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Band 3: Karma

Warum Karma in Vergessenheit geriet

Die Frage scheint berechtigt, warum eine Lehre, die mit den Tatsachen und dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt, im Westen lange Zeit nicht die Anerkennung fand, die sie im Osten hatte, wo die alte Weisheit nie vergessen wurde. Die Antwort braucht man nicht weit entfernt zu suchen. Im Westen wurde der Mensch gelehrt, an einen persönlichen Gott außerhalb von sich selbst zu glauben, einen Gott, der mit Gebeten beeinflußt werden kann und der tatsächlich eine Widerspiegelung der menschlichen Persönlichkeit im großen ist. Zugleich lehrte man ihn, daß er in Sünde geboren sei, und daß ein Zustand des ewigen Glücks oder ewiger Verdammnis diesem kurzen Leben auf Erden folgen werde, einem Leben, in dem es häufig ungleiche Chancen gibt.

Es ist verständlich, daß diese Ansichten die Entfaltung der unpersönlichen, erhabenen und göttlichen Aspekte der menschlichen Natur hemmen. Daß man ihn lehrte, seine Sünden könnten verziehen werden, und daß er glauben sollte, daß das Blut des Gottessohnes ihn retten werde, ließ sein Gefühl für Gerechtigkeit abstumpfen.

Trotzdem spielen Eigenschaften wie Mitleid, Freundlichkeit, Duldsamkeit und Barmherzigkeit noch immer eine bedeutende Rolle im Westen, was ein unverkennbarer Beweis für den göttlichen Kern im Herzen des Menschen ist.

Aber wenn wir uns außerhalb des kleinen Glaubenskreises begeben und das Universum als Ganzes betrachten, das durch die ausgezeichnete Anpassung seiner Teile ausbalanciert ist, wie empört sich alle gesunde Logik, wie der schwächste Flimmer eines Gerechtigkeitssinnes gegen diese stellvertretende Erlösung!

Wenn ein Verbrecher nur gegen sich selbst sündigte und niemand außer sich selbst Böses tat, wenn er durch ernsthafte Reue die Auslöschung vergangener Ereignisse nicht nur aus dem Gedächtnisse des Menschen, sondern auch aus dem unvergänglichen Verzeichnisse, das keine Gottheit – selbst nicht die Erhabenste der Erhabenen, verschwinden machen kann – verursachen könnte, dann würde dieses Dogma nicht unbegreiflich sein. Aber zu behaupten, daß man seinem Mitmenschen Unrecht tun dürfe, ihn erschlagen, das Gleichgewicht der Gesellschaft und die natürliche Ordnung stören dürfe und dann – ob aus Feigheit, Hoffnung oder Zwang, das ist gleichgültig – die Verzeihung erlangen könne durch den Glauben, daß das Verspritzen des Blutes des Einen das Blut des anderen abwäscht, das man verspritzt hat – das ist mehr als abgeschmackt! Kann das Resultat eines Verbrechens selbst dann, wenn das Verbrechen verziehen würde, aufgehoben werden? Die Wirkungen einer Ursache sind nie auf die Grenzen einer Ursache beschränkt, noch können die Folgen eines Verbrechens auf den Täter und sein Opfer beschränkt werden. Sowohl jede gute als auch jede üble Handlung haben ihre Wirkungen, so sicher wie der Stein, der in ein ruhiges Wasser geschleudert wird.

