Der Mensch sündigte in seinem Intellekt, in seinen Imaginationen, seinem Denken und Wählen. Es gibt ein altes lateinisches Sprichwort, das seit frühen Zeiten von den Christen angenommen wurde: Ubi voluntas est, peccatum est; ubi voluntas non est, peccatum abest. Wo der Wille ist (das heißt die Wahl), ist Sünde; wo kein Wille ist (das heißt keine Wahl), ist keine Sünde. Ein völlig geisteskranker Mensch sündigt nicht, was auch immer er tut, denn für ihn gibt es keine Wahl. …

Sobald die Söhne des Denkens auf dem absteigenden Bogen in den unbewussten ‘Menschen’ jener Zeit das Feuer entfacht hatten, konnten diese sündigen und sie taten es. Da sie aber noch verhältnismäßig etherisch und wenig evolviert waren, war ihre Wahl schwach und schwankend, ohne viel Kraft hinter ihrem Kāma. Die treibende Kraft war noch nicht voll zur Geltung gebracht. Erst in der vierten Wurzelrasse stand sie in voller Blüte, und der Intellekt konnte kraftvoll wählen und handeln. Darum wird in der fünften Wurzelrasse die große Zeit der Entscheidung kommen, sobald der Intellekt voll entwickelt sein wird.

Für jene Wesen, die sich ober- oder unterhalb der Ebene befinden, auf der das menschliche Bewusstsein sich gegenwärtig bewegt, gibt es keine Empfindung des Getrenntseins. Die über das menschliche Stadium hinaus gestiegenen vollkommenen Wesen erkennen in ihrer Individualität ihre Einheit mit allem Leben. Der Durchschnittsmensch lebt jedoch zum größten Teil in seiner Persönlichkeit; und gerade diese beschränkte und unentwickelte Persönlichkeit unterliegt einer Täuschung, wenn sie meint, sie könne etwas nur für sich allein erlangen oder festhalten. Selbstsucht ist Sünde und Torheit und wahrlich die Wurzel des sogenannten Bösen. Wenn das weit genug geht, verengen sich die Kanäle, durch welche dem Menschen die Lebenskräfte zufließen, und am Ende welkt er wie ein Blatt im Herbst, wenn der Saft es nicht länger erreicht. Und dennoch könnte es keinen moralischen Fortschritt ohne die Kraft geben, die aus der Überwindung dieser Täuschung gewonnen werden kann. Wenn bestimmte grobe Formen der Selbstsucht überholt oder besiegt sind, werden sie umgestaltet in Bestrebungen, die sich mit dem Grad des Wachstums erweitern, bis der Mensch mit vollem Verständnis und ausreichend erwachtem spirituellem Willen in den größeren Zyklus übergeht und sich selbst als Teil des Ganzen erkennt.

Die Komplexität der menschlichen Natur ist nicht bloß eine Redensart. Es gibt tatsächlich verschiedene Selbste im Menschen, in verschiedenen Stadien der Evolution und mit unterschiedlichen Wünschen, die erfüllt werden wollen – in der Tat ein Mysterium, aber eines, das gelöst werden kann. Die evolvierende Seele kann und soll ihren richtigen Platz finden und die Führung über die zügellosen Kräfte übernehmen, die nur all zu gerne die Macht ergreifen und im menschlichen Tempel Chaos verursachen würden. Wenn der Mensch diesen Platz und die Führung erreicht, wird er wahrlich zu einem Gott.

Aber so lange dies noch nicht der Fall ist, wird das niedere Denken, das wächst und sich entfaltet, Fehler machen. Es benutzt sich selbst auf verkehrte Weise, da es noch nicht gelernt hat, in Harmonie mit dem universalen Denken zu handeln, von dem es ein Teil ist. Schmerz, Krankheit und Leiden gehen aus diesem wachsenden Verstand hervor, das heißt, sie sind auf seine Fehler zurückzuführen, die zu Disharmonie im Körper und zu Krankheit führen. Physische Fehler verursachen physische Schwierigkeiten. Mentale Störungen verursachen mentale und später physische Qualen. Durch Schmerz und Leiden lernen wir. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, etwas schneller zu lernen. Leider unterstützen wir oft verkehrte Gedanken, halten sie fest und nähren sie solange, bis ihre Kraft ungeheuer groß ist. Glücklich ist derjenige, der erwacht und beschließt, mit seiner höheren Natur zusammenzuarbeiten, bevor diese niederen Kräfte die Oberhand gewinnen. In Theosophy: The Path of the Mystic (Seite 22-25) von Katherine Tingley finden wir folgende Worte – erfüllt von Inspiration, Ermutigung und – Warnung:

Es gibt eine große Entdeckung, die ein jeder selbst machen muss: dass die menschliche Natur dual ist und dass im Menschen unablässig ein Kampf tobt zwischen dem höheren und dem niederen Selbst, zwischen dem Engel und dem Dämon. …

Diese beiden Kräfte – die physische Kraft, geführt durch die spirituelle, und das Denken, erleuchtet durch Schätze von Wahrheit und Inspiration aus dem Höheren Selbst – diese beiden führen zu unglaublichen Ergebnissen, wenn sie zusammenarbeiten. Es wird auch keine Ewigkeit dauern, diese Dinge zustande zu bringen. Selbst die Atome unseres Körpers können vom Feuer göttlichen Lebens berührt, mit dem Denken und mit der Seele in Einklang gebracht und durch das Höhere Selbst beherrscht werden, genau wie ein Meister der Musik sein Instrument beherrscht.