– H. P. BLAVATSKY, Die entschleierte Isis, Bd. II, S. 545

Es ist erstaunlich, daß Verdrehungen und unkorrekte Erklärungen der wahren Lehren jemals entstehen konnten; daß man Menschen fand, die sie lehrten oder selbst daran glaubten. Es gibt viele Rätsel, die bestimmt einst gelöst werden müssen. Es besteht kein Zweifel, daß der große Lehrer, bekannt als Jesus, einer der Avataras, die in bestimmten zyklischen Perioden erscheinen, niemals solche Dogmen lehrte. Ebenso wie alle anderen großen Lehrer kam er, um die alte Weisheit, die unerschöpfliche Quelle aller religiösen und philosophischen Systeme der Welt, zurückzubringen; denn anfänglich war das Christentum reine alte Weisheit. Dies kann durch ein eingehendes Studium jener Zeiten im Lichte der neopythagoräischen und neoplatonischen Systeme bewiesen werden. Seine Lehren behaupteten sich wahrscheinlich noch fünfzig Jahre über seinen Tod hinaus, aber selbst Jesus konnte nicht verhindern, daß die spirituelle Strömung jener Zeit verebbte. Etwa zur Zeit des Pythagoras begann ein dunkles Zeitalter, das sich während einiger kürzerer Perioden ein wenig aufhellte, aber allmählich düsterer wurde und die Intuition des Menschen verdunkelte. Schließlich wurden im fünften Jahrhundert die Mysterienschulen, welche die anerkannten Kanäle der Wahrheit waren und deren Licht nur noch schwach leuchtete oder schon fast erloschen war, auf Befehl des Kaisers Justitianus geschlossen.

Viele der alten Formen und Zeremonien wurden zwar von den christlichen Kirchen benutzt, aber das Leben und die Bedeutung gingen verloren, so daß neue Interpretationen ihren Platz einnahmen, wodurch die Träger der spirituellen Herrlichkeit zu Werkzeugen mentaler Betäubung wurden. Riten und Formen führten den Menschen von der Wirklichkeit weg und verschleierten seine Seele. Die breite Masse wurde von einer selbstsüchtigen Angst befallen, die von anderen ausgenutzt wurde, so daß allmählich eine dichte Wolke den Geist des Menschen zu umhüllen schien. Dadurch wurde jede Kenntnis der ruhmreichen Vergangenheit ausgelöscht, und der Mensch konnte selbst die erleuchteten Gebiete der Erde aus seiner eigenen Zeit nicht wahrnehmen, wie das Goldene Zeitalter Chinas, das mit Li-Shi-min begann, bis die Europäer sich schließlich im Dunkel des Mittelalters verloren und sich damit isolierten.

Man spricht über das Christentum, als würde es gänzlich vom Judentum abstammen. Das stimmt nur teilweise. Es ist, seine Theologie betreffend, fast ganz dem falsch verstandenen Griechischen Denken entlehnt, vornehmlich den neopythagoräischen und neoplatonischen Systemen. Das wird für jeden deutlich, der die Schriften derer liest, welche die großen Lehrer der christlichen Theologie genannt werden, wie Dionysius, der sogenannte Areopagita, dessen System wesentlich der neoplatonischen Philosophie entlehnt wurde. Hauptsächlich von ihm leiten sich wiederum die heutigen Standardwerke der Römischen Kirche ab. Ich meine die Schriften Thomas Aquins. Diese sind heute der Maßstab, nach dem sich die Theologie von Rom richtet und nach dem sie entscheidet, wenn Streitfragen gelöst werden müssen. Wenn dem auch so ist, und viel von dem, was die früheren Kirchenväter übernahmen, noch stets als Faktor und Wort in der christlichen Theologie aufrechterhalten wird, so hat diese Religion dennoch den Geist dieses frühen heidnischen Denkens völlig vergessen; und heute ist diese Religion fast ganz auf ein System der Formen und Zeremonien beschränkt.

– G. DE PURUCKER, Fundamentals of the Esoteric Philosophy, S. 487 (Ausgabe 1979)

… Praktisch beruhten alle staatlichen Institutionen des Altertums, unter anderem die Strafangelegenheiten, auf dem, was in den Mysterienschulen vor sich ging. So wurde zum Beispiel die Kreuzigung der Römer direkt aus einer Einweihungszeremonie übernommen, dem „Mystischen Tod“; übernommen, gestohlen und später, in degenerierten Zeiten, vom Staat als Instrument des legalen Mordes mißbraucht. Ein weiteres Beispiel, das aus der Zeremonie des „Mystischen Todes“ entnommen wurde, war der „Kelch“, in Indien der Soma-Trank. In Griechenland wird Sokrates damit bestraft, aus dem Schierlingsbecher zu trinken; und wir werden an Jesus erinnert, der darum bat, daß der „Kelch“ an ihm vorüberziehen möge. Es könnten noch zahlreiche Beispiele verschiedenster Art genannt werden. …

Ein weiteres erwähnenswertes Beispiel von ganz anderer Art ist, daß die weltlichen Herrscher eines Staates bei der formellen „Krönung“ eine Krone oder ein Diadem trugen – eine Zeremonie, die von den Mysterien übernommen wurde. Einige der frühesten Kronen, welche sie trugen, hatten Stacheln, die an die „Dornenkrone“ von Jesus erinnern.

– ebenda, S. 255

Es waren einzelne Weise, getrieben durch damalige politische Geschehnisse, belauert und verfolgt von den fanatischen Bischöfen des frühen Christentums – die damals weder ein festgelegtes Ritual noch Dogmen oder Kirchen hatten – es waren diese Heiden, welche die Kirchen gründeten. Indem sie die Wahrheiten der Weisheits-Religion äußerst genial mit den exoterischen Fiktionen, welche die breite Masse so sehr liebte, mischten, waren sie es, welche die ersten Grundsteine der ritualistischen Kirchen legten …

– H. P. Blavatsky: Lucifer, Vol. IV, März 1889

Andere auffällige Beispiele sind die Feste zur Weihnachts- und Osterzeit. Diese sind vermaterialisierte (verweltlichte) Widerspiegelungen der heiligen Einweihungszeremonien, wie sie damals existierten und in Symbolen beschrieben wurden, die aber die Kirche als materielle Vorgänge auslegte. Das alles unterstützt unsere Behauptung, daß das Christentum am Anfang die reine alte Weisheit vertrat. Glücklicherweise liegt das dunkle Mittelalter hinter uns. Es ist vorbei, und ein langer Zyklus voller Möglichkeiten liegt vor uns, aber die alten Dogmen hinterließen einen Makel, der bis heute noch nicht verschwunden ist. Zu den Lehren, die verdrängt wurden, die jedoch zum Verständnis des Lebens wesentlich sind, gehört die Reinkarnation. In den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters glaubte man daran, aber als die Kirche eine politische Macht wurde, setzte sie sich zur Wehr. Schließlich wurde die Reinkarnationslehre auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel, 553 n. Chr., verbannt, wonach das Wissen über sie und von ihr allmählich in der dunklen Nacht erlosch, die dem Bann folgte.

Ohne die Tatsache der Reinkarnation wäre das Leben eine Absurdität, eine groteske, sinnlose Komödie. Die Ereignisse, Emotionen, Bestrebungen, das Glück oder Unglück in einer einzelnen Lebensperiode wären ebenso unlogisch, zusammenhanglos und durcheinander wie die eines bestimmten Tages, dessen Gestern und Morgen fehlen würden. Versuchen Sie einmal sich einen solchen verrückten, aus seinem Zusammenhang gerissenen Tag vorzustellen. Oberflächlich betrachtet könnte man sagen, daß wir von einem Tag zum nächsten denselben Körper, denselben Verstand und die gleiche Erinnerung besitzen. Das trifft nicht für die aufeinanderfolgenden Leben zu. Die vielumfassende archaische Philosophie, deren Aspekte alle ineinandergreifen und die alle Teile auf das Ganze bezieht, kennt jedoch keine unerklärbare Lücke, sondern zeigt die perfekte Analogie zwischen dem Tages- und dem Lebenszyklus. Alle Wesenheiten, welche die zusammengesetzte Natur des Menschen formen, trennen sich, wie bereits erwähnt, am Ende eines Lebens und kehren in ihre eigenen Bereiche zurück. Der Körper fängt an, sich zu zersetzen, und seine Lebensatome sammeln Erfahrungen, während sie durch die Naturreiche ziehen. Das menschliche oder reinkarnierende Ego, das in einen Bewußtseinszustand übergeht, der Devachan genannt wird, läßt die Eigenschaften oder Skandhas zurück, welche die Persönlichkeit formen. Diese lange Nacht ist für die menschliche Seele eine Zeit des absoluten Glücks und der völligen Ruhe. Alle Erfahrungen aus der Vergangenheit werden assimiliert, alle höheren Bestrebungen werden verwirklicht und im Charakter verwoben. Die Seele erwacht erfrischt und gestärkt aus dieser Nacht, um ihre noch nicht erledigten Pflichten wieder aufzunehmen. Eine auffallende Tatsache in der Analogie zwischen dem Schlaf und dem Tod ist, daß der vollständige Mensch in all seinen Bestandteilen als derselbe zurückkehrt. Die höheren Aspekte werden wieder zusammenwirken, die Skandhas werden wieder aktiv, und dieselben Lebensatome, welche den alten Körper bildeten, werden wieder magnetisch zu ihrer früheren Stelle zurückgezogen. Die Kulisse ist neu, aber der Schauspieler ist derselbe. Er hat dieselben Energien und Neigungen, dieselbe Fähigkeit oder Unfähigkeit, um die Probleme, die er selbst geschaffen hat, zu lösen und denen er deshalb die Stirn bieten muß. Ohne die Kenntnis dieser Tatsachen ist es für einen Menschen unmöglich zu begreifen, daß er ernten muß, was er einst säte. Der Faden der Kontinuität, der für die höhere Natur des Menschen ungebrochen und deutlich sichtbar ist, ist in jeder folgenden Geburt für das neue Bewußtsein nicht wahrnehmbar. Weil die Intuition durch falsche Dogmen verdunkelt wurde, ist das Leben zu einem Rätsel geworden. Unsere Zivilisation zeigt tatsächlich die traurigen Folgen des Verlustes eines wahren, tiefwurzelnden Sinns für Gerechtigkeit und Verantwortung.