Denn Leben ist Licht und Licht ist Leben und der Christos-Geist ist in entsprechendem Maße überall. … Könnten wir unser Denken von falschen Auffassungen befreien, von der Natur lernen und der inneren Christos-Stimme lauschen – welche Offenbarungen würden uns zuteil werden! Wir wären dann in der Lage zu sagen: Dieses ist unsterblich, jenes ist sterblich, das gehört zur animalischen Natur des Menschen und das zur spirituellen. Die Macht dazu, das ist die Macht, welche wir brauchen, welche uns sozusagen vom Tod auferweckt und uns zu Licht und Erleuchtung geleitet. …

Von der Zeit an, wenn der Jünger ein Gelübde1 ablegt, wird er stets von zwei Kräften begleitet: zwei unsichtbare Gefährten, gebildet aus seiner eigenen Essenz – die eine bösartig, die andere göttlich. Die Absonderung oder Objektivierung der entgegengesetzten Pole seines Selbstbewusstseins stellen seine guten und bösen Engel dar, den Augias und sein Gegenstück, und jeder der beiden versucht, das Wesen des Jüngers zu beherrschen. Einer von beiden muss schließlich die Oberhand erlangen; durch jede Handlung und durch jeden Gedanken im Leben des Jüngers wird entweder der eine oder der andere gestärkt. Es sind seine höheren und niederen Fähigkeiten, die langsam in Machtfülle übergehen, dem entsprechend, wie die Energien (sowohl die guten als auch die schlechten) erweckt werden.

Unsere Aufgabe liegt darin, immer mehr von uns auf das wirkliche Schlachtfeld zu verlegen. Dieses Feld besteht aus den Gefühlen und Gedanken der Menschheit, deshalb wird der Kampf mit rechtem Fühlen und rechtem Denken geführt. Unsere Stärke liegt darin, positiv zu bleiben, in unseren Herzen eine beständige Freude zu bewahren, jeden Augenblick über alle die umherflutenden großen Ideen zu meditieren, bis wir sie erfasst und uns zu eigen gemacht haben; in einer Meditation mit der Vorstellung der Erhabenheit des zukünftigen Lebens der Menschheit; indem wir bei dem Konzept der Bruderschaft verweilen.

Wir können jedoch diesen Punkt spiritueller Unterscheidung niemals erreichen, bevor wir nicht in unserem Herzen etwas Neues gefunden haben: eine umfassendere Sympathie für alles, was lebt, und eine breitere, tiefere, erhabenere Vorstellung vom menschlichen Leben und den herrlichen Gesetzen, welche es regieren.

Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch in gewisser Hinsicht ein Brennpunkt all der guten und bösen Elemente ist, denen wir in der Vergangenheit bewusstes Leben verliehen haben. In jedem Augenblick, in dem wir uns bewusst der guten oder der schlechten Seite zuwenden, nistet sich das eine oder andere von beiden in unser Gemüt ein und füllt es aus. Und es ist einleuchtend, dass unsere Verbindung mit dem einen oder anderen, zu dem wir mehr neigen, zu Sieg oder Niederlage führen. Wie geringfügig diese Verbindung auch sein mag, sie muss – sobald sie unterstützt wird – zur betreffenden Seite unserer Natur und des Universums hinführen und alles mit einbeziehen, was sich dort befindet. Wenn dies wahr ist, so folgt daraus, dass unser bewusstes Wollen, irgendeinen Fehler oder irgendeine Schwäche zu dulden und zu unterstützen, eine unermesslich gewichtige Abwärtsbewegung darstellt.

Wenn jedoch die Bemühungen fortgesetzt werden, wenn sich der Schüler durch Fehlschläge oder Schwächen nicht entmutigen lässt und immer ‘ebensoviel unerschrockene aufwärtsgerichtete Bemühungen’ folgen, bekommt er stets die Hilfe und den Rat des göttlichen ‘Daimon’, des ‘Kämpfers’. Der Sieg, wie entfernt er auch sein mag, ist gewiss. Denn das ist eine unüberwindbare Kraft, ‘ewig und zuverlässig’, eine tatsächliche Gegenwart und Inspiration, wenn wir sie nur erkennen wollen und auf sie vertrauen, vertrauen, vertrauen.

Fußnoten

1. Das Gelübde richtet sich an das eigene Höhere Selbst. [back]