Das Gesetz von KARMA ist unentwirrbar mit dem der Reinkarnation verwoben. Nur diese Lehre, sagen wir, kann uns das geheimnisvolle Problem von Gut und Böse erklären und den Menschen mit der schrecklichen und scheinbaren Ungerechtigkeit des Lebens aussöhnen. Nur eine solche Gewißheit kann unseren empörten Gerechtigkeitssinn beruhigen. Denn, wenn jemand, der mit der edlen Lehre nicht vertraut ist, um sich blickt und die Ungleichheiten von Geburt und Besitz, von Intellekt und Fähigkeiten beobachtet; wenn jemand sieht, daß Narren und Bösewichten Ehre erwiesen wird, auf die das Glück seine Gaben durch den bloßen Vorrang der Geburt angehäuft hat, und seinen nächsten Nachbarn mit all seinem Verstand und edlen Tugenden – der in jeder Beziehung viel mehr verdient – aus Not oder aus Mangel an Sympathie zugrunde gehen sieht; wenn jemand das alles sieht und sich abwenden muß, ohne Möglichkeit, das unverdiente Leiden zu lindern, wenn seine Ohren klingen und sein Herz von den Schmerzensschreien um ihn her blutet – dann bewahrt ihn allein jenes gesegnete Wissen von Karma davor, Leben und Menschen, sowie ihren vermuteten Schöpfer zu verfluchen …

Wahrhaftig, ein fester ‘Glaube’ ist erforderlich, um zu glauben, daß es ‘Vermessenheit’ ist, die Gerechtigkeit von jemand in Frage zu stellen, der den hilflosen schwachen Menschen nur dazu erschafft, um ihn zu ‘verwirren’, und einen ‘Glauben’ zu erproben, mit dem ihn zu begaben jene ‘Macht’ obendrein vergessen, wenn nicht unterlassen haben mag, wie es manchmal vorkommt. Man vergleiche dieses blinde Glaubensbekenntnis mit dem philosophischen Glauben, der auf jeglichem vernünftigen Beweise und auf Lebenserfahrung beruht, an Karma-Nemesis oder das Gesetz der Wiedervergeltung …

Karma schafft nichts, noch plant es. Der Mensch ist es, der plant und Ursachen schafft, und das karmische Gesetz gleicht die Wirkungen aus, dieser Ausgleich ist keine Handlung, sondern universale Harmonie, die immer danach strebt, ihre ursprüngliche Lage wieder einzunehmen, wie ein Bogen, der, zu gewaltsam niedergebogen, mit entsprechender Kraft zurückspringt. Wenn er zufällig den Arm, der versucht hatte, ihn aus seiner natürlichen Lage zu biegen, verrenkt, sollen wir da sagen, daß es der Bogen war, der unseren Arm gebrochen hat, oder daß unsere eigene Torheit uns hat Schaden nehmen lassen?

– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd. II, S. 317-19